R. Rühle: Entstehung von politischer Öffentlichkeit in der DDR

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Titel
Entstehung von politischer Öffentlichkeit in der DDR in den 1980er Jahren am Beispiel von Leipzig.


Autor(en)
Rühle, Ray
Reihe
Kommunikationsgeschichte 17
Erschienen
Münster 2003: LIT Verlag
Anzahl Seiten
170 S.
Preis
€ 15,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Fehr, Instytut Filologii Germanskiej, Uniwersytet Rzeszowski

In der vorliegenden Studie untersucht Ray Rühle aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht Entstehungsbedingungen, politische Kontexte und Akteure politischer Öffentlichkeit in der DDR. Wie aus dem zweiten Hauptteil des Buchs zu entnehmen ist, befasst sich Rühle am Beispiel Leipzigs genauer mit Formen von Teil-Öffentlichkeiten, die sich im lokalen Raum Ende der 1980er-Jahre herausgebildet haben. In Leipzig kristallisierten sich während dieser Zeit informelle Gruppen und unabhängige Gruppenverbände heraus, die politische Bedeutung erlangten. Die „Arbeitsgruppe Umweltschutz“, die „Initiativgruppe Leben“ und andere freiwillige Vereinigungen (S. 82-134) repräsentierten hier Bestrebungen zur Bildung von Gegenöffentlichkeit, die hinsichtlich der Handlungsweise und der Ziele eine neue Qualität aufwiesen.

Rühle wertet für seine Fallstudie schriftliche Dokumente als empirisches Datenmaterial aus, die von Selbstzeugnissen, Positionspapieren, Flugblättern, Zeitschriften und Bibliotheken der informellen Gruppen bis zu Privatarchivalien, Akten aus dem Archiv der Bürgerbewegung und kirchlichen Gemeinde-Archiven (z. B. des Stadtjugendpfarramts), des Stadtarchivs Leipzig, des Sächsischen Staatsarchivs und Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit reichen (S. 27-31, 150ff.). Daneben hat er theoretische und empirische Untersuchungen über Öffentlichkeit und soziale Bewegungen herangezogen und Gespräche mit vier ausgewählten Akteuren geführt. Über die Interviews und ihre Auswertung werden keine Aussagen getroffen. Im Anhang wird u.a. erwähnt, dass ein Interview als „Telefongespräch“ (S. 152) geführt worden ist. Es muss allerdings bezweifelt werden, ob die schmale Basis der Interviews als eigenständige Datenquelle gelten kann. Für die Inhaltsanalyse der Dokumente wählte Rühle eine hermeneutisch orientierte Vorgehensweise (S. 27).

Worin bestanden nun die Strukturen der „zweiten Öffentlichkeit“ in der DDR? Unter welchen Bedingungen konnten sie auf die Öffentlichkeit des Regimes einwirken? Welche Rolle spielten „zweite Öffentlichkeit“ und Gegenöffentlichkeiten 1989? Diese zentralen Fragen werden von Rühle in sechs Kapiteln seines Buchs auf dem Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Öffentlichkeitsdebatte abgehandelt. In den ersten vier Kapiteln unternimmt er den Versuch, Analysegesichtspunkte mit theoretischen Grundlagendebatten zu verknüpfen, die von Habermas’ Studien über Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, systemtheoretisch-funktionalistischen Konzepten bis zu ausgewählten theoretisch-empirisch orientierten Arbeiten über „real-sozialistische“ Gesellschaften reichen.

Der Erklärungsanspruch Rühles zielt in den ersten Kapiteln über eine Bilanz der Forschungsliteratur hinaus. Die ausführliche Abhandlung von Positionen, Themen und Kontroversen aus der Öffentlichkeitsforschung bietet den Einstieg für eigenständige Überlegungen zu „unabhängigen“ Öffentlichkeiten im „Real-Sozialismus“ (der DDR). Rühles begriffliche Unterscheidungen scheinen plausibel: Von „simulierter politischer Öffentlichkeit“ (S. 44) werden „zweite Öffentlichkeit“ und „Gegenöffentlichkeiten“ unterschieden. Der Begriff „simulierter Öffentlichkeit“ steht für die „offizielle“ Öffentlichkeit in den „real-sozialistischen“ Ländern, „zweite Öffentlichkeit“ (S. 59ff.) für unabhängige Ansätze innerhalb „real-sozialistischer“ Länder, die sich im Verlauf von öffentlichen Protesten und Mobilisierungskampagnen in „Gegenöffentlichkeiten“ transformieren (S. 68ff.).

Unter „zweite Öffentlichkeit“ wird „die organisierte, von der simulierten Öffentlichkeit abgekoppelte Kommunikation“ (S. 59) gefasst. Dazu zählen nach Rühle auch „die nichtkonforme literarische Szene“, Friedens- und Ökologiebewegung, feministische und schwule Gruppierungen. „Gegenöffentlichkeit“ wird genauer bestimmt: „Um eine Gegenöffentlichkeit herstellen zu können, gab es für die Gruppen drei verschiedene Wege, einmal über westdeutsche Massenmedien, des weiteren durch die publizistische Gegenöffentlichkeit und durch öffentlichen Protest.“ (S. 69) Probleme kirchlicher Teil-Öffentlichkeiten werden in einem gesonderten Teil erörtert.

In einzelnen Passagen des Buchs relativiert Rühle jedoch die getroffenen Unterscheidungsdimensionen durch theoretische Exkurse wieder. Zum Beispiel verweist er auf systemtheoretische Überlegungen zu „Opposition“, die für das Öffentlichkeitsproblem in Transformationsgesellschaften keine Anknüpfungspunkte beinhalten. Unklar ist auch, warum Rühle sich mit Annahmen aus der Umfrageforschung beschäftigt, wie der Hypothese einer „Schweigespirale“ von Elisabeth Noelle-Neumann, die vor 1989 im westlichen Bezugsrahmen entfaltet wurde, und die keine Erkenntnisse für das Öffentlichkeitsproblem in der DDR liefert.

Eng verbunden mit diesem fragwürdigen Theoriebezug ist eine andere Schwierigkeit, die in einzelnen Kapiteln der Arbeit zutage tritt: die Verschiebung von Fragen aus dem Untersuchungsfeld in theoretische Debatten. Diese Problematik wird immer dann ersichtlich, wenn Rühle theoretische Begriffsbestimmungen an Stellen platziert, wo es eigentlich um die genauere Darstellung von Akteuren und Aktionen gehen sollte. So verweist er an einer Stelle auf Protestereignisse, die wegen ihres Symbolcharakters gegenüber dem politischen System des „Real-Sozialismus“ als symbolische und politische Herausforderung gelten konnten, wie das unabhängige Straßenmusikfestival in Leipzig 1989 (S. 72). Rühle überspringt hierbei die Ebene der Darstellung und Interpretation, so dass ihr paradigmatischer Charakter für eine sich im großstädtischen Raum der DDR herausbildende Gegenöffentlichkeit gar nicht deutlich wird. Stattdessen werden grundbegriffliche Überlegungen aus soziologischen Theorien referiert, die einen hohen Abstraktionsgrad aufweisen, allerdings keine Rückschlüsse auf den Gegenstand seiner Fallstudie erlauben. Am Ende bleibt es bei der folgenden Deutung: „Unter Protest soll eine Kommunikation verstanden werden, die an andere adressiert und deren Verantwortung anmahnt“ (Luhmann) (S. 72). Und dies, obwohl Rühle bereits eingangs hervorhebt, dass „eine empirische Anwendung“ (S. 37) von Luhmanns Öffentlichkeitsverständnis auf die DDR nicht sinnvoll ist, da „diese Arbeit von einer zentralen Rolle der sozialen Akteure und deren Lebenswelt bei der Bildung einer zweiten Öffentlichkeit“ ausgeht (S. 38).

Schließlich wiederholen sich die angeführten Probleme mit der Orientierung an Habermas’ Bezugsrahmen: Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit, Lebenswelt, politische Themenbildung, deliberatives Politikmodell, spontane Vereinigungen, Bewegungen und zivilgesellschaftliche Akteure (S. 60, 146) werden als Schlüsselbegriffe angeführt, ohne dass immer erkennbar ist, wie Rühle diese Konzepte in seiner Fallstudie über Gegenöffentlichkeit am Beispiel von Leipzig konkretisiert. So entseht der Eindruck einer ungleichen Gewichtung von Theorie und Empirie. Beispielsweise wird der „Runde Tisch der Stadt Leipzig“ auf nur knapp einer Seite dargestellt, ohne dass ersichtlich wird, wie die Rolle dieser informellen Institution zu bewerten ist: „Die Arbeit des RTSL zeigt, wie sich das politische System jetzt den Interessen der Leipziger Bevölkerung öffnete.“ (S. 141) In der Zusammenfassung seiner Arbeit formuliert Rühle im Anschluss an Habermas, dass der Runde Tisch ein „Netzwerk von Diskursen und Verhandlungen“ (S. 146) darstellte und „sozialintegrative Funktionen besessen“(S. 146) habe. Wie die neuen politischen Akteure am Runden Tisch gehandelt und verhandelt haben - das wäre eine Untersuchungsaufgabe im Rahmen einer Fallstudie über politische Öffentlichkeit im lokalen Raum. Hier zeigt sich auch, dass in Rühles Arbeit der Bezug auf inzwischen zugängliche Dokumente zur Tätigkeit lokaler Runder Tische fehlt.

Auf Beiträge aus den ostmitteleuropäischen Ländern, von „neuen politischen Akteuren“, „Dissidenten“ und SozialwissenschaftlernInnen, in denen seit Anfang der 1970er-Jahre Probleme unabhängiger Öffentlichkeiten Gegenstand von inhaltlichen Kontroversen waren, geht Rühle nicht ein (mit einer Ausnahme: V. Havels Schrift „Versuch in der Wahrheit zu leben“). Diese Einseitigkeit der Rezeption überrascht. Gerade in Studien von E. Hankiss, A. Michnik, J. Kuron, T. Mazowiecki, J. Kis, V. Benda u.a. werden zentrale inhaltliche und politische Perspektiven für eine „zweite Öffentlichkeit“, Gegenöffentlichkeiten und Zivilgesellschaft abgehandelt. Der Verzicht auf vergleichende Gesichtspunkte führt zu verkürzten Sichtweisen auf Entwicklungsprobleme von unabhängigen Öffentlichkeiten und an einigen Stellen auch zu unzutreffenden Interpretationen. So behauptet Rühle mit Blick auf die Rolle der Charta 77, dass diese Initiative „erst 1989 mobilisierend wirken konnte, als in Osteuropa schon eine allgemeine Aufbruchstimmung herrschte“ (S. 76). Im Gegenteil übernahm gerade die Charta 77 für Mobilisierungsprozesse in der „zweiten Öffentlichkeit“ - seit ihrer Gründung - Aufgaben als intermediäre Vereinigung: für die politische Themenbildung im „Dissens“, für öffentliche Protestversuche und für die Vernetzung von informellen Gruppen.

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