C. Gürtler: Vereine und nationale Bewegung

Titel
Vereine und nationale Bewegung in Breslau 1830-1871. Ein Beitrag Breslaus zur Bewegung für Freiheit und Demokratie in Deutschland


Autor(en)
Gürtler, Christian
Reihe
Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 969
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
74,50 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Reinke, Berlin

Die Formierung von Nationalstaaten im Mitteleuropa des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hat in den letzten Jahren ein breites Interesse in der historischen Forschung gefunden. Nicht zuletzt angestoßen durch die politischen Umwälzungen der Jahre ab 1989. suchten Historikerinnen und Historiker in verschiedenen Ländern, sich der Entstehungsbedingungen ihrer jeweiligen Nation zu vergewissern, sie neu zu deuten und zu interpretieren. Dies gilt in besonderem Maße für Deutschland, das sich nach der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten mit Fragen nach der Entstehung und Herausbildung eines Nationalstaates konfrontiert sah, implizierten diese Fragen doch auch die nach einem den veränderten politischen Umständen entsprechenden Selbstverständnis.

Für die Entstehung von Nationalstaaten in der Regel konstitutiv sind Nationalbewegungen, deren Aktivitäten, Ideologeme und Organisationsformen in hohem Maße die Gestalt der sich formierenden Nationalstaaten prägten. Von daher gilt in der Forschung zur Nationswerdung diesem Faktor eine besondere Aufmerksamkeit. Hier setzt auch die vorliegende, an der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation eingereichte Publikation von Christian Gürtler ein, die sich mit der Entstehung und Entwicklung politischer Vereine und der deutschen Nationalbewegung in Breslau zwischen Vormärz und Reichsgründung beschäftigt. Hierbei geht er - Dieter Langewiesche folgend - von der Grundüberlegung aus, dass die Nationsbildung primär ein städtisches Phänomen war. Wichtigster sozialer Träger dieses Prozesses war das in den Städten ansässige Bürgertum, das sich mittels Vereinen ein Medium der Selbstverständigung und zugleich der Propagierung seiner Zielvorstellungen schuf. Der Verein wurde nicht nur zur zentralen Organisationsform der deutschen Nationalbewegung, sondern er war auch ein konstitutives Strukturmerkmal der bürgerlichen Gesellschaft. Nationalbewegung und Vereinswesen waren (zumindest in Deutschland) auf das engste miteinander verknüpft und stellten wirkungsmächtige Faktoren im Prozess des Übergangs von der ständischen zu bürgerlichen Gesellschaft dar. Diese, aus der Forschung bekannten Zusammenhänge möchte Gürtler am Beispiel der Entwicklung in der schlesischen Metropole Breslau überprüfen, da "systematische Fallstudien zur Entwicklung des Nationalismus auf lokaler Ebene noch weitgehend ausstehen" (S. 15).

Nicht nur die Wahl des Untersuchungsraumes - die bisher unter dieser Fragestellung nur wenig analysierte Stadt im früheren Osten Deutschlands - machen neugierig; auch die in der Einleitung angekündigten Fragestellungen hinsichtlich des Zusammenhangs von Nationalbewegung und Sozialstruktur, Konfession, Geschlecht oder den Folgen einer - gerade in Breslau zu vermutenden - Artikulation konkurrierender nationalpolitischer Zielsetzungen (Deutschland - Österreich - Polen) lassen eine spannende Lektüre erwarten. Indes, das Ergebnis ist, um es vorweg zu nehmen, enttäuschend.

Beschrieben werden Programmatik und Aktivitäten von rund drei Dutzend Vereinen, deren Spektrum von Gesangs- über Turnvereine bis hin zu berufsständischen Interessensorganisationen und politischen Vereinen reicht. Steht hierbei für die Frühphase, d.h. den Vormärz, deutlich eine Darstellung der (lokalen) politischen Ereignisgeschichte im Vordergrund, so wechselt im weiteren Verlauf der Arbeit die Perspektive hin zu einer - häufig schematisch anmutenden - Beschreibung der Programmatik der Vereine (Stellungnahmen zur Frage der Nation, der sozialen Frage, der Frauenfrage und dem Verhältnis zum benachbarten Polen. Hierbei unklar bleibt jedoch, nach welchen Kriterien Vereine zum Gegenstand der Beschreibung gemacht werden bzw. warum andere Vereine nicht berücksichtigt werden. Sicherlich hilfreich wäre es - nicht nur für den mit den lokalen Verhältnissen nicht vertrauten Leser - gewesen, der Untersuchung einleitend einen kurzen Überblick über das Breslauer soziale und politische Vereinswesen voran zu stellen, um durch eine solche Kontextualisierung eine nachvollziehbare Einordnung der behandelten Vereine in die kommunale, regionale und überregionale Öffentlichkeit herzustellen. Vorarbeiten hierzu, die in begrenztem Maße existieren, werden in der Arbeit nicht erwähnt. Unverständlich bleibt so etwa die Nichtbehandlung einer der ältesten, sehr wohl auch politisch agierenden Vereinigungen, der 1808 gegründeten "Kaufmännischen Zwingerressource", die Gürtler mit der Begründung, hier hätten sich vor allem "hochstehende Personen aus der Provinz, wie Adligen und Offizieren" (S. 32) versammelt, aus seiner Liste der in den Blick genommenen Vereinigungen streicht. Stattdessen widmet er - völlig zu Recht - der 1845 gegründeten "Städtischen Ressource" weiten Raum, gehörte sie doch zu den politisch einflussreichsten Vereinigungen in der Stadt. Diese linksliberale Gründung erscheint - im Vergleich zu anderen deutschen Städten - als "verspätet". An diesen Ungleichzeitigkeiten, nämlich der Dominanz von Adel und Militär in der "Zwingerressource" sowie der späten Gründung einer liberalen bürgerlichen Vereinigung verweisen auf ein strukturelles Problem des Breslauer Bürgertums, das in der Arbeit nicht thematisiert wird: nämlich dessen lang anhaltende Schwäche gegenüber den Repräsentanten der ständischen Ordnung. Dass das schlesische Bürgertum im Vormärz eine wenig homogene Sozialformation war, deren Schwäche vor allem darin lag, sich nicht gegen die Macht des schlesischen Adels kulturell und politisch behaupten zu können (Arno Herzig), ist aus der Forschung bekannt. Eine Studie, die lokale Bedingungen der Konstitution von Bürgerlichkeit und nationaler Bewegung in den Blick nehmen will, sollte der Spezifik der jeweiligen Konfigurationen und Konstellationen entschieden mehr Aufmerksamkeit widmen, als Gürtler dies tut.

In der Studie wird chronologisch, unter weitgehendem Verzicht auf systematische Darlegungen argumentiert. Vormärz - 48er-Revolution - Reaktionszeit und die Periode der Reichgründung – das sind im Hinblick auf die Fragestellung der Untersuchung durchaus plausible Akzentsetzungen. Sie verlieren jedoch in Gürtlers Arbeit an Konturen, weil er für jede Periode alle ihm "wichtig" erscheinenden Vereine darstellen will. So wird etwa die "Alte Städtische Ressource" in drei Kapiteln seiner Arbeit behandelt, wodurch das entscheidende Argument - die "Ressource" als zentrales und dauerhaft wirksames Medium des in seiner Mehrheit linksliberal geprägten Breslauer Bürgertums - nur bruchstückhaft entwickelt wird und in der Fülle der Details zur Geschichte anderer Vereinigungen verloren zu gehen droht.

Den Stellungnahmen und Praktiken der teilweise recht kurzlebigen Vereine nachzugehen, ohne die diesen Gründungen zugrunde liegenden und sehr viel dauerhafteren informellen Netzwerken nachzugehen, offenbart eine weitere Schwäche der Studie Gürtlers. Die liberale Bewegung in Deutschland war bis zum Ersten Weltkrieg hin primär eine Honoratiorenpartei: Nicht feste Organisationen, sondern Personen in informellen Beziehungen oder Vereinen waren die Stütze der Partei (Hettling). Eine Rekonstruktion oder zumindest annähernde Beschreibung derartiger Netzwerke in einem überschaubaren lokalen Raum gäbe sehr viel mehr Aufschluss über das Zusammenwirken von Bürgerlichkeit, Liberalismus und Nationalbewegung als es eine - häufig an Details überreiche - Beschreibung der Programmatik und Praxis auch solcher Vereine leistet, deren Bedeutung für die zugrunde liegende Fragestellung von eher marginaler Bedeutung ist. Wenn etwa die Rolle der Breslauer katholischen Vereine für die Formierung der nationalen Bewegung in Breslau als eher geringfügig beschrieben wird, so wäre es notwendig, auch auf die Gründe hierfür einzugehen. Der Breslauer und schlesische Katholizismus stand - stärker etwa als der rheinische oder westfälische - unter einem extremen Loyalitätsdruck gegenüber der preußischen Administration. Seine politische Zurückhaltung in Fragen der Bildung eines deutschen Nationalstaats war daher in hohem Maße von Vorsicht und demonstrativer Neutralität geprägt, um den Eindruck einer - häufig unterstellten - Orientierung zum katholischen Österreich zu vermeiden. Die in den offiziellen Verlautbarungen betonte Loyalität gegenüber Preußen, wie Gürtler sie beschreibt, scheint jedoch nur zum Teil die Haltung des schlesischen Katholizismus hinsichtlich seiner nationalen und kulturellen Orientierung zu erfassen. So lassen sich etwa in der Ikonografie katholischer Kirchenbauten im Schlesien der 60er- und 70er-Jahre deutliche Hinweise auf eine nach wie vor proösterreichischen Haltung finden, wie in neueren Studien gezeigt wurde.

Die beiden zuletzt angeführten Einwände verweisen schließlich auf ein Problem, das ein grundlegendes der vorliegenden Studie zu sein scheint: nämlich die aufgefundenen Quellen. Bei der Mehrzahl der von ihm behandelten Vereine stützt Gürtler sich auf Zeitungen und Zeitschriften, auf Quellen der staatlichen Verwaltung und sowie vereinzelt auf Publikationen der verschiedenen Vereinigungen, letzteres jedoch offensichtlich in geringem Maße. So bleibt etwa die in der Einführung angekündigte Analyse der sozialen und konfessionellen Struktur der Vereinsmitglieder aufzählend und eher zufällig - ein Ergebnis, was nicht zuletzt angesichts der sehr guten Überlieferung zur Breslauer Stadtgeschichte, wie sie in verschiedenen Archiven und Bibliotheken im heutigen Wroclaw vorzufinden ist, erstaunt. Das hier mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei intensiverer Recherche mehr und vermutlich aussagekräftigere Quellen zu finden sind, hat erst kürzlich Manfred Hettling mit seiner Studie über politische Bürgerlichkeit in Deutschland und der Schweiz eindrucksvoll demonstriert. Seinen Anspruch, eine systematische Fallstudie zur Entwicklung des Nationalismus auf lokaler Ebene vorzulegen, kann Gürtler weder inhaltlich noch methodisch überzeugend einlösen. Zurück bleibt nach der Lektüre seiner Arbeit der Eindruck, dass eine Untersuchung, die den Zusammenhängen von Bürgerlichkeit, Vereinen und nationaler Bewegung in Breslau im 19. Jahrhundert nachgeht, erst noch geschrieben werden muss.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch