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Titel
Erinnerungen 1930-1982.


Autor(en)
Kohl, Helmut
Erschienen
München 2004: Droemer Knaur
Anzahl Seiten
684 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Schwarz, Berlin

Mit diesem Band hat der ehemalige langjährige Bundeskanzler den ersten Teil seiner „Erinnerungen“ vorgelegt, die den Zeitraum von seiner Kindheit in Ludwigshafen während der 1930er-Jahre bis zum geglückten Misstrauensvotum gegen Kanzler Helmut Schmidt 1982 im Bundestag umspannen. Die Memoiren bieten insgesamt – wenn man von Details absieht – wenig Neues. Die Ursache dafür ist in dem Umstand zu sehen, dass sich Leben und Wirken Helmut Kohls fast ständig in der Öffentlichkeit vollzogen; teilweise wurde seine Tätigkeit bewusst zelebriert, so dass die jetzigen Rückblicke kaum einen nennenswerten Neuigkeitswert aufweisen. Auch ist sein Schreibfluss – wie sein bekannter Redestil – selten prägnant und bemerkenswert, sondern vielfach verschwommen und allgemein gehalten, daher streckenweise langatmig und ermüdend.

Seine Jugend und politischen Aufstiegsjahre in Rheinland-Pfalz, etwa von 1950 – 1976, schildert Kohl durchaus anschaulich und nachvollziehbar. Gegen das Establishment der damaligen Zeit revoltierte er energisch und erfolgreich: „Indem ich das Honoratiorentum der Mutterpartei freimütig kritisierte, profilierte ich mich rasch. Im November 1953 eröffnete sich mir als Student mit dreiundzwanzig Jahren überraschend die Chance, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der CDU Pfalz zu werden.“ (S. 89)

Bald danach knüpfte er innerhalb der CDU ein dichtes Netz von persönlich engen Bekanntschaften und politischen Abhängigkeiten, die seinem steilen Aufstieg in der Partei und in Regierungsfunktionen, zunächst auf Landesebene, dienen sollten. Der gesamte Band Kohls ist nicht so sehr erfüllt von Visionen und Sachüberlegungen, welche Politik für Staat und Volk notwendig und wünschenswert sein könnte, sondern vielmehr von unentwegten Erwägungen über personalpolitische Entscheidungen, die letztlich seiner eigenen Karriere förderlich sein sollten. Hierzu meint der Autor selbst: „Besonders strategischen Fragen und Personalentscheidungen habe ich von Anfang an die gebührende Bedeutung beigemessen. Schon sehr früh hatte ich ein Wort dabei mitzureden, wer in der CDU meiner pfälzischen Heimat etwas werden sollte und welche Posten auch auf Landes- und Bundesebene zu besetzen waren. In einer klugen und weitsichtigen Personalpolitik sah ich den Schlüssel zum Erfolg meiner Partei.“ (S. 111)

Dieses Vorgehen sei von anderer Seite immer wieder als kritikwürdig angeprangert und als „System Kohl“ diffamiert worden. Es sei aber „immer außerordentlich erfolgreich“ gewesen: „Zu diesem einzigartigen Erfolgsmodell bekenne ich mich gerne.“ (S. 112) Bei den Methoden seiner Machterringung und –festigung merkt er an, dass er sich in allen jeweils zur Debatte stehenden Fragen bis ins Detail sachkundig gemacht habe und deshalb die Menschen überzeugen konnte. Jedoch: „Sicherlich gehörten auch Schlitzohrigkeit, Cleverness und Härte dazu.“ (S. 171)

Einen breiten Raum nehmen in Kohls Niederschrift seine Querelen und Feindschaften mit innerparteilichen Kritikern und Konkurrenten ein. In der Tat waren viele führende CDU/CSU-Politiker, die bereits seit langem einflussreiche Positionen in Bonn und an anderen Orten bekleidet hatten, erstaunt und verblüfft, mit welcher Zielstrebigkeit, Robustheit und Durchsetzungskraft der Newcomer „aus der Provinz“ die Karriereleiter in Rheinland-Pfalz erklomm und in der Bundeshauptstadt nach der Kanzlerwürde griff. Den innerparteilichen Konflikten widmet Kohl in mehreren Kapiteln große Aufmerksamkeit, offensichtlich, weil ihn diese Materie mehr als andere Fragen beschäftigt, möglicherweise auch, um den Lesern seine besondere Standhaftigkeit und Durchsetzungsfähigkeit vor Augen zu führen.

Offen und unverblümt skizziert er seine Differenzen mit Rainer Barzel, der von 1971 – 1973 Vorsitzender der CDU war: „Bei allem Respekt für seine intellektuelle Leistung hatten wir von Anfang an Probleme miteinander.“ Kohl meint, diese hätten ihre Wurzeln darin gehabt, dass zwei Kräfte aufeinandergestoßen seien: der Neuankömmling aus der Landespolitik und der Macher in Bonn, voller Ehrgeiz und starkem Selbstwertgefühl. „Die Chemie zwischen Rainer Barzel und mir stimmte nicht, wir waren sehr verschieden und konnten einfach nicht miteinander.“ (S. 292f.)

Weit mehr bedrückten Kohl die schweren und mit heftigen Worten ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten mit Franz Josef Strauß, dem Vorsitzenden der CSU und bayerischen Ministerpräsidenten, vor allem zwischen 1975 und 1980, aber auch darüber hinaus. Noch heute berichtet Kohl voller Entrüstung: „Ob Kernmannschaft oder Führungsmannschaft: Er wollte nicht nur ständig mitreden, sondern am liebsten selbst bestimmen, welche Persönlichkeiten aus dem Unionslager im Wahlkampf herausgestellt würden und wen er nicht an vorderster Front sehen wollte. Meinen unbedingten Wunsch, Kurt Biedenkopf in die Kernmannschaft aufzunehmen, lehnte er entschieden ab.“ (S. 389)

Einer der wichtigsten Streitpunkte zwischen beiden Führungspersönlichkeiten lag in der völlig unterschiedlichen Bewertung der Rolle der FDP in der Bundespolitik: Kohl wollte diese kleine, aber unentbehrliche bürgerliche Partei langfristig an die CDU binden und mit ihr koalieren, Strauß wollte sie scharf bekämpfen und aus dem politischen Kräftemessen ausschalten. Eine Zuspitzung des Zerwürfnisses zwischen beiden Spitzenpolitikern resultierte aus dem Beschluss der Schwesterpartei CSU vom 19. November 1976 in Wildbad Kreuth, eine Trennung der bis dahin gemeinsam mit der CDU gebildeten Fraktionsgemeinschaft im Bundestag vorzunehmen.

Die Idee von Strauß war, die CSU (auch zur Gewinnung rechter Wähler) bundesweit als „vierte Partei“ zu etablieren und in Wahlkämpfen antreten zu lassen. Er glaubte, anschließend in den Bundestag ein größeres Gewicht einbringen und die Bundespolitik nachhaltiger mitbestimmen zu können. Kohl erläutert, dass er ein solches Vorgehen für falsch und schädlich gehalten habe und deshalb mit aller Kraft gegen den Kreuther Beschluss aufgetreten sei. Er schreibt über „ganz persönliche Verletzungen“, die ihm im Zusammenhang mit der Aufkündigung der 27-jährigen Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU zugefügt worden seien. Er wertete dieses Manöver als den Versuch zur Schwächung der Position des Bundesvorsitzenden der CDU (S. 422ff.).

Fairerweise geht Kohl in seinen „Erinnerungen“ teilweise auf seine eigenen persönlichen Schwächen im politischen Kampf ein, insbesondere im Vergleich mit dem damals amtierenden Bundeskanzler Schmidt. Während dieser eine große Unterstützung bei den Medien genossen habe und für Radio und Fernsehen „wie geboren“ gewesen sei, habe er, Kohl, „einen schweren Stand“ gegenüber Schmidt gehabt: „Meine sicherlich unelegante Figur und mein hörbarer Pfälzer Dialekt spielten dabei ebenso eine Rolle wie meine ‚altmodische’ Auffassung über politische Tugenden. Wer so daherkommt, wird nicht nur von Karikaturisten leicht zur Zielscheibe für Spott und Witze erkoren.“ (S. 453)

An vielen Stellen lamentiert der Verfasser, politische Gegner hätten ihn diffamiert und ungerecht behandelt. Dass er selbst gegen andere völlig unangebrachte „schwere Geschütze“ auffuhr, wie seinerzeit gegen Johannes Rau oder Richard von Weizsäcker, hält Kohl für gerechtfertigt. Nur an einer Stelle gesteht er ein, dass er gelegentlich selbst zu Entgleisungen neigte: „Auch ich bewegte mich ab und zu hart am Rand und manchmal auch jenseits der Grenze zur Demagogie und war nicht völlig frei davon, politische Gegner persönlich zu verletzen.“ (S. 568)

Im gesamten Band bleiben inhaltliche Hintergründe und Probleme, insbesondere der außen- und deutschlandpolitischen Herausforderungen der 1960er und 1970er-Jahre, stark unterbelichtet. Innenpolitisch sind die „Erinnerungen“ informativer. Gleichwohl kommen auch hier Motivationen, Prinzipien und erstrebenswerte Ziele wenig zur Sprache. Viele Leser mögen bereits jetzt des unentwegten Geschiebes und Gedränges in der Politik um einflussreiche Posten und Pöstchen überdrüssig sein. Sie erhalten in diesem Band manche zusätzliche Lehrstunde über den Alltag des Personal- und Machtgerangels innerhalb und außerhalb der Parteien erteilt. Dass daraufhin mancher Leser zur viel beklagten „Politikmüdigkeit“ und „Politikverdrossenheit“ neigen könnte, hält der Rezensent durchaus für möglich.

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