H.J. Lüsebrink (Hg.): Lettres de Berlin et d´autres villes d´Europe

Titel
Lettres de Berlin et d´autres villes d´Europe d'Edmond de Nevers.


Herausgeber
Lüsebrink, Hans-Jürgen
Erschienen
Cap-Saint-Ingaz 2002: Edition Nota bene
Anzahl Seiten
295 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Middell, Zentrum für höhere Studien, Universität Leipzig

Der kanadische Journalist Edmond de Boivers (der 1884 das Pseudonym Nevers annahm, und von 1862 bis 1906 lebte) hat zwischen 1888 und 1891 in La Presse in Montréal seine Reiseeindrücke von den Metropolen Berlin und Wien, von der ungarischen Provinz und einer Italienroute zwischen Venedig und Rom veröffentlicht. Der Saarbrücker Romanist Hansjürgen Lüsebrink hat dieses frühe Zeugnis einer Suche nach Alterität in der frankophonen Gesellschaft Québecs aufgefunden und in einer gekürzten Auswahl vorgelegt.

Fast 12 Jahre bereiste Nevers Europa, nachdem er als ältestes von 16 Kindern einer Bauernfamilie eine Karriere als Jurist absolviert hatte. Er wollte der provinziellen Enge seiner Heimat entfliehen und zugleich durch Musikstudien an der Berliner Musikakademie seine auf dem Collège von Nicolet begonnenen Übergang von einem agrarisch geprägten zu einem bildungsbürgerlich ausgerichteten Milieu vollenden. Der polyglotte Autodidakt erlernte auch die deutsche Sprache und wandte sich zunächst für 14 Monate nach Berlin, was für eine frankophonen Kanadier erstaunt, von dem man zunächst erwartet hätte, dass er seine Europa Abenteuer in Paris begänne. Aber erst nach weiteren Stationen in der Habsburger Monarchie, in Italien, Spanien und Portugal wandte er sich 1892 der französischen Hauptstadt zu, wo er als Übersetzer und Redakteur 8 Jahre blieb.

Es ist dem Herausgeber zu danken, diesen originellen Beobachter, der für lange Zeit der einzige Frankokanadier bleiben sollte, der sich intensiv mit Deutschland auseinandersetzte, wiederentdeckt und seine Eindrücke in einer solide kommentierten Edition zugänglich gemacht zu haben. Nevers’ Komentare rücken die Konkurrenz der europäischen Modernisierungszentren in den Vordergrund. Er behandelt (als Gasthörer bei Mommsen, Treitschke, Virchow, Dubois, Renaut) die Forschungseinrichtungen der aufstrebenden Wissenschaftsmetropole Berlin und ihre markanten Führungsfiguren, ebenso wie den Alltag der Studenten in Berlin zwischen Wilhelm I. und Wilhelm II. Die Kunstszene interessierte ihn vor allem unter dem Gesichtspunkt von Oper und neuer Theaterpraxis (wie im Falle der Wiener Freien Bühne). Arnold Schönberg und Max Reger finden ausführliche Beachtung, und die avantgardistische Kunst der Expressionisten und der abstrakten Malerei werden für das heimische Publikum gründlich reflektiert. Blind für die andere Seite der Modernisierung, für Militarismus (den er im Spiegel der Leidenschaft für Uniformen im Alltag ironisierte), Antisemitismus (wie in Treitschkes Vorlesungen) und die Ausgrenzung von Minderheiten war Nevers deshalb nicht. Wie er gleichfalls den Aufstieg der Arbeiterschaft in der Sozialdemokratie von seinem eher gut bürgerlich besiedelten Quartier in der Schwabinghauser Allee 172 aufmerksam registrierte.

Die Artikel legen zunächst das Schwergewicht auf die Erklärung deutscher Besonderheiten in Sozialstruktur, Institutionengefüge und politischer Kultur. Er versuchte, dem Publikum jenseits des Atlantik die Bedeutung der herausragenden, politischen Einrichtungen, und dadurch die Verfassung des Deutschen Reiches, verständlich zu machen. Lüsebrink präsentiert ihn in seiner umfangreichen Einleitung als eine typische Mittlerfigur in einem Kulturtransfer, der sich aus dem permanenten Vergleich heimatlicher und fremder Erfahrungen speist und motiviert ist von der Lernbereitschaft zur Modernisierung der eigenen Gesellschaft. Der kleine Band verweist an einem konkreten Fall auf die Möglichkeiten des Kulturtransferansatzes auch für die transkontinentale Kulturgeschichte und verdiente auch in seinem theoretischen Anspruch zur Kenntnis genommen zu werden.

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