H. Grandits: Familie und sozialer Wandel im ländlichen Kroatien

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Titel
Familie und sozialer Wandel im ländlichen Kroatien. 18.-20. Jahrhundert


Autor(en)
Grandits, Hannes
Reihe
Zur Kunde Südosteuropas 2
Erschienen
Anzahl Seiten
504 S.
Preis
€ 72,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rayk Einax, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Derart umfassende sozial- und kulturhistorische Lokalstudien wie die von Hannes Grandits sind für den ex-jugoslawischen Raum bzw. für den Balkan überhaupt nach wie vor eine Rarität. So lässt sich oftmals feststellen, dass z.T. Jahrzehnte alte Forschungen immer noch Pioniercharakter besitzen 1, und auch Grandits’ spezifische Studie basiert auf ehemals erhobenen Datenmaterialien. Exemplarisch wird darin an den beiden Gemeinden Lekenik und Bobovac der Wandel der bäuerlichen Lebensverhältnisse auf dem kroatischen Dorf während der letzten beiden Jahrhunderte untersucht. Obwohl nicht weit voneinander entfernt, gehörten beide Dörfer unterschiedlichen Verwaltungssystemen an: Lekenik war Teil des zu Ungarn zählenden Zivilkroatien, mit einer noch immer bestehenden feudalen Wirtschafts- und Sozialordnung; Bobovac dagegen gehörte zum Militärgrenzbereich, wurde also direkt vom Wiener Hofkriegsrat verwaltet, und die hier ansässigen Bauern unterlagen der militärischen Dienstpflicht. Dennoch ähnelten in beiden Orten zunächst die häusliche und landwirtschaftliche Lebensweise. Mit komparativem Blick zeichnet der Autor die dörflichen Sozialstrukturen und ihre jeweiligen Entwicklungen mit allen historischen Brüchen nach, und will somit den Anlass zu weiteren Forschungen bieten.

Ein Abschnitt des Buches beschäftigt sich mit beiden Dorfgemeinden im vorindustriellen Zeitalter. Lekenik unterlag bereits seit Jahrhunderten feudalherrschaftlichen Verhältnissen. Dem Bodenbesitz und seiner Bewirtschaftung galt hier das Hauptinteresse der Bauern, um wirtschaftlich überleben zu können. Die Bewohner von Bobovac hingegen führten ein weitgehend militarisiertes und egalitäres Leben als Grenzkolonisten, das durch Migration geprägt war. Hier wurde Landwirtschaft vorwiegend aus Gründen der Selbstversorgung betrieben, und die „Zadruga“, d.h. die für den Balkan so typische Lebensweise mehrerer Familiengenerationen in einer vielköpfigen Hausgemeinschaft, bestand hier aus vergleichsweise weniger Mitgliedern als in Lekenik. In beiden Gemeinden herrschte weiterhin familiäres Gewohnheitsrecht vor, das hieß z.B. auch, dass individuelles Besitztum unüblich war. Überhaupt stellt die Familie bzw. der Familienbegriff das wichtigste Untersuchungsobjekt der Studie dar. Ausgehend vom aktuellen Forschungsstand und eingebettet in den europäischen Kontext werden die vorgefundenen Hausgemeinschaften eingehend untersucht. Um anschließend den sozialen Wandel analysieren zu können, bedient sich Grandits vorab beschriebener historisch-anthropologischer und demografischer Methoden. Seine Quellengrundlage ist dabei dual. Sie besteht zum einen in der Auswertung aller relevanten österreichisch-ungarischen bzw. jugoslawischen statistischen Materialien, und zum anderen in der Operationalisierung und Verwendung von Befragungen, die Anfang der 1960er-Jahre vor Ort von einem Forscherteam unter der Leitung des amerikanischen Anthropologen Joel M. Halpern durchgeführt wurden, und seither noch einer umfassenden Sichtung harrten.

Zum Umsturz der alten Ordnung, d.h. auch der althergebrachten Lebensweisen auf dem Lande und somit in den beiden Dörfern war es erst im Zuge der Revolution 1848/49 gekommen. Mit Aufhebung der feudalen Grundherrschaft 1848 wurden die Lekeniker freie Bauern. Doch der Streit um die Höhe der Abschlagszahlungen und –raten für die Grundherren beherrschte noch für Jahrzehnte die Gemüter. Die Reform der Feudalverhältnisse wie auch das Modernisierungstempo insgesamt gestalteten sich hier langwieriger und konfliktreicher als in anderen Teilen der Monarchie.

Die Situation in Bobovac änderte sich erst nach dem ungarisch-kroatischen Ausgleich von 1868, als in der Folge die Militärgrenze schrittweise bis 1873 aufgehoben wurde, der ehemalige Grenzstreifen unter Zivilverwaltung kam und schließlich 1881 an Kroatien-Slawonien angeschlossen wurde. Die Grenzer waren fortan formal einfache Staatsbürger.

Die Familien- und Besitzverhältnisse blieben zwar vorerst weiterhin stabil, denn der Gemeinschaftsbesitz wurde beibehalten. Aber mit der beginnenden Besitzseparierung gingen eine zunehmende Verschuldung und zahlreiche Grundstücksnotverkäufe einher. Im Zuge der juristischen Marginalisierung der Zadruga ab 1870 und verstärkt durch eine Agrarkrise griff die Auflösung der traditionellen Wohnverhältnisse und des Kollektivbesitzes schnell Raum. Die ökonomische und soziale Polarisierung fand v a. in Lekenik durch Verarmung und neue Dorfhierarchien ihren Ausdruck. Durch sinkende Mortalitätsraten setzte schon lange vor dem Ersten Weltkrieg in beiden Ortschaften ein Bevölkerungswachstum ein. Dies verursachte wiederum Landknappheit und erhöhte den „demografischen und ökonomischen Druck“ (S. 259f.). Die nur mäßige Industrialisierung Kroatiens äußerte sich vor allem in Lekenik in verstärkter Zuwanderung. Es siedelten sich hier v.a. jüdische Händler, zudem Lehrer, Eisenbahner, Holzarbeiter und Gesinde sowie Tagelöhner neu an. Da es in Bobovac wie anderswo nur sehr wenige zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten gab, wanderten viele Kroaten entweder nach Amerika aus, oder suchte für mehrere Jahre im europäischen Ausland nach Arbeit.

Spätestens nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begannen in beiden Gemeinden moderne staatliche und gesellschaftliche Strukturen und Institutionen Einzug zu halten. Schulen bestanden schon vorher, Vereine und Ortsverbände von politischen Parteien wurden nunmehr ebenso gegründet wie Feuerwehr, Fußball- oder Sportverein, Musikgruppen oder bäuerliche Bildungsanstalten.

Infolge der Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges und durch die damit einhergehenden menschlichen und materiellen Verluste wurden die Sozialgefüge beider Ortschaften gründlich zerstört. Nun übernahm die Kommunistische Partei die Herrschaft. Ihre umfassenden Modernisierungskonzepte nunmehr in einer Agrarreform mit umfassenden Kollektivierungsmaßnahmen. Sie versuchte darüber hinaus, die Landwirtschaft weitestgehend zu technisieren. In der kroatischen Teilrepublik verliefen die Kollektivierungsmaßnahmen zäher. Durch die gleichzeitige forcierte Industrialisierung und Urbanisierung veränderte sich auch das Berufsleben der Dorfbewohner sehr rasch. Viele Arbeitskräfte kehrten der Landwirtschaft den Rücken, denn diese galt als unrentabel. Sie nahmen Pendlerjobs und Gastarbeit im Ausland in Kauf, oder zogen ganz weg, insbesondere aus Bobovac. Dennoch blieb man schon aufgrund der Familienverhältnisse dem Heimatdorf weiterhin eng verbunden. Dort brachten neue Einkommensmöglichkeiten neue Lebensstile mit sich. Massenmedien – Radio, Kino, Fernsehen – erreichten beide Dörfer; Lekenik wurde 1948, Bobovac in den 60er-Jahren elektrifiziert; die Motorisierung schritt voran und die Nahrungsgewohnheiten änderten sich. Diese umwälzenden Prozesse verdeutlicht der Autor nicht nur durch statistische Analysen, sondern ebenfalls durch Fotografien und Zeitzeugeninterviews.

Gleichzeitig versuchte die Staatsführung ein jugoslawisches Identitätsbewusstsein zu implementieren. Dabei hatte sie hinsichtlich der dafür nötigen Mobilisierungskampagnen vor allem die Jugend in ihrem Blickpunkt. In beiden Gemeinden prallten Traditionen und moderne Lebensweisen unmittelbar aufeinander. Abzulesen ist dies natürlich vor allem an den überlieferten Schilderungen der Bewohner. Die weitgehend dominante Lebensform waren nun Einzelhaushalte, d.h. lediglich Eltern mit ihren Kindern, aber auch Einpersonenhaushalte stellten keine Seltenheit mehr dar. Die Zadruga war schon zwischen den Weltkriegen obsolet geworden, aber bis in die Nachkriegszeit hatten Übergangsformen Bestand, bei denen z.B. der älteste Sohn oder die älteste Tochter nebst Familie weiterhin bei ihren Eltern wohnen blieben. Auch die Frauenbilder, die Ansichten über Sexualität, die Einstellungen zu Eheschließung bzw. – scheidung oder das Freizeitverhalten wurden einem grundlegenden Wandel unterworfen.

Wie der Titel bereits verspricht, überzeugt die Studie durch ein profundes anthropologisches Konzept hinsichtlich der Forschung über Familie und sozialen Wandel. Auch die Quellengrundlagen sind weitestgehend ausgeschöpft worden. Die Lebensweise in Lekenik und Bobovac bildet Grandits für das 19. Jahrhundert anhand zahlreicher Statistiken nach, und ordnet sie in den aktuellen Forschungskontext ein. Für das 20. Jahrhundert illustrieren neben den bloßen Daten auch Bilddokumente sowie Einsichten von Dorfbewohnern die Ausführungen und Thesen des Autors. Mitunter aber wäre zur besseren Verifizierung der mitunter recht detailverliebten Schilderungen eine für den Leser transparentere systematische Auswertung der Zeitzeugenbefragungen ratsam gewesen, denn mitunter können wichtige und interessante Aspekte gar nicht oder nur unzureichend durch Interviewsequenzen belegt werden. Dennoch ist das Buch ein erfreulicher und anregender Beitrag zur Erforschung lokaler Verhältnisse und sozialen Wandels in Südosteuropa.

Anmerkung:
1 Vgl. Halpern, Joel Martin, A Serbian Village, Social and Cultural Change in a Yugoslav Community, New York 1967. Halpern, Joel Matrin; Kerewsky, Barbara, A Serbian Village in Historical Perspektive, New York 1982.

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