A. Schüler: Jane Addams und Alice Salomon

Cover
Titel
Frauenbewegung und soziale Reform. Jane Addams und Alice Salomon im transatlantischen Dialog, 1889-1933


Autor(en)
Schüler, Anja
Reihe
Transatlantische Historische Studien 16
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin Wolff, Bibliothek und Studienzentrum, Archiv der deutschen Frauenbewegung, Kassel

Zwei Frauen – ein Leben. Fast scheint es, als wenn sich die Arbeit von Anja Schüler in die Reihe der Frauen-Doppelbiografien einreihen würde, die in den letzten Jahren über wichtige Protagonistinnen der Frauenbewegung erschienen sind.1 Aber diese Vermutung täuscht, denn die beiden Frauen, die in der hier vorzustellenden Arbeit im Zentrum stehen, teilten nicht ein gemeinsam gelebtes Arbeits- und Privatleben, sie teilen noch nicht einmal die selbe Sprache bzw. das gleiche Land. Die amerikanische Quäkerin Jane Addams und die deutsche – konvertierte – Jüdin Alice Salomon teilten vielmehr eine Idee, eine Bereitschaft, ja eine fast zwingend zu nennende innere Notwendigkeit, aktiv Handelnde bei der Umwandlung und beim Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu sein. Beide arbeiteten im ausgehenden 19. und vor allem zu Beginn des 20. Jahrhundert, in zwei sehr unterschiedlichen politischen Systemen zu den gleichen Problemen und kamen – trotz unterschiedlicher Methoden – auch zu ähnlichen Ergebnissen.

Das Buch von Anja Schüler soll dann auch „neue Einsichten über die Reformarbeit deutscher und amerikanischer Frauen und ihren Beitrag zur Entstehung des Wohlfahrtstaates auf beiden Seiten des Atlantiks liefern“ (S. 13). Dabei geht es ihr aber nicht nur um die jeweilige spezifische Situation vor Ort, sondern sie möchte auch dem „transatlantischen Reformdialog zwischen 1890 und 1933“ (S. 18) auf die Spur kommen. Hinter dieser Fragestellung steht die Auffassung, dass sozialreformerische Projekte (wie wohl andere gesamtgesellschaftliche Anliegen auch) ‚im Verbund’ diskutiert werden und nicht isoliert zu betrachten sind. Darüber hinaus weißt dies auch auf die internationalen Beziehungen der Frauenbewegungen hin, die in diesem Buch ebenfalls mit geschildert werden.

Anja Schüler beschreibt in zwei großen Teilen die jeweilige Biografie von Jane Addams (S. 39-186) und die von Alice Salomon (S. 187-348), eine Einleitung und ein Schlusskapitel runden die Arbeit ab. Dieser Aufbau, der zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig ist, – bei manchen Zeitabschnitten wäre eine Gliederung nach Themen sinnvoller gewesen – entfaltet beim Lesen der Arbeit seinen Sinn, nämlich die dichte und sehr detailreiche Schilderung einer Lebenssituation, die in ihrer Eigenständigkeit für sich stehen bleiben darf. Das Leben und Arbeiten von Jane Addams und das von Alice Salomon erhalten damit ihre eigene Logik und Stringenz, ohne dabei isoliert zu wirken, da immer wieder der Bezug auf das Leben der jeweils anderen mitgedacht wird.

Die Biografien der beiden Protagonistinnen weisen erstaunliche Parallelen auf. Beide begründeten ihre Reformprojekte in den 1890er-Jahren, für beide wurde die Frage der Partizipation von Frauen bei der Lösung der vielfältigen sozialen Probleme sehr zentral und beide beschränkten sich nicht auf den jeweiligen nationalen Hintergrund. Die Unterschiede in den Lebensläufen sieht Anja Schüler dann dementsprechend auch eher in den unterschiedlichen Lebenswelten von amerikanischen und deutschen Frauen.

Wie weit die Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Frauen, aber auch zwischen diesen beiden Reformansätzen ging, weist Anja Schüler schon von Beginn an nach, wenn sie den Argumentationen der beiden Frauen nachspürt, die diese für ihr außerhäusiges Handeln fanden. Sowohl die amerikanische als auch die deutsche Seite nahmen für sich die Überzeugung einer spezifischen ‚weiblichen Eigenart’ in Anspruch, die sie legitimierte, sich als Frauen zuständig für ihre Reformmission zu fühlen. „Reformerinnen in beiden Ländern bestanden also auf einer spezifischen Reformmission von Frauen und legitimierten ihr sozialpolitisches Engagement mit der ‚weiblichen Eigenart’. [...] Progressive Frauen betonten die ‚weibliche Eigenart’ um traditionelle Familienstrukturen zu kritisieren, konservative bedienten sich des gleichen Arguments, um sie zu verteidigen; innerhalb dieses Diskurses konnten Solidarität mit oder der Anspruch auf Autorität über Arbeiterfrauen entstehen; er legitimierte Forderungen nach Unabhängigkeit von oder Einbeziehung in männlich dominierte Bürokratie.“ (S. 23f.) Anja Schüler zeigt damit einmal mehr die große Chance und die Möglichkeiten auf, die in diesem – zu Beginn von der Forschung eher abqualifizierten – Konzept steckten.

Alle Stationen der beiden Lebensschilderungen sind ausgesprochen gut recherchiert und es macht Spaß, das Buch zu lesen. Durch die lebendige Schilderung der Personen und ihrer Ansichten gelingt es gut, die Aktionen und Interaktionen der Protagonistinnen in ihre Zeit zu integrieren und diese miteinander zu verschränken. Bei der Schilderung von Alice Salomons Beziehungen zum Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) kommt allerdings ihre Stellung als deutsche Jüdin – obwohl zu Beginn des Ersten Weltkrieges konvertiert und die Problematik, die dies in den Augen anderer Vorstandsmitglieder mit sich brachte, nicht vor. Dies ist ein Manko der Arbeit, denn obwohl ihr Jüdischsein für Alice Salomon anscheinend selber keine Rolle spielte, war dies doch ein Diskussions- und Handlungspunkt für andere. So beschreibt Anja Schüler die Konflikte innerhalb des BDF nicht, als nach dem Krieg Gertrud Bäumer als Erste Vorsitzende zurücktrat und eigentlich Alice Salomon den Vorsitz übernehmen sollte. Marlis Dürkop hat bereits 1984 auf die antisemitische Argumentation hingewiesen, mit deren Hilfe Alice Salomon an der Übernahme des BDF-Vorsitzes gehindert wurde. 2 Auch die internationale Arbeit von Alice Salomon wurde nach dem Ersten Weltkrieg massiv durch antisemitische Denkweisen behindert, was in einem Brief Gertrud Bäumers aus dem Jahr 1924 nachzulesen ist. 3 Anja Schüler diskutiert die Vorkommnisse sehr kurz und lediglich vor dem Hintergrund der nicht gut angesehenen internationalen Arbeit von Alice Salomon (S. 310ff.). Dieser Interpretationsrahmen ist sicher richtig, doch wäre eine Verschränkung des latenten Antisemitismus im BDF mit dem Engagement Salomons auf internationaler Ebene unverzichtbar gewesen.

Die Ergebnisse, zu denen Anja Schüler in ihrem Schlusskapitel kommt sind sehr aufschlussreich. Statt der Unterschiede in der sozialen Wohlfahrtsarbeit dominieren eher die Gemeinsamkeiten. Beide Personen und die entsprechenden Frauengruppen benutzten für ihren Kampf die gleichen Argumente und sie wussten diese auch geschickt einzusetzen. „Sie gebrauchten je nach Kontext und Gelegenheit Gleichheits- und Differenzargumente, um ihre Ziele zu erreichen“ (S. 349), was wieder einmal mehr zeigt, dass es erst die historische Forschung war, die zwischen diesen Argumentationssträngen eine klare weltanschauliche Differenz sah. Beide Bewegungen lernten voneinander, wobei sich der Ideentransfer „weniger in der direkten Umsetzung von bereits existierenden Reformprojekten des jeweils anderen Landes nieder[schlug], sondern als Reformpotential in einem anderen politischen und kulturellen Kontext genutzt [wurde]“ (S. 350).

Auch diese Arbeit kann überzeugend nachweisen, dass „das soziale Engagement von Frauen wie Jane Addams und Alice Salomons in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg entscheidend zu einer Neudefinition sozialer Fragen und ihrer Lösungen bei trug“ (S. 351). Die Diskussion über den Beitrag von Frauen und Frauenbewegung zum Aus- und Umbau der Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts – und damit auch die Frage nach der Partizipationsmöglichkeit von Frauen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft – hat durch das Buch von Anja Schüler nicht nur neue Nahrung bekommen, es gelingt ihr vielmehr, eine bis heute viel zu wenig beachtete Dimension einzubauen, nämlich die internationale.

Anmerkungen:
1 Vgl. Göttert, Margit, Macht und Eros. Frauenbeziehungen und weibliche Kultur um 1900 – eine neue Perspektive auf Helene Lange und Gertrud Bäumer, Königstein 2000; Schaser, Angelika, Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln 2000. Und das leider oberflächliche Buch von: Dünnebier, Anna; Scheu, Ursula (Hgg.), Die Rebellion ist eine Frau. Anita Augspurg und Lida G. Heymann, München 2002.
2 Vgl. Dürkop, Marlis, Erscheinungsformen des Antisemitismus im Bund Deutscher Frauenvereine, in: Feministische Studien, 3 (1984), S. 140-149.
3 Nachzulesen bei: Greven Aschoff, Barbara, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland, 1894-1933, Göttingen 1981, S. 278, Anm. 50.

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