Titel
"Zieht hin und erforscht das Land". Die deutsche Palästinaforschung im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Goren, Haim
Reihe
Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv 23
Erschienen
Göttingen 2003: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Kirchhoff, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Universität Leipzig

In der deutschen geografischen Forschung war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Rede von „Länderindividuen“ durchaus beliebt. „Palästina“ war davon nicht ausgenommen, wenngleich es zu dieser Zeit alles andere als eine politisch-geografische Realität darstellte. Schließlich handelte es sich um ein Gebiet unter osmanischer Herrschaft, die ein wie auch immer geartetes „Palästina“ in administrativer Hinsicht, etwa als distinkte Provinz, nicht kannte. Aber aus der Sicht des Geografen Theobald Fischer war das „heute von uns Palästina genannte Gebiet [...], nach seinen geographischen Grundzügen und seiner Geschichte ein so scharf ausgeprägtes Länderindividuum, wie es wenige gibt“.1 Es galt zu fragen, weshalb „Palästina, ein so kleines, unscheinbares und von Natur im ganzen ziemlich stiefmütterlich ausgestattetes Land, der Ausgangspunkt aller monotheistischen Religionen [...] ist“. Nach Fischer war es zunächst die geologisch bedingte Abgeschlossenheit, die das Land für die Ausbildung des Monotheismus prädestinierte, genauso, wie seine geografische Lage die spätere Verbreitung desselben verständlich machte. So passte es, an die Art von Geografie zu erinnern, wie sie ein halbes Jahrhundert zuvor der große Geograf Carl Ritter (1779–1859) im Allgemeinen, aber mit besonderer Hingabe in Hinblick auf Palästina betrieben hatte: „Denn nun, um in Karl Ritters Sprache zu reden, als die Zeit vollendet war, als Palästina die Aufgabe gelöst hatte, die ihm die göttliche Vorsehung von vornherein zugeteilt hatte, trat ein anderer zu dem der Abgeschlossenheit in wunderlicher Weise gegensätzlicher Charakterzug Palästinas in Wirksamkeit: seine Lage mitten zwischen und in größter Nähe der größten Welthandelsstraßen“.2 Tatsächlich sei so die nun einsetzende Verbreitung des Christentums, aber auch die Ausbreitung der Juden und des Judentums zu erklären.

Das „Heilige Land“ oder, in säkularisierter Form, „Palästina“ war spätestens seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Faszinosum eines wissenschaftlichen Diskurses geworden. Die den Zeitgenossen auch als „Palästinakunde“ bekannte Forschung und immense Literaturproduktion war dabei alles andere als eine einheitliche Disziplin. Vielmehr handelt es sich um einen hybriden, „interdisziplinären“ und internationalen Gesamtkorpus, an dem sich unterschiedliche Wissenschaftszweige beteiligten: Traditionell eine Hilfswissenschaft vor allem der protestantischen Theologie, involvierte die nun als Aufgabe angesehene vollständige wissenschaftliche Durchdringung des Landes historische, geografische, geologische, ethnografische Fragestellungen und andere mehr. Im internationalen Vergleich war die deutsche Palästinaforschung dabei wenn nicht durchgängig, so doch zeitweilig – etwa in der Ära Ritters – führend. Daran erinnert nun die ins Deutsche übersetzte, in der hebräischen Fassung zuerst 1999 erschienene Jerusalemer Dissertation des israelischen Geografen Haim Goren. Die Studie verortet sich innerhalb eines Ansatzes historisch-geografischer Forschung in Israel, die sich davon löste, das Land Israel als solches in den Vordergrund zu rücken, um den Blick unter anderem auf Phänomene der Bedeutung sowie der Besiedlungsversuche des Landes in der vor-zionistischen Ära zu lenken. Zu diesem Forschungsfeld zählen die Studien Alex Carmels über die Ansiedlung der württembergischen Templer im 19. Jahrhundert ebenso wie die wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten Yehoshua Ben-Ariehs, der in einer gleichnamigen Publikation den treffenden Begriff der „Rediscovery of the Holy Land“ prägte.3

An dieser „Wiederentdeckung“, das zeigt Goren bereits im ersten Kapitel über die „Pionierforscher“, waren deutsche oder deutschsprachige Autoren und Forscher von Anfang an beteiligt. Weltgeschichtlich gesprochen hatte Palästina nach der Ära der Kreuzzüge seine Bedeutung als abendländisches Pendant im Orient verloren; für das neuzeitliche Europa war es in den Jahrhunderten immer neuer außereuropäischer Entdeckungen von nur noch peripherer Bedeutung. Durch eben diesen Geist des Entdeckens sowie ihre aufklärerische Grundhaltung lassen sich auch die drei großen deutschsprachigen wissenschaftlich Reisenden und Pioniere der Palästinaforschung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts charakterisieren: Carsten Niebuhr, Ulrich Jasper Seetzen, sowie Johann Ludwig Burckhardt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Palästina allerdings teils nur am Rande, teils als Vorbereitung ihrer Reisen nach Arabien bzw. Afrika bereisten.

Haim Gorens Darstellung rückt stets bestimmte Autoren, ihre Biografien, Orte und Netzwerke in den Vordergrund. Im zweiten Kapitel steht zunächst Carl Ritter im Zentrum. Dieser widmete der vergleichenden Erdkunde Palästinas, Syriens und des Sinais gleich vier Bände (erschienen 1848–1856), räumte der Region also einen überproportional breiten Platz innerhalb seines monumentalen Hauptwerks ein. Dank vor allem seiner Person war nun nicht mehr, wie noch für die vorangegangene Generation, Göttingen, sondern Berlin der wichtigste akademische Ort der deutschen, wenn nicht internationalen Palästinaforschung. Dies macht der Blick auf den amerikanischen Theologen Edward Robinson deutlich. Während der „Christ und Geograph“ Ritter (Hanno Beck) Palästina nie selbst besuchte, aber alles verfügbare Wissen über das Land kumulierte, sollte sein Schüler und Freund Robinson das Land selbst, erstmalig 1838, bereisen und dabei gleich einen Paradigmenwechsel herbeiführen – weg von der legendären, von Mönchen und Pilgern tradierten Ortskunde, hin zur „biblischen Geographie“: Robinson entwarf eine Methode, wie die wahren alten biblischen Ortsnamen und Orte vor allem auch des Alten Testaments wiedergefunden werden konnten. Goren zeigt, wie es sich dabei um eine deutsch-amerikanische Kooperation handelte. Robinson hatte den Rat Ritters, aber auch die philologische Expertise des in Halle lehrenden „Begründers der modernen hebräischen Lexikographie“ Wilhelm Gesenius gesucht; aus Palästina direkt nach Berlin zurückgekehrt, veröffentlichte er seine Erkenntnisse zeitgleich mit der amerikanischen Ausgabe in einer dreibändigen deutschen Fassung. Ritter betreute seinen bewährten Schüler, und empfahl für die kartografische Auswertung der neuen Erkenntnisse den noch jungen Heinrich Kiepert, der in der zweiten Jahrhunderthälfte zum bedeutendsten deutschen Kartografen werden sollte.

Der – wie sicher stärker zu betonen wäre – im Wortsinn protestantische Ansatz Robinsons, der die katholische topografische Tradition grundsätzlich bezweifelte, sollte wesentliche Bedeutung erlangen. Doch etwa zeitgleich, das macht das nachfolgende Kapitel anhand vor allem „protestantischer Forscher aus Bayern“ deutlich, waren für mehrere Autoren der deutschen Palästinaliteratur zunächst romantische Motive für die Hinwendung zum Orient und zum Heiligen Lande ausschlaggebend. Innerhalb dieser Bewegung wurde nun doch wieder die Zeit der abendländischen Kreuzzüge evoziert – eine wiederbelebte, und von nun an im 19. Jahrhundert verschiedentlich immer wieder anklingende kollektive Erinnerung. Unter den in diesem Kontext porträtierten Forschern und Autoren war es Jacob Philipp Fallmerayer, der die erneute Eroberung Jerusalems durch die Christenheit, wohlgemerkt mit „dem Hebel der Wissenschaft“, forderte. Später sollte dieser Gedanke unter dem Leitwort des „friedlichen Kreuzzugs“ einige Verbreitung finden.

Die Studie bleibt ihrem Muster treu, wenn sie, in etwa für das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts, die deutsche Orientalistik und ihre Verhältnis zu Palästina, sowie wiederum die entsprechenden Netzwerke in den Blick nimmt. Damit verschiebt sich die Perspektive stärker in das Land selbst hinein, denn zu einer wichtigen Institution für die Palästinaforschung wurde das im Jahr 1842 gegründete preußische Konsulat in Jerusalem. Diese Einrichtung wurde zumeist mit ausgebildeten Orientalisten besetzt, die sich neben ihren repräsentativen Aufgaben auch vor Ort wissenschaftlich betätigten. Ihr wesentlicher Unterschied zu den Palästinaforschern im engeren Sinn besteht nach Goren darin, Palästina nur als Teil und nicht als Zentrum ihrer Forschungen zum Vorderen Orient angesehen zu haben. Zugleich wurde so das Interesse für zeitgenössische Probleme der Region befördert.

Tatsächlich wuchs nun der Bedarf „angewandter“, auf Fragen vor allem der möglichen Kolonisation des Landes hin orientierter Untersuchungen. Goren separiert diese von der streng wissenschaftlich motivierten Forschung, sieht aber auch Übergänge. Titus Tobler ist ein Beispiel für jene Forscher, die, durch das Literaturstudium in Europa geschult, das Land besuchten, um die Quellen mit der vorgefunden Realität abzugleichen. Solche Studien mochten nun aber auch die Grundlage bilden, um – zurückgehend auf die biblische Darstellung – die Möglichkeit der Ansiedlung im Lande zu diskutieren. Konkret war dies bei württembergischen christlichen Autoren der Fall. In den 1860er-Jahren siedelten sich die aus der evangelischen Kirche ausgeschiedenen württembergischen Templer im Lande an; ihre Gemeinden markieren, nach ersten dramatischen Misserfolgen, das einzige längerfristig erfolgreiche Kolonisationsprojekt vor dem Zionismus. Neben die Geistlichen und Missionare in Jerusalem traten nun auch die Siedler, so dass die deutsche Präsenz vor Ort weiter zunahm. Forscher aus diesen Kreisen zeichneten sich durch langjährige Vertrautheit mit dem Lande aus und trugen zur „speziellen“, vor allem bibelkundlich orientierten oder zur „angewandten“, praktisch orientierten Forschung bei. Hinzu traten Debatten über den eventuellen Platz Palästinas im Rahmen deutscher Kolonisation überhaupt, sowie die Vorschläge Charles F. Zimpels, dem Eisenbahnstrecken sowie die „Rückführung der Juden“ vorschwebten.

In ein neues, institutionalisiertes Stadium trat die deutsche Palästinaforschung mit dem 1877 auf Initiative von drei Gelehrten gegründeten Deutschen Palästina-Verein (DPV), der in Leipzig seinen Sitz nahm. Schon ein gutes Jahrzehnt zuvor, im Jahr 1865, war der britische Palestine Exploration Fund gegründet worden. Die Briten dominierten nun, dank erheblicher Finanzmittel, das wissenschaftliche Feld. Von überragender Bedeutung war das kartografische Großprojekt „Survey of Western Palestine“; zugleich hatten französische Forscher und britische Militäringenieure das Feld der Palästina-Archäologie eröffnet. Der DPV reagierte darauf, indem er einen eigenen, der weit schwächeren Finanzsituation angemessenen Platz zu finden suchte. Unter anderem bewährte sich auch hier, wie die erfolgreiche Zeitschrift des Vereins zeigt, der Rückgriff auf die bereits im Lande ansässigen Deutschen. Als primäres Anliegen nannte der Verein zwar, das Verständnis der Bibel zu fördern. Doch Goren rückt die neue Ära der nun institutionalisierten Forschung auch in einen imperialistischen Kontext. Die Palästinaforschung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sieht er zunehmend national geprägt; die in dieser Phase gegründeten wissenschaftlichen Gesellschaften (so auch in den Vereinigten Staaten und Russland) seien „jeweils tief in das Ringen um Einfluß und Anwesenheit der europäischen Mächte verwickelt“ gewesen (S. 343f.).

Hier, wie an anderen Punkten, ergibt sich weiterer Erklärungsbedarf. Generell sucht die Studie Gorens kaum die Anschlussfähigkeit über ihr engeres Thema hinaus. Doch wäre diese in vielerlei Hinsicht vorhanden. Das betrifft zum Beispiel Aspekte der neueren Nationalismusforschung (Benedict Anderson u. a.) und ihren Blick für die Kartografie als ein (proto-)nationales Instrument. Hier wäre vieles über die historische, vor allem biblische Geografie sowie Archäologie zu sagen. Ihre Produkte – Karten und andere Texte – ließen gerade das Land des Altertums, insbesondere eben das biblische Palästina hervortreten. Dies ließe sich als Ausdruck eines christlichen Zionismus beschreiben und, ob als solche intendiert oder nicht, territorialisierende Dienstleistung an den jüdischen Zionismus werten. Dann würde die fraglos eher untergründige politische Dimension der Palästinaforschung hervortreten, bei der es bei allen ihren Schattierungen und Motivationen immer auch um Land und Orte, um historisch-geografisches „Wiederfinden“, um die Konstruktion eines „Länderindividuums“, um Benennungen und Namen geht. Allerdings ist dies nicht die grundlegende Fragestellung Gorens. Ihm geht es nicht um die Topografie „Palästinas“, also die wissenschaftliche Produktion des „wiederentdeckten“ Landes4, sondern um die Topografie der deutschen Palästinaforschung.

Goren ist wenig geneigt, sich mit Edward Saids Polemik Orientalism (1979) auseinander zu setzen. Dies ist durchaus wohltuend. Zu oft ist der pauschale Vorwurf nur zu begierig, aber unkritisch übernommen worden, jegliche westliche, vor allem wissenschaftliche Beschäftigung mit dem (Vorderen) Orient sei auf dessen imperialistische Beherrschung ausgerichtet gewesen. Wenn Goren aber Said nun doch zitiert und erwähnt, dass dieser keine Kenntnis von der deutschen Orientalistik genommen habe (S. 167-169), dann hätte es sich zumindest im Rahmen dieses Kapitels über die Orientalisten unter den deutschen Palästinaforschern angeboten, Saids Thesen ausführlicher zu diskutieren. Als theoretischen Rahmen bietet Goren hingegen an mehreren Stellen den Abgleich seines Gegenstandes mit George Basallas dreistufigem Modell „The Spread of Western Science“ über das Vordringen der Wissenschaft in ein „nichtwissenschaftliches“ Land an.

Angesichts von Nahostkonflikt und Orientalismus-Debatte mag es geradezu ungewöhnlich erscheinen, einen solch „apolitischen“ (so Moshe Zuckermann im Vorwort) Zugang zu einem Thema gewählt zu haben, das mit der Geschichte eines derart umkämpften Landes in Verbindung steht. Gerade so kommt aber ein faszinierendes Stück deutscher Wissenschaftsgeschichte in sachlicher Weise zur Geltung.

Anmerkungen:
1 Fischer, Theobald, Palästina. Eine länderkundliche Studie, in: Ders., Mittelmeerbilder. Gesammelte Abhandlungen zur Kunde der Mittelmeerländer, Leipzig 1906, S. 74–153, hier S. 77.
2 Ebd., S. 74, 89f.
3 Ben-Arieh, Yehoshua, The Rediscovery of the Holy Land in the Nineteenth Century, Jerusalem 1979.
4 Der vielschichtige Korpus der Palästinawissenschaft bietet Stoff für gänzlich unterschiedliche Zugänge. Vgl. hierzu: Kirchhoff, Markus, Konvergierende Topographien. Protestantische Palästinakunde, Wissenschaft des Judentums und Zionismus um 1900, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2003).