Ch. Greiner u.a.: Die NATO als Militärallianz

Cover
Titel
Die NATO als Militärallianz. Strategie, Organisation und nukleare Kontrolle im Bündnis 1949-1959


Autor(en)
Greiner, Christian; Maier, Klaus A.; Rebhan, Heinz
Reihe
Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956 4
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reiner Pommerin, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Technische Universität Dresden

Für die Historiker, die sich mit dem Bereich der Internationalen Geschichte befassen, ist zunächst auf die Gesamtreihe des MGFA zu verweisen. Anders als vielleicht zu vermuten, wird in dieser Reihe die Geschichte der NATO nämlich nicht aus dem bloßen nationalen deutschen Blickwinkel betrachtet. Vielmehr suchen alle sechs bisher erschienenen Bände eine Art Geschichte der NATO aus übernationaler oder, wenn man so will, aus internationaler Sicht zu erstellen. Dies gelingt wahrscheinlich deshalb so überzeugend, weil alle Autoren wirklich kompetente und ausgewiesene Profis auf ihrem Gebiet sind und seit vielen Jahren einschlägige Forschungserfahrungen und entsprechende Veröffentlichungen vorzuweisen haben.

Im vorliegenden Band widmet sich Christian Greiner zunächst der Entwicklung der Bündnisstrategie von 1949 bis 1958. Deutlich wird in Erinnerung gebracht, wie eine Verteidigung Westeuropas vor einer angreifenden Sowjetunion zunächst als fast unmöglich erschien, zumal die USA anfangs wenig Bereitschaft zu einem größeren Engagement in Europa zeigten. Später wird dann die Rheingrenze als mögliche Verteidigungslinie und schließlich eine Vorwärtsverteidigung so weit ostwärts als möglich geplant, die allerdings erst nach dem Eintritt der Bundesrepublik eine realistischere Verwirklichung erhielt. Mit dem „New Look“ und der MC 48 wurde die Strategie nuklear. Die Schwert- Schild-Konzeption im Rahmen einer „massive retaliation“ wurde zur einzigen Antwort selbst auf lokale oder regionale Konflikte. Das Gebiet des neuen Partners Bundesrepublik, der weder an der Zielfindung beteiligt wurde noch überhaupt annähernd Vorstellungen von der Wirkung nuklearer Waffen besaß, geriet mit der MC 70 ab 1958 endgültig zum möglichen nuklearen Kriegsschauplatz.

Heinz Rebhahn schildert sodann den Aufbau des militärischen Instruments der NATO. Ohne die finanzielle und materielle Hilfe der transatlantischen Partner USA und Kanada, von der auch Frankreich in hohem Maß profitierte, wäre die Schaffung des militärischen Potenzials unmöglich gewesen. Dennoch blieben die auf der Konferenz von Lissabon vereinbarten Truppenstärken für eine konventionelle Verteidigung Westeuropas immer weit hinter der Realität zurück. So wurde ein Einsatz von nuklearen Waffen, vor allem nach ihrer Miniaturisierung auf geringere yields und ihren dadurch möglich werdenden Einsatz auf dem Gefechtsfeld, bald als Lösung des mangelnden Stärkeproblems angesehen. Taktische Nuklearwaffen schienen die „billigere“ Lösung gegenüber dem kostenintensiven Bereitstellen von konventionellen Truppen und Waffen. Doch schon bald mussten alle militärischen Planer in der Allianz erkennen, dass weniger die Verteidigung, die ja eine völlige und anhaltende Zerstörung des zu verteidigenden Gebiets implizierte, als vielmehr die Abschreckung, das Abhalten von UdSSR und Warschauer Pakt von einem Angriff, die wahre Einsatzmöglichkeit nuklearer Waffen darstellte.

Entscheidend blieb aus der Sicht der europäischen Verbündeten allerdings die Frage, ob sich die USA im Fall eines Angriffs auf Westeuropa auch zu einem Einsatz nuklearer Waffen durchringen würden. Klaus A. Maier stellt mit der ihm eigenen herausragenden Kompetenz das Problem der Kontrolle der amerikanischen nuklearen Waffe aus der Sicht der europäischen Bündnispartner dar. Schon die Frage der Obhut, der custody über die Waffen, brachte Zündstoff und dies galt erst recht über die Frage der Predelegation ihres Einsatzes. Sollte der amerikanische Präsident die Entscheidung zum Nuklearkrieg untergeordneten Kommandeuren im Fall eines Angriffs überlassen? Jedenfalls für amerikanische Kommandeure wurden Predelegations-Regeln geschaffen, die bis in die Zeit Präsident Johnsons Geltung besitzen sollten. Die Mitbeteiligung der Bündnispartner an der Entscheidung zum Einsatz von Nuklearwaffen und eine ebensolche Mitbeteiligung an der Erstellung und Festlegung nuklearer Ziele bestimmte dann die 1960er-Jahre. Vor der Einführung und Umsetzung der Strategie der „flexible response“, so wird noch einmal deutlich, blieb als einzige Reaktion des Bündnisses der „overall nuclear war“. In welcher Weise der transatlantische Partner im Fall des Angriffs auf Westeuropa diese Waffen wirklich zum Einsatz gebracht hätte, vor allem nachdem sein Territorium durch Interkontinentalraketen der Sowjetunion getroffen werden konnte, muss – glücklicherweise – Spekulation bleiben. Frankreich und England hielten es jedenfalls für notwenig, auch auf eigene Nuklearwaffen zurückgreifen zu können.

Für den Zeithistoriker ist dieser Band, ja eigentlich die gesamte Reihe des MGFA, eine Pflichtlektüre, ohne die sich die politische Geschichte in Europa und der Welt in den Jahren des „Kalten Krieges“, aber auch heutige Entwicklungen gar nicht erfassen lassen. Es ist auf eine Fortsetzung der Geschichte der NATO aus übernationaler Perspektive über die 1950er-Jahre hinaus zu hoffen.

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