J. Matthäus u.a. (Hgg.): Ausbildungsziel Judenmord?

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Titel
Ausbildungsziel Judenmord?. "Weltanschauliche Erziehung" von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der "Endlösung"


Herausgeber
Matthäus, Jürgen; Kwiet, Konrad; Förster, Jürgen
Reihe
Fischer Geschichte 15016
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: S. Fischer
Anzahl Seiten
219 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carsten Dams, Dokumentations- und Forschungsstelle für Polizei- und Verwaltungsgeschichte, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW

Es herrscht wahrlich kein Mangel an Studien über den Nationalsozialismus und den Holocaust. Dennoch sind viele Aspekte ungeklärt: Neben der Frage nach den „Tätern der Shoah“1 aus den Reihen von Polizei und SS ist die Bedeutung der Indoktrination dieser Männer weitergehend unklar. An diesem Punkt setzen die vier Studien der renommierten Holocaust-Forscher Breitmann, Förster, Kwiet und Matthäus an, die unter dem Titel „Ausbildungsziel Judenmord?“ zusammengefasst wurden.2 Dem Sammelband wurde ein ausgewählter Dokumentenanhang beigegeben. Es handelt sich um 16 bisher unveröffentlichte Dokumente, die entweder vollständig oder in wesentlichen Passagen abgedruckt sind und die Beiträge ergänzen. Sie sind auch für die historisch-politische Bildungsarbeit von Interesse und verdienen Beachtung.

Im ersten Beitrag beschäftigt sich Richard Breitman mit der Bedeutung der antisemitischen Indoktrination in Himmlers Weltanschauung. Nach einem kurzen Überblick über die organisatorische Entwicklung des Schulungsapparates in der Frühphase des NS-Regimes macht Breitman die Radikalisierung der antisemitischen Rhetorik ab 1938 deutlich, die sich analog zu den geänderten Rahmenbedingungen im Umfeld der so genannten „Reichskristallnacht“ vollzog. Die hohe Bedeutung, die Himmler, Heydrich und Daluege der „weltanschaulichen Schulung“ von Polizei- und SS-Beamten beimaßen, ist unstrittig. Breitman geht auch der Frage nach, in wie weit ihre Vorgaben umgesetzt wurden. Anhand der Unterrichtsunterlagen eines SS-Sturmbannführers zeigt Breitman, dass zumindest Teile von Polizei und SS zu immer radikaleren Lösungen der „Judenfrage“ tendierten. Insgesamt wird klar, „dass weltanschauliche Schulung keine Ablenkung von der bevorstehenden Aufgabe war, sondern Teil der Vorbereitung darauf“ (S. 34).

Im zweiten und umfangreichsten Aufsatz widmet sich Matthäus der „Judenfrage“ als Schulungsthema von SS und Polizei. Er stellt den Kernpunkt des Sammelbandes dar. Matthäus macht deutlich, dass die Schulung anfangs wenig konkret hinsichtlich der Frage war, was mit den Juden geschehen solle. Der Stil der Indoktrination war meist betont nüchtern-sachlich und primitive Rhetorik à la „Stürmer“ kam selten vor. Himmler wollte keine eigenmächtigen Schläger als SS- und Polizeimänner, die aus blindem Hass handelten, sondern forderte den sachlich-kühlen Vollstrecker. Die Radikalisierung und Brutalisierung der „Judenpolitik“ ab November 1938 offenbarte jedoch eine „Kluft zwischen Schulungstheorie und Verfolgungspraxis“ (S. 57), die durch korruptes Verhalten zudem vergrößert wurde. 3 Zwar betrachtete Himmler es als „Unfug“, wenn Juden zur Demütigung der Bart abgeschnitten wurde, aber die Schulungsliteratur spornte durch ihre Inhalte die Männer aus Polizei und SS eher an. Während des Krieges wurden dann die so genannten Kameradschaftsabende immer wichtiger, wobei Himmler nicht zu Unrecht befürchtete, dass diese in Alkoholgelagen ausarteten. Allerdings dürften diese Abende, insbesondere nach Massenexekutionen, den Männern den Umgang mit ihren Taten erleichtert haben. Neben Büchern wurden auch Filme wie z.B. „Jud Süß“ als Schulungsmaterial genutzt, wobei die Verarbeitung meist den Einzelnen überlassen wurde. Begann das Morden an den Juden und anderen Zivilisten bereits im Polenfeldzug, so eskalierten die Taten im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. In den Briefen der Täter an ihre Angehörigen, in denen sie über die Taten berichteten, finden sich Versatzstücke der weltanschaulichen Schulung wieder. Nach Beginn des Mordens hatte die Schulungspraxis dann die Aufgabe, den Vernichtungskrieg zu legitimieren. Daher wurde der Schulungsaufwand verstärkt und die Indoktrination schließlich auch auf die einheimischen Schutzmannschaften aus Ukrainern und Balten ausgedehnt. Insgesamt wirkte die „weltanschauliche Schulung“ wie ein Bindemittel, die den Holocaust vor- und nachbereitete. Matthäus argumentiert auf sehr breiter Quellen- und Literaturbasis und bietet einen sehr guten Überblick über die Thematik.

Förster erweitert die vorgelegten Ergebnisse um die weltanschauliche Erziehung in der Waffen-SS. Das Führungskorps und die Mannschaften der Waffen-SS waren von heterogener Herkunft und Bildung. Aus dem Wissen über die Verschiedenartigkeit entsprang die Bedeutung, die man der Motivation und dem Korpsgeist der Männer beimaß. Im Zweiten Weltkrieg kamen Einheiten der Waffen-SS sowohl neben Wehrmachtstruppen an der Front, als auch im rückwärtigen Heeresgebiet zum Einsatz und waren unter anderem für mehrere brutale Kriegsverbrechen verantwortlich. Zwar gab es bereits 1934 erste Anweisungen über die weltanschauliche Erziehung, aber die Forderung nach dem „politischen Soldaten“ kam erst ab 1940 auf, nachdem organisatorische Änderungen die Verschmelzung von militärischer Ausbildung und politischer Indoktrination erleichterten. Inhaltlich unterschied sich die Schulung nicht von denen der Polizei und SS: Es ging um Juden, Freimaurer und Marxismus - die stereotypen NS-Feindbilder. Auch den Waffen-SS-Männern wurden Filme wie „Jud Süß“ und „Der ewige Jude“ gezeigt. Zudem wurden sie mit einschlägigen Schriften versorgt. Besonders betont wurde bei der Waffen-SS, „dass nicht der Unterricht das wichtigste Mittel der weltanschaulichen Erziehungsarbeit sei, sondern das Vorbild der Führer“ (S. 106). Wie wichtig Himmler und dem Führungskorps die politische Indoktrination war, zeigt sich an den Anstrengungen, die speziell in den Jahren ab 1942 verwendet wurden. Im Regiment Großdeutschland überwog die weltanschauliche Schulung die Waffenausbildung mit 60 zu 40 Prozent. Mit zunehmender Kriegsdauer stand zudem die Integration der nichtdeutschen Rekruten im Vordergrund der Bemühungen, um die Kampfkraft der heterogenen Truppe zu erhalten und steigern.

Im letzten Aufsatz beschäftigt sich Kwiet mit der Strafverfolgung der Täter nach 1945 und scheint das Thema des Sammelbandes zu verfehlen. Doch Kwiet behauptet mit einigem Recht, dass ein Zusammenhang zwischen den Lügen und Legenden der Nachkriegszeit und der „weltanschaulichen Erziehung“ bestand. Tatsächlich spielte dieses Thema nur eine untergeordnete Rolle in den Prozessen. Das Argument der Verhetzung wurde bisweilen als letzte Ausflucht gewählt, um die Zwangslage zu verdeutlichen, in der man sich angeblich befand. Allerdings setzte man sich dadurch der Gefahr aus, strafverschärfend niedere Beweggründe attestiert zu bekommen. Deutlich breiteren Platz nahmen die Kameradschaftsabende in den Aussagen der Männer ein, an die man sich anscheinend gerne erinnerte. Die „weltanschauliche Erziehung“ war ein Bestandteil der gestaffelten Verteidigungsstrategie, wenn auch nicht der zentrale.

Zusammen bilden die vier Beiträge und der gute Dokumentenanhang einen überschaubaren Einstieg in die Thematik, deren Erforschung noch lange nicht abgeschlossen sein dürfte.

Anmerkungen:
1 Paul, Gerhard (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2. Auflage 2003.
2 Unter diesem Titel hat Matthäus bereits einen Aufsatz veröffentlicht. Matthäus, Jürgen, Ausbildungsziel Judenmord? Zum Stellenwert der „weltanschaulichen Erziehung“ von SS und Polizei im Rahmen der „Endlösung“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8 (1999), S. 673-699.
3 Bajohr, Frank, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt am Main 2001, S. 100-136.

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