Cover
Titel
Helmut Schmidt. Vernunft und Leidenschaft. 1918-1969


Autor(en)
Soell, Hartmut
Erschienen
Anzahl Seiten
958 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fred Oldenburg, Seminar für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen, Universität zu Köln

Ende Dezember 2003 hatte der fünfte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, geradezu Konjunktur. Der aktuelle Anlass war dessen 85. Geburtstag. Kein Fernsehkanal, kein Rundfunksender blieb von der Würdigung dieses wirkungsmächtigen Politikers verschont. In Anbetracht von Schmidts Lebensleistung verwundert es nicht, dass über ihn bereits mehr als zehn Biografien erschienen waren, bevor Martin Rupps und Michael Schwelien ihre neueren, überwiegend bewundernden Darstellungen vorlegten.1 Wer jedoch eine Referenzbiografie über den ersten großen Abschnitt des Politikerlebens von Helmut Schmidt erwerben möchte, sollte den Kauf von Hartmut Soells jüngstem Werk erwägen.

1966–1969 war Soell persönlicher Mitarbeiter des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion. 1977 wurde er zum Ordentlichen Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Heidelberger Universität berufen. Zu dieser Zeit hatte Soell bereits ein biografisches Werk vorgelegt2, und 1991 folgte ein weiteres aus seiner Feder.3 Soell gehörte selbst dem Bundestag von 1980 bis 1994 an – so kennt er die behandelten Akteure aus nächster Nähe, und er verbindet dies mit einer heute nur noch selten anzutreffenden Gründlichkeit des Aktenstudiums. Allein der jetzige erste Band der Schmidt-Biografie, der nur bis 1969 reicht, umfasst auf 859 Textseiten exakt 2368 Anmerkungen. Angekündigt ist ein Folgeband, der kaum weniger opulent ausfallen dürfte. Doch schon das hier zu besprechende Buch sollten Historiker und Politologen unbedingt zur Kenntnis nehmen, denn es handelt sich um eine hervorragende Studie der Lehrjahre des späteren westdeutschen Kanzlers.

Soell beginnt mit einer Darstellung des „environment“, welches Schmidt geprägt hat: der Heimatstadt Hamburg und seiner Familie. Der kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges geborene Schmidt erlebt seine Sozialisation in der Weimarer Republik und im nationalsozialistischen Deutschland. Er wird Opfer „väterlicher Brachialpädagogik“, gemäß des salomonischen Spruches (S. 58): „Wer seine Rute schonet, der hasset seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald.“ Widerstand ist seine Sache nicht. Soell weist nach, dass Schmidt zu jenen wenigen Abkömmlingen jüdischen Glaubens gehörte (er ist nach den damaligen Kategorien „Vierteljude“), die meinten, ihre Pflicht als Soldaten für Deutschland erfüllen zu müssen. Andererseits baute Schmidt bereits seit 1937 eine zunehmende Distanz gegenüber dem NS-Staat auf. Gerade in seinem Falle wäre manifeste Auflehnung wohl für die ganze Familie tödlich gewesen.

Nach Teilnahme an der gescheiterten Ardennenoffensive und Gefangennahme wird Schmidt Ende August 1946 aus britischer Gefangenschaft entlassen. Noch im selben Jahr tritt er der SPD bei und beginnt Volkswirtschaft zu studieren, unter anderem bei Karl Schiller, der 1948 Hamburger Wirtschaftssenator wird. Nach erfolgreichem Studienabschluss wird Schmidt dessen persönlicher Referent und reist im August 1950 erstmals in die Vereinigten Staaten, wo er von der „ungeheuren Vitalität und Dynamik der Amerikaner“ (S. 220) beeindruckt ist – eine Grundeinstellung, an der er bis heute festhält.

1953, nach einigen Monaten des Vorsitzes im damals parteinahen SDS, wird der Hamburger Verkehrsexperte Schmidt über die Landesliste in den Bundestag gewählt. Dort qualifiziert er sich an der Seite seines Mentors, des fünf Jahre älteren Fritz Erler, zum Verteidigungsexperten der SPD. Er gehört zu jenen, die die Wiederbewaffungspolitik Adenauers, seines ersten Verteidigungsministers Theodor Blank und dessen Nachfolgers Franz-Josef Strauß mit schneidender Schärfe attackieren. Gleichzeitig bekräftigt er die von der SPD vertretene Position, dass die Einbindung der beiden Teile Deutschlands in die „feindlichen Militärbündnisse“ das Haupthindernis für die Wiedervereinigung Deutschlands sei. Soell schildert, wie Schmidt über Nacht zu einer Persönlichkeit von nationaler Bedeutung wird. Seine Neigung zur Überpointierung verleitet Schmidt dazu, Adenauer im März 1958 als „trottelhaften Greis“ abzuwerten, der „immer mehr Macht, Soldaten, Panzer und Atomwaffen“ fordere. Diese CDU-Politik führe dazu, dass Deutschland „eines Tages wieder in derselben Scheiße sitzen wird“. Jene Ansprache befördert Schmidt, so sieht es Soell, zum „Liebling der Partei“ (S. 302). Mit dem Paradigmenwechsel der SPD und dem Godesberger Programm wird er im Alter von 39 Jahren jüngstes Mitglied der erneuerten SPD-Führung.

1961 folgt Schmidt dem Ruf seiner Vaterstadt und wird Hamburger Innensenator. Während der unvergessenen Sturmflut von 1962 beweist er überragende organisatorische Fähigkeiten. Der „Herr der Flut“ wird von den Medien nach oben gespült und europaweit bekannt. In der „Spiegel“-Affäre von 1962 versuchen Adenauer und Strauß ihn zu demütigen: Obwohl er zuständiger Landesminister ist, wird Schmidt erst 30 Minuten vor der Besetzung der Räume der „Spiegel“-Redaktion informiert (S. 407ff.). In den Monaten nach dem Berliner Mauerbau erkennt er eine von den USA und speziell von Kennedy ausgehende Tendenz zur Personalisierung der Politik, die er mit gemischten Gefühlen analysiert (S. 470). Soells Buch erreicht dort seine größte Spannung, wo er diese Tendenz mit Schmidts persönlichen Beziehungen zu Willy Brandt verknüpft und die wachsende Entfremdung beider nachzeichnet.

Die Politik des zweiten Kabinetts Erhard – der ehemalige Wirtschaftsminister war Nachfolger Adenauers geworden – war Mitte der 1960er-Jahre auf ein totes Gleis geraten. Herbert Wehner setzt in dieser Situation auf die Bildung einer „Großen Koalition“ unter Kiesinger, während Schmidt Neuwahlen für eine „anständigere Lösung“ hält (S. 554). Doch Wehner will die Machtteilhabe der SPD als Einstieg in den Machtwechsel erzwingen, und so wird die „Proporz-Demokratie“ für drei Jahre Realität, wobei Schmidt dem Kabinett fernbleibt. Erwartungsgemäß werden die „Große Koalition“ und die bald darauf einsetzende Notstandsdebatte sowie der amerikanische Vietnam-Krieg zum Konfliktbündel, welches die Auseinandersetzungen zwischen weiten Kreisen der Studentenschaft und jungen Intellektuellen auf der einen Seite und dem „Establishment“ auf der anderen Seite anheizt. Obwohl sich Schmidt von den sich „marxistisch gebärdenden Nonkonformisten“, „Trotzkisten“ und „Kolonialrevolutionären“ anfangs distanziert, empfindet er doch eine Zeit lang „Sympathie für politisch engagierte Studenten“, meint Soell. Doch bald kritisiert Schmidt die „elitäre Arroganz“ der linken Führer, von Leuten, die Toleranz nur im Begriff „der repressiven Toleranz“ definieren und ihm „diktaturverdächtig“ scheinen (S. 649). In einem weiteren ausgezeichneten Kapitel, überschrieben „Konflikt und Integration: Von der Notstandsverfassung zur Mitbestimmung“, befasst sich Soell besonders mit der Rolle der Gewerkschaften.

Durch ihre militärische Intervention von 1968 in Prag enttäuscht die Breschnew-Führung die unter europäischen Sozialisten verbreitete Hoffnung auf einen „dritten Weg“ im sowjetischen Imperium. Nach Schmidts damaliger Analyse stärkt der Einmarsch der Sowjets vorerst die „beharrenden Kräfte in Osteuropa und den kommunistischen Konservatismus“. Die Rolle der USA in Vietnam und Frankreichs Ansprüche in Europa hätten dagegen die „Tendenz zur Schwäche des Westens vermehrt“. Offensichtlich zog Schmidt daraus die Schlussfolgerung, dass die Bundesrepublik ein vitales Interesse an der Entspannungspolitik und an Verhandlungen mit der Sowjetunion haben müsse.

Soells Biografie erinnert an die Zeit strategischer Weichenstellungen und Vorentscheidungen für Deutschland und Europa, nicht zuletzt für eine Strategie des Gleichgewichts, welches das bisher vorherrschende „containment“ unterfüttert und zugleich auch gefährdet. Abschließend formuliert Soell die diskussionsbedürftige Hypothese, Schmidt habe die Entgegensetzung von Vernunft und Leidenschaft (im Sinne Max Webers) überwunden. Das von Weber geforderte Augenmaß gehöre zu den wichtigen Eigenschaften dieses sozialdemokratischen Spitzenpolitikers.

Schmidts Wille zur Macht, sein politischer Instinkt und seine überragende Intelligenz haben ihn lange Zeit getragen und führten ihn schließlich an die Spitze der Bundesrepublik. Doch seine Entscheidung, den Kampf um Inhalte und Funktionen nicht bis zum Ende auszufechten – zum Beispiel die Frage der Zusammenlegung des Parteivorsitzes und der Kanzlerschaft in (s)einer Hand –, erwiesen sich Anfang der 1980er-Jahre für die SPD und für Schmidt selbst als verhängnisvoll. Davon wird der zweite und abschließende Teil der Biografie zweifellos berichten. Man darf ihn mit Spannung erwarten.

Anmerkungen:
1 Rupps, Martin, Helmut Schmidt. Eine politische Biographie, Stuttgart 2002; Schwelien, Michael, Helmut Schmidt, Hamburg 2003.
2 Soell, Hartmut, Fritz Erler. Eine politische Biographie, Berlin 1976.
3 Ders., Der junge Wehner – Zwischen revolutionärem Mythos und politischer Vernunft, Stuttgart 1991.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension