T. Porter u.a. (Hgg.): The Modern Social Sciences

Cover
Titel
The Modern Social Sciences.


Herausgeber
Porter, Ted; Ross, Dorothy
Reihe
The Cambridge History of Science 7
Erschienen
Anzahl Seiten
762 S.
Preis
$80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Ziemann, Department of History, University of York

Die Geschichte der Sozial- und Humanwissenschaften hat sich in den letzten beiden Dekaden zu einem eigenständigen Forschungsfeld entwickelt. Es zeichnet sich vor allem durch eine hoch entwickelte Selbstreflexivität und ein ausgeprägtes Interesse an konzeptionellen und theoretischen Fragen aus. Die Historiografie zur Entwicklung der modernen Sozialwissenschaften seit dem späten 18. Jahrhundert hat auf die zunehmende Bedeutung von deren Konzepten, Begriffen und Praktiken für die Gesellschaftsgeschichte der Moderne aufmerksam gemacht und diese als einen Prozess der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ gekennzeichnet. Der vorliegende Band vermittelt einen exzellenten Überblick über die Erträge und Perspektiven dieser Forschungen. Dabei handelt es sich keinesfalls um ein Handbuch im konventionellen Sinne, sondern vielmehr um eine Sammlung mit thesenreichen Essays, die den Interessen und Deutungsperspektiven der jeweiligen Autoren verpflichtet sind. Dabei ist kein Raum für formale oder methodische Experimente. Aber die früheren Kontroversen zwischen einer äußerlichen Entgegensetzung von „externen“ und „internen“ Faktoren der Wissenschaftsentwicklung haben alle Beiträge weit hinter sich gelassen, sondern bemühen sich vielmehr mit einem gemäßigten Konstruktivismus um eine sozialhistorische Deutung der sozialen Antriebskräfte, Organisationsformen und Folgen der Humanwissenschaften.

Es ist kaum möglich, einen detaillierten Überblick über die 43 Beiträge dieses Bandes zu geben, der sehr sinnvoll in vier Teile untergliedert ist. Der erste untersucht Themen, Objekte und Ansätze humanwissenschaftlicher Arbeit, die vor der endgültigen Ausdifferenzierung und Etablierung der modernen Disziplinen wie Soziologie und Psychologie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Szenerie geprägt haben. Dazu gehören etwa die Social Surveys des 18. und 19. Jahrhunderts mit ihrer nicht nur in England stark ausgeprägten Verbindung zur praktischen Sozialarbeit (Eileen James Yeo), der utopische Sozialismus in Frankreich und England (Antoine Picon) oder die aus Reisebeschreibungen hervorgangene Methode des Kulturvergleichs, die zur frühen Ethnografie hinführte (Harry Liebersohn). Beschreibungen von vordisziplinären Wissenschaftsfeldern stehen immer in der Gefahr, sich auf die Vorgeschichte der modernen Disziplin zu fokussieren und deren Rationalitätsannahmen und Methodenideale implizit oder explizit als Maßstab zu setzen. Die beiden Beiträge zur englischen und kontinentalen Ökonomie sind dieser Gefahr nicht immer entgangen. Anders dagegen der brillante Beitrag von Jan Goldstein zu frühen „psychologischen“ Konzepten. Angesichts des niedrigen epistemologischen Profils der Psy-Sciences kommt er gar nicht umhin, sich auch vermeintlich „irrationalen“ Ansätzen und Moden wie dem Mesmerismus oder der lange extrem einflussreichen Phrenologie zu widmen und deren Bedeutung in der Herausbildung eines noch nicht eindeutig determinierten Wissenschaftsfeldes zu würdigen.

Der zweite Teil zeichnet dann die Durchsetzung, Abgrenzung und Entwicklung der modernen Disziplinen nach. Dabei fällt notgedrungen auch einiges unter den Tisch. Dies gilt etwa für die Psychologie, bei der Mitchell G. Ash sich ganz auf die akademische Disziplin und damit auf die konkurrierenden Schulen des Behaviorismus und der Gestaltpsychologie konzentriert. Dadurch aber bleibt die universitär nur schwach verankerte Psychoanalyse gänzlich außen vor. Dies ist, angesichts dieser wohl einflussreichsten humanwissenschaftlichen Schulbildung des 20. Jahrhunderts, ein bedauerliches Manko. Theodore M. Porter zeigt auf, welche große Bedeutung die statistischen Methoden der Korrelations- und Regressionsanalyse für die Etablierung eines „reifen“ disziplinären Methodenkanons und Objektverständnisses gewonnen haben, nicht nur in der Ökonomie und Psychologie. Manche Widersprüche durchziehen diesen Abschnitt. So warnt Robert C. Bannister davor, den Einfluss des von Talcott Parsons entwickelten Strukturfunktionalismus inner- und außerhalb der Soziologie bzw. der USA zu überschätzen (S. 351). Nur wenige Seiten später erinnert Adam Kuper allerdings daran, dass niemand anders als Clifford Geertz seine frühen Jahre in Chicago damit zugebracht hat, den von Parsons entwickelten „systems course“ bei der Ausbildung von Anthropologen anzuwenden, der „Kultur“ zu einem residualen Baustein im Viererschema des strukturfunktionalen Handlungssystems degradierte (S. 367f.).

Während sich die Beiträge des zweiten und auch des vierten Teiles schwerpunktmäßig auf den angelsächsischen Sprachraum konzentrieren, behandelt der dritte Abschnitt in großer Breite globale Prozesse der Institutionalisierung und Anwendung vor allem soziologischer und ökonomischer Konzepte. Dabei gerät zum einen die Rolle sozialwissenschaftlicher Klassifizierungsschemata im Zuge der kolonialistischen und imperialistischen Expansion in das Blickfeld. Partha Chatterjee etwa erinnert an den Zensus als eine wichtige Form der Generierung von vergleichbarem Wissen über die sozialen Verhältnisse und die soziale Gliederung der Bevölkerung im britisch beherrschten Indien. Der Zensus lieferte auch das Material für die Mystifizierung der „Kasten“ zu einem statischen und soziale Mobilität ausschließenden System sozialer Ordnung, welche westliche Sozialwissenschaftler wie etwa Max Weber dann für ihre „universalhistorischen“ Analysen der indischen Gesellschaft benutzen (S. 484). Zum anderen geht es um die Rolle der Sozialwissenschaften im Spannungsfeld von westlichen Modellen und ihrer Verwendung in ganz unterschiedlichen Kontexten und regionalen oder nationalen Entwicklungspfaden. Diese Verwendung ist, jedoch keinesfalls gleichzusetzen mit einer „Modernisierung“ im Sinne der Aneignung eines universalen Modells. Vielmehr gab es gegenläufige Prozesse der intellektuellen „Decolonialization“ – für die in Afrika etwa Frantz Fanon zu nennen ist - oder der „Indigenization“ (S. 409). Als Beispiel dafür lassen sich etwa die von Bettina Gransow geschilderten Versuche zur Amalgamierung einer sinifizierten Sozialwissenschaft in China anführen, welche dort seit den 1930er-Jahren die Entwicklung geprägt haben.

Der vierte Teil widmet sich der Verwissenschaftlichung im engeren Sinne, also der Wirkungen von humanwissenschaftlichen Diskursen und Praktiken im sozialen Raum. Dabei haben sich Prozesse eingespielt, die beinahe als Selbstläufer zu bezeichnen sind, so etwa die ubiquitäre Nutzung des Random-Samples in den Meinungsumfragen von Politik und Wirtschaft (Susan Herbst) oder die Verbindung von sozialwissenschaftlicher Empirie und Statistik mit der Sozialarbeit und der Arbeit sozialer Sicherungssysteme (Ellen Fitzpatrick). Es zeigen sich aber auch Beispiele für Forschungsprogramme, deren Wirksamkeit an einem bestimmten Punkt an Grenzen gestoßen ist, wie das der Modernisierungsforschung, die an ihren Entstehungskontext im Kalten Krieg gefesselt blieb (Michael E. Latham), oder deren Spuren heute kaum noch richtig zugeordnet werden können, wie im Fall des von Franz Boas entwickelten Kulturrelativismus (David A. Hollinger). Mit der Erziehungswissenschaft schildert Julie A. Reuben einen Ansatz, der in den USA seit Dewey wie kaum ein anderer die Reformhoffnungen der Progressive Era zu verkörpern schien, seit Mitte der 1970er- Jahre aber an die Peripherie der Humanwissenschaften abgedrängt wurde, bis die University of Chicago 1997 schließlich ihr Department of Education mit der Begründung schloss, es genüge nicht den Standards der anderen Sozialwissenschaften. Die “Verwissenschaftlichung des Sozialen”, das machen die durchweg exzellenten Beiträge dieses Abschnittes deutlich, war kein säkularer, unaufhaltsamer Prozess, sondern kannte Brüche, Sackgassen und Grenzen.

Ein Band wie der vorliegende, der auf allerhöchstem Niveau ein umfassendes Panorama der Humanwissenschaften seit dem späten 18. Jahrhundert bietet, erzeugt beim Leser das Bedürfnis nach Orientierung und Systematisierung. Dafür sei auf den brillanten Beitrag von Peter Wagner über “The Uses of the Social Sciences” verwiesen, der nebenbei ein bedenkenswertes Viererschema zur Differenzierung humanwissenschaftlicher Konzeptualisierungen menschlichen Sozialverhaltens vorschlägt (S. 538). Die beiden ersten verwiesen auf die soziale Lagerung und Verortung der Menschen, zum einen in der Form der Kulturtheorien, die gemeinsame Wertorientierungen, zum anderen in Form soziologischer Konzepte, die kollektive Interessen und damit Stratifikation zur Erklärung des Handelns betonen. In Opposition gegen diese beiden Modelle hat sich der “rational choice”-Ansatz entwickelt, der das Augenmerk auf die Modellierung eines rational kalkulierenden Individuums richtet. Schließlich richtet der statistisch-behavioristische Ansatz sein Interesse darauf, Regelmäßigkeiten des Verhaltens zu zählen und kategorisieren, und kann mit allen anderen beliebig kombiniert werden. Wagner weist dabei zu Recht darauf hin, dass alle vier Modelle in den anwendungsorientierten Sozialwissenschaften gleichermaßen verwendet wurden und immer noch werden.

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