N. Lübbren; D. Crouch (Hg.): Visual culture and tourism

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Titel
Visual culture and tourism.


Herausgeber
Lübbren, Nina; Crouch, David
Erschienen
Oxford, New York 2003: Berg Publishers
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Pagenstecher, Berlin

Die Herausbildung des Tourismus im 19. Jahrhundert beruhte nicht zuletzt auf der wachsenden Bedeutung des visuellen Konsums. Fast gleichzeitig veranstaltete Thomas Cook die erste Pauschalreise (1841), brachte Karl Baedeker seinen ersten eigenen Reise-führer heraus (1842) und erfanden Daguerre (1839) und Talbot (1841) die Fotografie. Orte wurden zu Sehenswürdigkeiten, ‚Sites’ zu ‚Sights’, als sie nicht mehr benutzt, sondern betrachtet wurden. Aus Natur wurde ‚Landschaft’; die Alpen waren nicht mehr unbequemes Verkehrshindernis, sondern pittoresker Anziehungspunkt. Der Tourist unterschied sich vom Pilger dadurch, dass er die Kirche betrachtete, ohne zu beten.

In der sich zunehmend etablierenden Tourismusforschung betonte vor allem John Urry die enge Verbindung zwischen Tourismus und visueller Wahrnehmung. Obwohl sein Buch über den „Tourist Gaze“ sehr einflussreich war, wissen wir noch wenig über die Wahrnehmungsmuster der Reisenden. Auf der empirischen Ebene bereitet der Gebrauch von Bildquellen erhebliche Probleme; trotz einiger interessanter Ansätze fehlen noch ausgefeilte Methoden und Techniken einer Visual History. Das mangelnde akademische Interesse an der Bildanalyse ist noch auffälliger, wenn es um nicht-professionelle und nicht-publizierte Fotografien wie etwa private Urlaubsbilder geht. Die Kulturwissenschaften dagegen interessieren sich vor allem seit dem so genannten Iconic Turn in den 1990er-Jahren stärker für das Visuelle. Mit semiotischen, ikonologischen und anthropologischen Ansätzen werden Bilder und Wahrnehmungsmuster erforscht. Wenig Aufmerksamkeit wurde aber der Verbindung zwischen Tourismus und visueller Kultur zuteil.

Der Tourismusgeograf David Crouch und die Kunsthistorikerin Nina Lübbren wollen diese Lücke nun füllen. Die beiden in England tätigen Herausgeber haben 15 Beiträge vor allem aus Großbritannien, aber auch aus Finnland, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten zusammen getragen. GeografInnen, KunsthistorikerInnen und AnthropologInnen analysieren anhand verschiedener Fallstudien die Wechselwirkungen zwischen visueller Kultur und Tourismus und die Bedeutung visueller Praktiken und Repräsentationen in touristischen Ritualen und Erfahrungen.

In ihrer Einführung stellen die Herausgeber ihre unterschiedlichen Perspektiven als Kunsthistorikerin und Geograf bewusst nebeneinander. Beide betonen jedoch übereinstimmend einerseits die Macht der Zeichen, mit denen die Künstler oder die Tourismusindustrie bestimmte Images vorstrukturieren, andererseits aber auch die komplexen Mechanismen der individuellen touristischen Wahrnehmung. Crouch nennt dies „flirting with visual culture rather than being merely seduced by it” (S. 12). Die Beiträge sind in zwei Hauptteile gegliedert: Der Abschnitt „Sites and Images” untersucht die Images, die die touristische Erfahrung vorprägen, der Abschnitt „Practices and Encounters” analysiert unterschiedliche Wege, wie mit diesen Vorgaben umgegangen wird.

Annelies Moors untersucht die Darstellung palästinensischer Frauen und ihrer Traditionen auf palästinensischen und israelischen Ansichtskarten. Die vermeintlich harmlose touristische Bilderwelt der Postkarten ist tatsächlich stark politisch aufgeladen, wenngleich die jeweilige Bedeutung je nach Zielgruppe differiert. Ähnliche Prozesse des „Framing“ findet Deborah Cherry bei kolonialen Bildern von Algerien: Spezielle visuelle Techniken wurden genutzt, um die Immobilität und Rückständigkeit des Orients zu zeigen. Auch andere Artikel konzentrieren sich auf das 19. Jahrhundert; sie untersuchen etwa die optische Sakralisierung des französischen Maler-Bauern Jean-François Millet oder die Geschäftspraktiken örtlicher Fotostudios in verschiedenen britischen Tourismuszielen.

Mehrere Kapitel betonen die lange andauernden Einflüsse von bildprägenden Vorläufern auf die heutigen touristischen Images. Nina Lübbren erkennt bei Strand- und Küstenmotiven in der Malerei um 1900 eine Mediterranisierung, einen Paradigmenwechsel von Nord zu Süd, „from grey to sunny mode” (S. 139). Die meisten Fotos von Machu Picchu in Peru (nicht in Mexiko, wie auf Seite 14 geschrieben) widerspiegeln immer noch das vom Entdecker geprägte Bild des „lost place” (S. 164). Vor allem die Maler haben den touristischen Blick über Jahrzehnte hinweg geprägt und fungierten so als „drivers of the tour bus“, wie Peter Howard schreibt (S. 109).

Seine methodisch inspirierende quantitative Inhaltsanalyse der Landschaftsbilder bei den jährlichen Kunstausstellungen der Londoner Royal Academy zeichnet wechselnde Präferenzen für verschiedene europäische Regionen über zwei Jahrhunderte nach. Besonders stellt er heraus, wie sich der feststehende Bildtypus des „Mediterranean Coast View” etabliert und dann allmählich ausbreitet – vom Golf von Neapel im 19. Jahrhundert zur Costa del Sol am Ende des 20. Jahrhunderts (S. 114). Er beweist, wie nützlich quantitative Ansätze dann sind, wenn ein relativ homogener und zusammenhängender Bestand visueller Quellen über einen langen Zeitraum hinweg zur Verfügung steht.

Griselda Pollock geht einen besonders schwierigen Gegenstand an: Holocaust-Tourismus nach Auschwitz. Sie untersucht aber nicht das Verhalten von TouristInnen in Gedenkstätten, sondern beschränkt sich – in einer manchmal allzu metaphorischen Sprache – auf die Analyse von filmischen Porträts von Überlebenden, die an diesen Schreckensort zurückkehren. Ein viel ‚leichteres’ Themas erforscht Doug Sandle: Wie stellen sich TouristInnen selbst in ihren fotografierten Urlaubserinnerungen als “the holiday other” (S. 194) dar? Seine Quelle sind die Bilder eines örtlichen Fotostudios auf der Isle of Man, das in den 1950er und 1960er Jahren ein inszeniertes ‚Bar’-Ambiente als Hintergrund für lustig inszenierte Urlaubsfotos anbot. Anhand der Schnappschüsse ihrer Eltern nähern sich Eeva Jokinen and Soile Veijola auf fast autobiografische Weise der Analyse von „cultural landscapes“ (S. 259). Auf verschiedenen Bildern eines bekannten finnischen Berges konfrontieren sie den herrschenden, männlichen und nationalistischen Blick von oben mit dem altmodischen und abergläubischen Blick von unten.

Zu den Verdiensten des Sammelbandes gehört sein breiter interdisziplinärer Rahmen: Er zeigt die große Vielfalt möglicher Forschungsfragen und Herangehensweisen an Tourismus und visuelle Kultur. Obwohl überwiegend aus einer britischen Perspektive geschrieben, geben die – eine Periode von mehr als zwei Jahrhunderten umfassenden – Beiträge viele inspirierende Einsichten auf den europäischen und außereuropäischen Tourismus und können so den hierzulande häufig auf Deutschland eingeschränkten Blick erweitern. Auf der theoretischen Ebene stützen sich viele Artikel auf John Urrys ‚Tourist Gaze’, ohne ihn jedoch explizit zu diskutieren. Die unterschiedlichen, teilweise recht persönlichen Ansätze zeichnen ein sehr lebendiges Bild; die empirische Verifizierung der Theorien über die visuelle Kultur bleibt jedoch schwierig. Die KunsthistorikerInnen beschränken sich meist auf die Kunst selbst und vernachlässigen ihre Einflüsse auf den Tourismus; die Tourismusforschung weiß zwar um die Wichtigkeit der visuellen Kultur, verfügt aber häufig nicht über das Werkzeug zur Analyse des visuellen Materials. Noch brauchen wir mehr empirische Studien über die komplexen Mechanismen der Konstruktion des touristischen Blicks. Als Quellenmaterial dafür kämen nicht nur Malerei, Tourismuswerbung oder Reiseführer in Frage, sondern auch private Urlaubsschnappschüsse, Interviews oder die Ergebnisse einer teilnehmenden Beobachtung. Freilich wird es stets leichter sein, sorgfältig inszenierte Kunstwerke oder die zweckorientiert produzierten Bilder der professionellen Tourismuswerbung zu analysieren als die privaten und häufig unbewussten Wahrnehmungsmuster individueller TouristInnen.

Das Buch vermeidet zu Recht die voreilige Beantwortung von Fragen, die noch eine weitere Debatte erfordern. Stattdessen betont es bewusst die bestehenden theoretischen Gegensätze und methodischen Unterschiede, die die Diskussion befruchten und neue Studien anregen können. Zu Recht ist auch der Titel des Sammelbands gewählt: Er behandelt die visuelle Kultur und den Tourismus, weniger aber die visuelle Kultur des Tourismus.

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