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Titel
Judentum und Historismus. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa


Herausgeber
Wyrwa, Ulrich
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Campus Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Jehle, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Zu den Ergebnissen der Beschäftigung mit der "Wissenschaft des Judentums" gehört, dass bereits das 19. und frühe 20. Jahrhundert in Deutschland eine Blüte der deutsch-jüdischen Geschichtswissenschaft hervorgebracht haben, deren Ergebnisse Bestandteile einer modernen Geschichte der Juden geblieben sind. Wenig bekannt ist aber, inwiefern die deutsche Beschäftigung mit diesen Themen im 19. und 20. Jahrhundert Parallelen in Europa und den Vereinigten Staaten gehabt hat. Ulrich Wyrwa, durch seine Arbeiten zur Geschichte der Juden in Deutschland und Italien seit langem ausgewiesen, hat der Geschichte der jüdischen Geschichtsschreibung in Europa nun einen Sammelband gewidmet.

In seinem einleitenden Beitrag umreißt Wyrwa die Anfänge im 17. und 18. Jahrhundert. Aus der Erfahrung der christlichen Religionskonflikte, besonders seit der Aufhebung der Toleranz in Frankreich 1685, entstand ein Interesse an Religionsgeschichte, das auch das Judentum einschloss. Die europäischen Perspektiven beschreibt Wyrwa an den liberalen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, denen die Geschichte der Juden eine Geschichte der Menschenrechte und politischen Freiheiten gewesen ist. Auch der Historiker der deutschen Juden Heinrich Graetz stellte seine Geschichte der Juden in den europäischen Kontext, wie umgekehrt sein Werk in mehrere europäische Sprachen übersetzt und in Europa rezipiert wurde. Die europäische Perspektive bestimmte das Werk von Simon Dubnow oder von Hermann Loevinson, der zur italienischen Geschichte und zur Geschichte der Juden in Italien arbeitete. Beide, Dubnow und Loevinson, wurden von den Deutschen ermordet, beide waren Vertreter des europäischen Geistes, der zu dieser Zeit von jüdischen Intellektuellen bewahrt wurde.

Jacques Ehrenfreund stellt die Entstehung einer deutsch-jüdischen Wissenschaft im deutschen Kaiserreich in das Spannungsfeld von Historismus und Nation. Die historische Zunft kümmerte sich nicht um die Geschichte der Juden, sie war als Geschichte einer Minderheit zu vernachlässigen. Dabei lassen die Ausfälle Treitschkes gegen Graetz die Beunruhigung darüber ahnen, dass der Geschichte der Juden für die Geschichte der Deutschen eben doch Bedeutung zukam. Die großen Entwürfe, wie die Zunft sie lieferte, waren freilich die Sache der jüdischen Historiker nicht, wenn auch hier zwischen Arbeiten mit universeller Dimension und solchen mit national-jüdischen Aspekten zu unterscheiden sei. Die Lokalgeschichte hatte europaweit in der Geschichte der Juden große Bedeutung, dazu in der mittelalterlichen vor allem die Geschichte der Kreuzzüge.

Die von Mitchell B. Hart vorgestellte englische Geschichtsschreibung zeigt wie andere westeuropäische Beispiele die Beeinflussung durch die deutsche Wissenschaft des Judentums. Ein ernsthaftes Interesse an der Geschichte der Juden brachte erst die Beunruhigung über den Abriss der Bevis Marks Synagoge 1886 hervor. Eine Ausstellung über das britische Judentum und die Errichtung der Anglo Jewish Historical Society machten das Forschungsinteresse deutlich. Stärker als in Deutschland wurde die englisch-jüdische Geschichte als integrativer Prozess gesehen, weil die Erfolgsgeschichte des englischen Kapitalismus ohne Juden nicht zu verstehen war. Diese Darstellung richtete sich auch gegen neue rassistische und nationalistische Tendenzen der englischen Historiografie. Dagegen wurde, ähnlich den deutschen Versuchen bei der Abwehr des Antisemitismus, eine gemeinsame anglo-jüdische Fortschrittsgeschichte hervorgehoben.

Perrine Simon-Nahum beschreibt die Resonanz, auf die in Frankreich das Werk von Moses Mendelssohn, aber auch das Wilhelm Dohms, gestoßen ist. Hier entstand vor der Revolution eine Debatte über "bürgerliche Verbesserung", an der sich jüdische Intellektuelle beteiligten. Der frühen bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden folgte 1831 das Gesetz über die Gleichstellung der Religionsgemeinschaften. Die "Einzigartigkeit dieses historischen Moments", der die Juden definitiv zu Franzosen machte, wurde den Zeitgenossen sogleich klar. Eine integrative Darstellung von französischer und jüdischer Geschichte schien umso selbstverständlicher. Mit dem Beginn des Antisemitismus wuchs die Beschäftigung mit Zeiten der Verfolgungen der Juden und leitete ein Verständnis von der Autonomie jüdischer Kultur ein. Der Antisemitismus förderte aber auch die Integration der Juden in den Wissenschaftsbetrieb der Universitäten, weil die Erfahrungen der Gefährdung der Republik - und dazu zählte die Dreyfus-Affäre - die Republikaner aller Lager zusammenführten.

Ähnlich wie in Frankreich ließ eine von der Emanzipation und Integration inspirierte Geschichtsschreibung in Italien die Juden als historisches Subjekt verschwinden. Gadi Luzzatto-Voghera beschreibt als Gegenstand der Geschichtsschreibung der Juden, die erst nach der Einigung Italiens einsetzte, einerseits die jüdische Nation, soweit es die Antike betraf, andererseits die Lokalgeschichte jüdischer Gemeinden. Vor der nationalen Einigung spielten historische Studien über das italienische Judentum fast keine Rolle.

François Guesnet stellt die Entstehung einer Geschichtsschreibung der Juden in Polen in den Zusammenhang der polnischen Unabhängigkeitsbewegung, an der Juden immer Anteil hatten. Der erste polnisch-jüdische Historiker war Louis Ozeas Lubliner, der 1830 nach Brüssel emigrierte, wo er 1837 "Les Juifs en Pologne" veröffentlichte. Kraushar und Sternberg brachten das Recht Polens als Nation und die Rechte der Juden auf Menschenwürde und Bürgerrecht in Verbindung, Gumplowicz und Nusbaum betonten die Toleranz des polnischen Rechts gegenüber den Juden. Selbst als die Zionisten und die jüdische Arbeiterwegung eine autonome jüdische Kultur darzustellen begannen, wurde der Zusammenhang mit der polnischen Rzeczpospolita nicht aufgegeben. Daneben entwickelte sich eine Geschichtsschreibung, die nach innen gerichtet war und mit der deutsch-jüdischen Gemeinsamkeiten hatte. Biografien mit hagiografischem Charakter beschrieben die Ansprüche von Familien auf Rabbinerwürden. Bei aller Sympathie für die polnische Adelsrepublik stellten sie eine autonom handelnde Judenheit dar.

Neben den Beiträgen, die die Entstehung von "nationalen" Modellen jüdischer Geschichte beschreiben, folgen Aufsätze zu allgemeinen Aspekten des historischen Denkens. Christhard Hoffmann stellt als den "inhaltlichen Kern jüdisch-bürgerlicher Geschichtsauffassung" das Paradigma von Emanzipation und Akkulturation dar, das nicht die Selbstaufgabe zum Ziel gehabt habe. "Verbürgerlichung" prägte jüdisches Selbstverständnis, das früh in der Moderne ankam.

Andreas Gotzmann stellt die Veränderung von Rabbinat und Rabbinerausbildung in der Auseinandersetzung um die jüdische Existenz im bürgerlichen Staat dar. Auch hier rückte ein modernes Geschichtsverständnis ins "Zentrum der kulturellen Deutungsmodelle". Alle Teile des religiösen Spektrums nahmen eine historische Dimension als "selbstverständlichen Bestandteil auch des religiösen Denkens, ungeachtet der paradoxen Theologie des Stillstands in der Veränderung auf Seiten der Orthodoxie". Am Streit zwischen den Anhängern Tiktins und Geigers in Breslau stellt Gotzmann die Diskrepanz alter und neuer Konzepte und den dynamischen Wandel normativer Strukturen dar.

Gabriele von Glasenapp stellt den jüdisch-historischen Roman vor, der seit den 1830er-Jahren ein großes Publikum erreichte. Berthold Auerbach wurde mit den Schwarzwälder Dorfgeschichten zum "Begründer eines neuen als spezifisch deutsch geltenden Genres", beschäftigte sich aber in anderen Werken auch mit antijüdischen Stereotypen. Bedeutung für jüdisch-historische Erzählungen hatten später Ludwig und Phoebus Philippson. Ludwig Philippson verdankt seine Bekanntheit allerdings nicht literarischen Versuchen. Als Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judentums steht er für eine bürgerlich selbstbewußte, religiös jedoch nicht indifferente Publikationskultur des 19. Jahrhunderts.

Miriam Gebhardt zeigt Versuche individueller Erinnerung von Vergangenheit an typologisierbaren Exempeln. 1889 wurde in der Allgemeinen Zeitung des Judentums vorgeschlagen, den Geschichtsunterricht als Familiengeschichte zu konzipieren. Die Abwehr des Antisemitismus war ein Thema auch dieser literarischen Gattung. Die größte und nachhaltigste Wirkung in der populären Darstellung jüdischen Lebens hatten aber nicht literarische Versuche, sondern Moritz Oppenheim mit seinen Bildern aus dem jüdischen Familienleben. Seine Darstellungen brachten eine Schilderung des vergangenen Unzeitgemäßen, das den Nerv und die Sehnsucht seines Publikums traf.

Der von Ulrich Wyrwa herausgegebene Sammelband soll eine erste Bestandsaufnahme zur jüdischen Geschichtsschreibung in Europa sein, ohne den Anspruch, bereits eine vergleichende Darstellung der europäisch-jüdischen Geschichtsschreibung vorzulegen, wie der Herausgeber in seinem Nachwort bescheiden schreibt. Dennoch wird die Bedeutung, die das historische Denken für die Juden ganz Europas im 19. Jahrhundert bekam, und zugleich die europäische Dimension der jüdischen Geschichtsschreibung in diesem Band eindrucksvoll deutlich.

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