R. Tilly: Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte

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Titel
Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte.


Autor(en)
Tilly, Richard
Reihe
Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte 4
Erschienen
Stuttgart 2003: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhold Schulze-Tammena, Educational Department, Goethe-Institut London

Um die Finanzgeschichte ist es im deutschsprachigen Raum nach verheißungsvollen Ansätzen in den 1980er-Jahren eher still geworden. Eine Ausnahme stellt die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der Rolle deutscher Großbanken bei der so gennannten „Arisierung“ jüdischer Unternehmen dar. Deshalb ist es an sich zu begrüßen, dass mit Richard Tilly ein gestandener Wirtschaftshistoriker die Rolle von „Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte“ im 19. und 20. Jahrhundert in Grundzügen darlegt. Im Rahmen dieser historischen Vergleichsstudie werden die geldpolitischen und kreditwirtschaftlichen Traditionen und Entwicklungen in England, Deutschland und den USA dargestellt und miteinander in Beziehung gesetzt.

Im ersten Hauptteil seiner Studie führt Richard Tilly zunächst in die verschiedenen Begriffsdefinitionen und Theorieansätze ein, die sich mit den elementaren volkswirtschaftlichen Kategorien „Geld“ und „Kredit“ auseinandersetzen.

Geld, das leuchtet ein, besitzt „gewisse physische Eigenschaften, wie leichte Transportfähigkeit, Teilbarkeit und Haltbarkeit“ (S. 10). Aber abweichend von der davon üblicherweise abgeleiteten Funktionstheorie (Geld als Tausch-, Rechen-, Wertaufbewahrungsmittel) orientiert sich Richard Tilly in seiner Studie stärker an einem Ordnungsschema, das Buchungsordnung und Wertordnung unterscheidet (S. 11).

Das entspricht der Logik seines Ansatzes. Denn im Zentrum seiner Studie stehen die Akteure des Geldsystems und die Institutionen der Kreditwirtschaft: Zentralnotenbanken, Geschäftsbanken, Universalbanken, Investmentbanken und andere Wirtschaftssubjekte (S. 15f.). Unter diesen muss, das betont Tilly, ein „Mindestmaß an Übereinstimmung“ und „Vertrauen“ herrschen, damit Geld und Kredit als längerfristig wirksame Tausch- und Transaktionsmedien akzeptiert werden.

Von dem durch allgemein anerkannte Spielregeln institutionalisierten Vertrauen und den wirtschaftlichen Präferenzen der Akteure hängt mittelbar auch der Umfang der Geldmenge ab, die nach der heute üblichen weiteren Definition Stückgeld, Buchgeld und Kreditgeld umfasst und deren Schwanken einen erheblichen Einfluss auf die Preisbildung und das Investitionsverhalten der Wirtschaftsakteure hat (S. 13-15).

Nach der Klärung einschlägiger Begriffe wendet sich Richard Tilly verschiedenen Theorieansätzen, insbesondere der Quantitätstheorie und Institutionenökonomie zu, die ihm für die historische Auseinandersetzung mit der Thematik besonders geeignet erscheinen. Die Quantitätstheorie (S. 19-27) stellt beispielsweise Modelle und Formeln bereit für die Analyse komplexer Wechselwirkungen zwischen Geldpolitik, Preisniveau und Gesamtwirtschaftsentwicklung. Die Institutionenökonomie (S. 27-30) hingegen schärft den Blick für Transaktionskosten, die durch Informationsasymmetrien entstehen z.B. der Aufwand, den ein Kreditgeber betreiben muss, um zwischen hochproduktiven und risikoreichen Investitionsprojekten zu unterscheiden (S. 28). Banken sind zunächst deswegen zu zentralen „Akteuren im Geldsystem“ und zu den wichtigsten „Institutionen der Kreditwirtschaft“ geworden, weil sie spezialisierte Informationen von „anlagesuchenden Ersparnissen“ und Wissen über geeignete Investitionsprojekte bündeln und strukturieren konnten.

So erhellend einzelne Passagen des ersten Teils sind, es gelingt Tilly leider nicht immer die Darlegung von Theorieansätzen, Kernbegriffen und Quellengattungen, die für die historische Auseinandersetzung mit Geld und Kredit relevant sind, systematisch scharf genug zu trennen. Warum figurieren Quellengattungen wie „Firmenfestschriften und Unternehmerbiographien“ auf derselben Ebene wie wissenschaftliche Monografien, die bestimmten Theorieansätzen verpflichtet sind? Auch die Bezeichnung anderer wissenschaftlicher Arbeiten zum Thema Geld und Kredit als „Historiographische Vorarbeiten“ klingt etwas zu selbstbewusst, zumal bereits in der Einleitung vorsichtig eingeräumt wird, dass die Kategorisierung dieser Arbeiten angreifbar sei (S. 35). Hätte unter den „Vorarbeiten“ des 19. Jahrhunderts nicht auch Georg Simmels „Philosophie des Geldes“ zumindest in einer Fußnote erwähnt werden müssen?

Nach dem Theorieteil folgt der Darstellungsteil „Geld- und Kreditwirtschaftliche Entwicklungen bis 1914“. Eine Voraussetzung für die zunehmende Expansion und Internationalisierung der Geld– und Kreditmärkte stellen nach Richard Tillys Verständnis die „Finanzrevolutionen“ (S. 44-54) dar: 1688 in England, 1776-1787 in den USA und in Preußen 1806/10 bzw. 1850. Richard Tilly deutet sämtliche bürgerliche Revolutionen aus finanzwissenschaftlicher Perspektive als einen Vorgang, der teilweise oder vollständig zur „Bindung der Ausgaben-, Besteuerungs- und Verschuldungsrechte des Staates an die Zustimmung einer von Vermögensbesitzern dominierten Volksvertretung“ (S. 44) führt.

Richard Tilly sieht in Großbritannien das Paradigma dieser Finanzrevolution (S. 55-84). Hier konnten „Vermögensbesitzer auf die staatliche Akzeptanz kapitalistischer Spielregeln“ vertrauen (S. 55). Es herrschte eine gewissen Geldwertstabilität, weil das Pfund Sterling zunächst auf einem Silber- dann auf dem Goldstandard beruhte (S. 56). Es existierte ein Vertrauen in die Stabilität des Geld- und Kreditmarktes seit der Gründung der Bank von England (1694), die in ihrer Zwitterrolle als Notenbank einerseits für die Regulierung der Notenemission zuständig war und als Geschäftsbank andererseits der Kreditbeschaffung des Staates diente (S. 56) und darüber hinaus teilweise als „Lender of Last Resort“ (S. 81) Krisenmanagement betreiben konnte.

Ferner wurde Londons Sonderrolle als national und international dominierender Geld- und Kapitalmarkt im Verlauf des 19. Jahrhunderts dadurch abgesichert, dass hier eine hohe Konzentration von Finanzexpertise, konkurrenzlos niedrige Geldmarktzinsen und ein weltweites finanzwirtschaftliches Netzwerk existierten (S. 71). Ungeachtet mancher Strukturprobleme und -krisen war dieser Geld- und Kreditmarkt in der Lage, ausländische Staaten z.B. in den Kriegen gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich (1790-1815) mit Krediten zu versorgen (S. 57) oder so kapitalintensive Infrastrukturprojekte wie den Eisenbahnbau seit den 1830er-Jahren zu finanzieren (S. 72). Dies verdankte sich ferner der Tatsache, dass am Londoner Finanzmarkt relativ „standardisierte, homogene Produkte gehandelt wurden“ (S. 70). In seinem Urteil über die Rolle der Bank of England bleibt Richard Tilly aber ambivalent, so dass man schließlich nicht mehr zu erkennen vermag, ob und wann er der Bank eine dominierende Sonderrolle zuweist (S. 57). Im Anschluss an das England-Kapitel untersucht Richard Tilly die Geld- und Kreditwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und den USA auf denselben vier Vergleichsebenen: 1. Geld- und Währungsordnung, 2. Geldumlauf und Geldpolitik, 3. Entwicklung des Bankensystems und 4. Krisenphänomene im Geld- und Kreditsystem. Diese Systematik ist allerdings nicht ganz in den auf einzelne Länder bezogenen Kapiteln durchgehalten.

Im deutschsprachigen Raum existierten in der nachnapoleonischen Ära sechs Währungssysteme, von denen die preußische Talerwährung die einflussreichste war (S. 86). Im Sinne seines institutionenökonomischen Ansatzes beschreibt Tilly einleuchtend die komplizierten Umrechnungsoperationen zwischen den einzelnen Währungen, die erhebliche Kosten und Reibungsverluste erzeugten. Die deutsche Währungsunion nach den Reichseinigungskriegen 1873 und die Basierung der Reichsmark auf eine Dritteldeckung durch Gold und eine Zweidritteldeckung durch „gute“ Handelswechsel schufen solide Voraussetzungen für einen deutschen Geldmarkt. Die Quantität und Qualität der Geldversorgung im Zuge der Industrialisierung wird von Richard Tilly vergleichend aus der Perspektive der eher Markt basierten Finanzaktivitäten in Großbritannien und den USA und der eher Bank orientierten Finanzierungsmethoden im deutschen Fall untersucht (S. 85).

Es ist allerdings zu fragen, ob die „schiefe“ Dichotomisierung zwischen „Markt“ und „Bank“, die Tilly noch einmal im Schlusskapitel (S. 207) aufnimmt, überzeugend ist. Wäre es nicht sinnvoller auf der Steuerungsebene die Anteile marktwirtschaftlicher bzw. staatlich regulativer Elemente gegeneinander zu stellen und auf der Institutionenebene Kapitalbeschaffung durch Banken bzw. Börsen miteinander zu vergleichen.

Der dritte Vergleichsraum sind die USA. Hier spricht Tilly im Zusammenhang mit der „Hamiltonschen Finanzrevolution“ 1791 von der „Gründung einer wahrlich nationalen Zentralnotenbank“ (S. 121). Die Funktion einer US-Zentralnotenbank war, das macht Tilly deutlich, in der Auseinandersetzung zwischen Zentrum und Bundesstaaten und später im Konflikt zwischen östlichen Gründungsstaaten und westlichen Neustaaten immer wieder strittig, sodass es bis zur Einrichtung des Federal Reserve Systems (FRS) 1913 immerhin eine fast 70-jährige Phase ohne Zentralnotenbank gab (S. 145). Obwohl Richard Tilly den Bürgerkrieg (1861-65) für eine bedeutende Zäsur der Geld- und Bankentwicklung in den USA hält (S. 128), wird die Neugier des Lesers leider nur einseitig mit dem Hinweis auf die langfristigen Maßnahmen der US-Bundesregierung befriedigt. Die geld- und finanzpolitischen Aktivitäten der Sezessionsstaaten vor, in und nach dem Bürgerkrieg werden mit keinem Wort erwähnt (vgl. S. 128, 131, 133, 137). In Gegenreaktion auf die staatliche Banken-Regulierung, die ein System zahlreicher, kleinerer Banken festigte, entwickelten sich in den USA privatwirtschaftlich organisierte, selbstregulierte Wertpapierbörsen als Finanzmärkte zur Abwicklung überregionaler Zahlungen und zur Mobilisierung von Kapital (S. 208). Die bedeutendsten Zentren des Börsenhandels stellten Philadelphia, Boston und natürlich New York dar (S. 135). An der Wall Street entwickelte sich ein dichtes Netz von Privat– und Aktienbanken, wo sich legendäre und einflussreiche Investment Banker wie JP Morgan Ende des 19. Jahrhunderts etablierten.

Der zweite Darstellungsteil, in dem sich Richard Tilly in einem nicht mehr länderspezifischen Zugriff mit den geld- und kreditwirtschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts befasst, ist insgesamt stringenter durchgeführt und flüssiger zu lesen. So strukturiert Richard Tilly seinen Gegenstand im Hinblick auf die Schocks und Kontinuitätsbrüche, denen das internationale Geld- und Banksystem in dieser Phase ausgesetzt war. Eindrücklich stellt Richard Tilly die Phase der „Lähmung“ seit dem Ersten Weltkrieg dar. Die Kriegsfinanzierung durch Steuern, Schulden, Anleihen und die Aufhebung von Deckungsvorschriften, den Aufbau von Inflationspotenzialen, und ihre Verschleierung durch staatliche Preiskontrollen, ferner die verschiedenen Strategien der Staaten zur Erhaltung ihrer Kreditwürdigkeit. Sehr instruktiv und anschaulich beschreibt Tilly die entscheidenden finanzpolitischen Folgen der Kriegsfinanzierung im Ersten Weltkrieg, welche die ehemaligen Gläubiger des internationalen Geld- und Kreditsystems Großbritannien, Frankreich und Deutschland schließlich zu Schuldnern der USA machten (S. 169). Die Weltwirtschaftskrise 1929 führt schließlich zu einer nachhaltigen „Desintegration“ der internationalen Geld- und Kreditmärkte. In der Zwischenkriegszeit sind die europäischen Staaten in ihrer Handlungsfähigkeit durch die Zwänge der öffentlichen Schuldenbewirtschaftung stark eingeschränkt.

Nach dem Zweiten Weltkriegs wird mit der Gründung des Internationalen Währungsfonds 1944 und mit den Marshallplangeldern 1947 in der westlichen Welt der Grundstein für eine Stabilisierung der internationalen Geld- und Kreditmärkte und für eine Liberalisierung des Außenhandels gelegt, in denen sich der US-Dollar als Leitwährung etabliert. Als sich im Zuge des Vietnamkriegs die Zahlungsbilanz verschlechterte, gaben die USA 1973 die Goldkonvertibilität des Dollars auf und stiegen damit aus dem System fester Wechselkurse aus. Das Ende der Bretton Woods Ära inspirierte – so deutet es Tilly - die Gründung einer Europäischen Währungsunion (S. 192).

Im Schlussteil seiner Studie betont Richard Tilly noch einmal sehr stark die Funktionalität internationaler Geld- und Kreditmärkte als zentralen Bewertungsmaßstab seiner Studie. Es bleibt allerdings zu fragen, inwieweit die Verantwortung der sie tragenden Institutionen und Personen für die teilweise auch negativen sozialen und politischen Folgen wie z.B. der Verschuldungsproblematik Teil einer wirtschaftshistorischen Darstellung und Bewertung sein müsste.

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