G. Schild: Zwischen Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat

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Titel
Zwischen Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat. Amerikanische Sozialpolitik im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Schild, Georg
Erschienen
Paderborn 2002: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
429 S.
Preis
€ 62,20
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Lammert, Zentrum für Nordamerika-Forschung (ZENAF), Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt

In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung wird der amerikanische Wohlfahrtsstaat vielfach als residualer 1, bzw. liberaler Typ 2 charakterisiert. Als wesentliches Kennzeichen eines solchen Wohlfahrtsstaates gilt dabei die Konzentration der staatlichen Sozialleistungen auf bedürftigkeitsgeprüfte Sozialprogramme, die stark an die Pflicht gekoppelt sind, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Sozialversicherungsprogramme, die insbesondere in den europäischen Sozialstaaten eine zentrale Rolle spielen, haben in einem solchen System eine vergleichsweise geringe Funktion. Dafür spielen der private Bereich und insbesondere der Arbeitsmarkt eine gewichtige Rolle bei der sozialen Absicherung der Bürger.

Insbesondere aus einer europäischen, bzw. deutschen Perspektive werden diese Charakteristiken des US-amerikanischen Wohlfahrtsstaates oftmals als defizitär bezeichnet. So schreibt auch Georg Schild in seiner Studie zur amerikanischen Sozialpolitik im 20. Jahrhundert: „Aus europäischer Perspektive ist der amerikanische Wohlfahrtsstaat dennoch unvollständig geblieben [...], weil die Kategorie von Sozialprogrammen fehlt, die den Schwerpunkt des europäischen Sozialstaats ausmacht: Programme, die weder nach Bedürftigkeit noch entsprechend der Höhe eines zuvor geleisteten Beitrags anfallen.“ (S. 14)

Schild versucht nun in seiner Untersuchung die Entwicklung dieses abweichenden amerikanischen Sozialstaatsverständnisses in einer historischen Perspektive nachzuzeichnen (S. 17). Dabei spielen weniger die einzelnen Sozialprogramme an sich eine Rolle, als vielmehr der jeweilige Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte. Durch eine chronologische Einteilung soll dabei die gesamte sozialpolitische Diskussion einer Epoche in den jeweiligen wirtschaftlichen, politischen und intellektuellen Kontext eingebunden werden. Bei seiner Untersuchung stützt sich Schild neben umfangreicher Sekundärliteratur in erster Linie auf Publikationen der jeweiligen Administrationen und die Memoiren der beteiligten Akteure.

Schilds empirische Untersuchung beginnt nach einem Kapitel zum Staat und der Sozialpolitik in den USA mit dem New Deal in den 1930er-Jahren unter Präsident Roosevelt und reicht bis zur Neuorientierung der Sozialpolitik unter Präsident Clinton in den 1990er-Jahren. Die Chronologie der Kapitel orientiert sich dabei entweder nach Jahrzehnten (Kap. 3 und 4) oder aber bestimmten Präsidenten (Kap. 5 und 6). Dort wo allerdings die Sozialpolitik der 1970er-Jahre unter Gerald Ford und Jimmy Carter hätten analysiert werden müssen, finden sich lediglich einige Karikaturen von Herblock. Dies ist umso erstaunlicher, weil auch in den 1970er-Jahren zentrale sozialpolitische Reformen zu finden sind, verwiesen sei hier nur auf den Employment Income Security Act (ERISA) und die Supplemental Social Insurance (SSI).

Eine Stärke der Arbeit von Schild ist sicherlich der langfristige Untersuchungszeitraum und der Versuch, die Konjunkturen der sozialstaatlichen Entwicklung in den USA in einen Zusammenhang zu stellen. Schild will so deutlich machen, „dass die große Erweiterung staatlicher Verantwortung nicht das Ergebnis einer sozialpolitischen Vision war, sondern als Mittel zur Überwindung von Krisen gedeutet werden müssen [...] Zum für die Analyse des US-Wohlfahrtsstaates entscheidenden Kriterium wird damit, was in der amerikanischen Gesellschaft als Krise aufgefasst wird.“ (S. 401)

Zu den großen Schwächen der Arbeit zählt allerdings der ausschließliche Fokus auf das Verhältnis von Sozialpolitik und Bundesregierung. Hier ist die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung schon viel weiter, indem sie die Sozialpolitik in unterschiedliche Bereiche differenziert. 3 Dazu gehört neben der staatlichen Sozialpolitik, die im Zentrum von Schilds Analyse steht, auch der fiskalpolitische Bereich der Sozialpolitik, oder anders ausgedrückt wie der Titel der Untersuchung „The Hidden Welfare State“ von Christopher Howard.4 Daneben natürlich auch der private und der gesellschaftliche Sektor von Sozialpolitik, die alle als funktionale Äquivalente zur staatlichen Sozialpolitik charakterisiert werden können. An einigen Stellen erwähnt Schild zwar die Relevanz einiger dieser Bereiche, aber leider nicht in einem systematischen Zusammenhang, der das Ineinanderwirken dieser unterschiedlichen Sphären deutlich machen können und damit einen Erkenntnisfortschritt für das Verständnis des amerikanischen Wohlfahrtsstaates hätte bringen können. Berücksichtigt man die staatlichen Ausgaben für diese anderen Bereiche von Sozialpolitik, in erster Linie Steuervergünstigungen mit sozialpolitischer Intention und auch staatliche Anreize für die private soziale Absicherung, so verringert sich die Kluft sozialstaatlicher Ausgaben zwischen den USA und den europäischen Vergleichsländern deutlich. Auch die OECD hat dies in letzter Zeit erkannt und versucht dies durch die Berechnung einer Nettosozialleistungsquote deutlich zu machen. 5

Darüberhinaus werden auch einige institutionelle Faktoren des amerikanischen politischen Systems bei der Analyse der Sozialpolitik nicht ausreichend berücksichtigt. Dazu gehört natürlich an erster Stelle der Föderalismus und die Kompetenzverteilung in der Sozialpolitik zwischen dem Bund und den Einzelstaaten, aber auch die Rolle des Kongresses und des Zweikammersystems in den USA insgesamt, die zwar auch an einigen Stellen genannt, aber auch nicht systematisch untersucht werden. Durch die starke Fokussierung auf Ideen und Ideologie fehlt auch eine systematische Analyse von Interessen(-gruppen) in der amerikanischen Sozialpolitik. Schild thematisiert das etwas ausführlicher beim Versuch Clintons zu einer Reform in der Gesundheitspolitik zu kommen, aber auch hier hätte systematischer der Einfluss von Interessengruppen auf die Sozialpolitik über den gesamten Untersuchungszeitraum thematisiert werden müssen.

Leider wurden auch die Ergebnisse der Untersuchung von Elmar Rieger und Stephan Leibfried nicht thematisiert. 6 Insbesondere für die Zeit des New Deals diagnostizieren Rieger und Leibfried einen engen Zusammenhang zwischen Sozial- und Handelspolitik. 7 Protektionismus und hohe Zölle können dabei in den USA lange Zeit als funktionales Äquivalent für Sozialpolitik charakterisiert werden. Schild spricht zwar öfter vom Zusammenhang von Wirtschafts- und Sozialpolitik, beschränkt dies aber auf den amerikanischen Markt und vernachlässigt damit die internationale Dimension von Handels- und Wirtschaftspolitik.

So erfährt der interessierte Leser letztendlich wenig Neues oder Überraschendes über den amerikanischen Wohlfahrtsstaat. Allerdings bietet die Untersuchung durch ihren breiten Untersuchungszeitraum einen guten, wenn auch wenig analytischen und oftmals narrativen Einstieg in die US-amerikanische Sozialpolitik.

Anmerkungen:
1 Titmuss, Richard, Essays on the Welfare State, London 1958.
2 Esping-Andersen, Gösta, The Three Worlds of Welfare Captalism, Cambridge 1990.
3 Einen guten Überblick bietet hier: Olsen, Gregg M., The Politics of the Welfare State. Canada, Sweden and United States, Don Mills 2002.
4 Howard, Christopher, The Hidden Welfare State. Tax Expenditures and Social Policy in the United States, Princetion 1997.
5 Kemmerling, Achim, Die Messung des Sozialstaates. Beschäftgungspolitische Unterschiede zwischen Brutto- und Nettosozialleistungsquote, Discussion Paper FSI 01-201, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2001.
6 Rieger, Elmar; Stephan Leibfried, Grundlagen der Globalisierung. Perspektiven des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt am Main 2001.
7 Ebd., S. 185.

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