U. Heitger: Vom Zeitzeichen zum politischen Führungsmittel

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Titel
Vom Zeitzeichen zum politischen Führungsmittel. Entwicklungstendenzen und Strukturen der Nachrichtenprogramme des Rundfunks der Weimarer Republik 1923-1932


Autor(en)
Heitger, Ulrich
Reihe
Kommunikationsgeschichte 18
Erschienen
Münster 2003: LIT Verlag
Anzahl Seiten
500 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Konrad Dussel, Historisches Institut, Universität Mannheim

Das zentrale staatliche Konzept für das im Deutschland der 1920er-Jahre neu begründete Medium Rundfunk war eigentlich ganz einfach: Mehrere mit privatem Kapital finanzierte Regionalgesellschaften sollten die unterhaltenden Teile des Programms bereitstellen, die Nachrichten und politischen Sendungen waren dagegen von einer zentralen staatlichen Stelle zu liefern, der späteren „Drahtlosen Dienst AG“ (Dradag). Die Verwirklichung dieser Vorstellung stieß jedoch auf diverse Schwierigkeiten, die man mit etlichen Ergänzungen zu beheben suchte. Am Ende entstand ein Organisationsmonstrum, das besonders durch vielfältige Kontrollmechanismen gekennzeichnet war.

Vor allem die Entstehung und Entwicklung der Schlüsselinstitution Dradag fand rundfunkhistoriografisch viel Beachtung. Bahnbrechend waren die Arbeiten Winfried B. Lergs, die zuletzt von Horst O. Halefeldt zusammengefasst und ergänzt wurden, nachdem sich auch noch Rainer Krawitz’ des Themas angenommen hatte. 1 Die organisations- und personengeschichtlichen Aspekte des von Chefredakteur Josef Räuscher geführten Betriebs sind in ihnen gut dargestellt. Keine Behandlung fand dagegen das eigentlich Interessierende: die Nachrichten selbst. Und dies hat einen einfachen Grund: Von ein paar wenigen Einzelmeldungen und Manuskripten abgesehen, hat sich überhaupt kein Material erhalten, anhand dessen es möglich wäre, die Spezifika der damaligen Rundfunknachrichten zu analysieren und mit den Gegebenheiten bei der Presse zu vergleichen. Nun hat Ulrich Heitger auf der Basis seiner bereits 1997/98 in Münster vorgelegten Dissertation ein 500-Seiten-Buch zum Thema veröffentlicht, und die Frage liegt natürlich nahe: Hat er neue Quellen gefunden, die Aussagen auch über die Inhalte der Nachrichtenprogramme zulassen? Die Antwort ist ein klares Nein. Auch Heitger kann nichts Neues zu den Aussagen der Rundfunkmeldungen berichten; dieser weiße Fleck in der Rundfunkgeschichte bleibt bestehen.

Die nächste Frage ist zwangsläufig: Womit füllt Heitger seine Seiten? Legitimerweise fasst er zunächst einmal zusammen, was bereits vorhanden und bekannt ist. Dazu holt er in seinem ersten Teil „Rahmenbedingungen“ vielleicht ein bisschen weiter aus, als es nötig wäre, aber eine übersichtliche Binnengliederung ermöglicht durchaus selektive Lektüre. Nur der zentrale Abschnitt über die Dradag ist als solcher überhaupt nicht im Inhaltsverzeichnis auszumachen.

Heitgers wesentlicher Beitrag zur Rundfunkgeschichte der Weimarer Republik ist das erste Kapitel seines zweiten Teils „Programmstrukturen und -entwicklung“. Auf mehr als 200 Seiten analysiert er die Nachrichten- und Informationsprogramme der zehn Sendegesellschaften, soweit dies auf der Basis der Ankündigungen in den Programmzeitschriften und verschiedener Aktenmaterialien möglich ist. Detailliert zeigt er für jede der neun Regionalgesellschaften sowie das Gemeinschaftswerk „Deutsche Welle“, in welchem Ausmaß Nachrichten in die Programme aufgenommen wurden und welchen Stellenwert die Dradag-Meldungen dabei besaßen.

Wie so häufig wird deutlich, dass auch beim Rundfunk in der Weimarer Republik klar zwischen Anspruch und Wirklichkeit getrennt werden muss. Heitger kann zeigen, dass die Dradag-Nachrichten keineswegs 1:1 in die Programme übernommen wurden. Eine Vielzahl technischer und organisatorischer Probleme sind dafür namhaft zu machen, aber auch die Lücken der Vorgabe selbst. Abgesehen von klar als solche bezeichneten „Auflagenachrichten“ hatten die Gesellschaften nämlich ein gewisses Auswahlrecht. Sie durften weglassen, was ihnen nicht passte. Und sie durften gewisse, klar definierte Ergänzungen vornehmen. Artikel 6 der zentralen Richtlinie bestimmte: „Die Gesellschaft kann unpolitische Nachrichten, wie insbesondere Sport-, Wetter- und Wirtschaftsnachrichten, auch von anderen Stellen beziehen. Sie kann ferner lokale Nachrichten aus ihrem Bezirk verbreiten, aber immer unter Wahrung der Richtlinie 1“ (in der die prinzipielle Überparteilichkeit der Nachrichtendienste verlangt wurde) (zit. S. 77). In der Praxis waren danach geradezu skurrile Folgen zu beobachten: „Im Frühjahr 1927 stellte sich zur allgemeinen Überraschung heraus, dass die Sürag (sc. die Süddeutsche Rundfunk AG in Stuttgart) die Dradag-Meldungen zwar aufnahm, jedoch nicht im Tagesnachrichtendienst verwendete, sondern lediglich dem Vorsitzenden des Überwachungsausschusses zur Begutachtung vorlegte“ (S. 254). Die Stuttgarter Gesellschaft verbreitete um diese Zeit überhaupt keine Dradag-Meldungen, außer den vorgeschriebenen Auflage-Nachrichten. Und das waren im ersten Halbjahr 1927 gerade einmal drei Stück. „Da die Sürag laut Geschäftsbericht 1927 keine anderen allgemeinen Nachrichtenquellen abonniert hatte, bleibt die Frage offen, was seit Herbst 1926 unter der Rubrik ‚Tagesnachrichten’ gesendet worden war“, stellt Heitger zu Recht fest (S. 255).

Überhaupt muss man sich von heutigen Vorstellungen in Sachen Nachrichtenangebot frei machen, wenn man sich den Radioprogrammen der Weimarer Republik nähert. 1928 kündigte die Sürag genau drei Nachrichtentermine pro Tag an – um 11 Uhr, um 14 Uhr und um etwa 22 Uhr. In der damaligen Haupthörzeit von etwa 19 bis 22 Uhr gab es um 19.45 Uhr nur einen Wetterdienst. Dabei vertraten die Stuttgarter durchaus keine Extremposition. Die hauptstädtische Funk-Stunde hatte um dieselbe Zeit eher noch weniger Angebot; auch hier war der Abend bis 22 Uhr völlig nachrichtenfrei. Es dauerte bis 1932, bis bei sechs der zehn Gesellschaften ein abendlicher Nachrichtentermin vor 22 Uhr eingeführt worden war.

Heitgers flotter Buchtitel weckt Erwartungen, die der Text nicht erfüllt. Wohl beschreibt er kurz das berühmt-berüchtigte, seit 1910 gesendete „Nauener Zeitzeichen“, für dessen Durchgabe zwischen 12.55 und 13.05 Uhr bis Mitte 1927 jeder andere Funkverkehr (und damit auch die Radioprogramme) unterbrochen werden musste (S. 373f). Und genauso geht er auch auf die Umformung der Dradag zum politischen Führungsmittel ein, die bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Sommer 1932 vollzogen wurde (S. 118ff., 451f.). Über die dazwischen liegenden inhaltlichen Veränderungen kann er jedoch nur wenig sagen. Immerhin tragen seine Programmstrukturanalysen aber dazu bei, die grundsätzlichen Möglichkeiten des Nachrichtenwesens im Rundfunk der Weimarer Republik nicht allzu hoch zu veranschlagen.

Anmerkung:
1 Lerg, Winfried B., Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland, Frankfurt am Main 1965; Ders., Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik, München 1980; Krawitz, Rainer, Die Geschichte der Drahtloser Dienst AG 1923-1933, Köln 1980; Halefeldt, Horst O., Sendegesellschaften und Rundfunkordnungen, in: Leonhardt, Joachim-Felix (Hg.), Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik, München 1997, Bd. 1, S. 23-339 (zur Dradag v.a. S. 114ff.).

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