K. Ernst: Krankheit und Heiligung

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Titel
Krankheit und Heiligung. Die medikale Kultur der württembergischen Pietisten im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Ernst, Katharina
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 154
Erschienen
Stuttgart 2003: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 22,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Häberlein, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Der Theologe Johann Albrecht Bengel (1687-1752), der als zentrale Figur des württembergischen Pietismus gilt, war angesichts des Todeskampfes seiner kleinen Tochter so vom Gedanken an die Gnade Gottes erfüllt, dass ihm „das erbärmliche Schnappen und Zucken“ des kindlichen Körpers „kein weiteres Bedaurens brachte“. Sein Kollege Philipp Matthäus Hahn (1739-1790) kam nach längerem Nachdenken auf „die Ursache, warum meine Frau gestorben. Sie hat entsetzlich über mich gelästert und gelogen“. Und Bengels Schwiegersohn Albrecht Reichard Reuß und seine Frau ließen ihren sterbenden achtjährigen Sohn Joseph bis an sein Ende fromme Sprüche aufsagen. Joseph konnte zwar „nicht mehr als zwo Sylben auf einmahl reden, doch hinterließ er seinen lieben Eltern, und Herrn Vetter und Frau Baß, jedem ein besonder Gedenck-Verslen“.

Diese Zitate aus Katharina Ernsts Heidelberger Dissertation zeigen, dass sich die Autorin eines recht sperrigen Themas angenommen hat. Wenn die Pietisten über Krankheit und Tod schrieben, wirken ihre Äußerungen auf heutige Leser oft mitleidlos, hart und selbstgerecht. Dieser Umstand wirft aber auch die Frage nach den kulturellen Logiken auf, die sich hinter solchen Aussagen verbergen. Der Reiz der Thematik liegt außerdem darin, dass die Wahrnehmung und Deutung von Krankheit durch württembergische Pietisten an der Schnittstelle mehrerer aktueller Forschungsfelder angesiedelt ist. Ernst verortet ihr Thema in einer Kulturgeschichte, „die die Deutungen und Sinnstiftungen von Individuen ernst nimmt, aber die individuellen Züge mit überindividuellen Strukturen verknüpft“; in einer Religionsgeschichte, „die die Verknüpfung der Religion mit anderen zentralen Lebensbereichen in den Blick nimmt“; und in einer Medizingeschichte, „die weder Fortschrittsgeschichte noch ärztezentriert ist, sondern die Kranken selbst in den Mittelpunkt stellt“ (S. 6f.). Als Quellen dienen der Autorin Selbstzeugnisse - Briefe, Tagebücher und Autobiografien - von Mitgliedern der pietistischen Elite Württembergs, vor allem von Theologen.

Ernst nähert sich ihrem Thema sehr umsichtig, aber auch recht schematisch. In der Einleitung werden aktuelle Ansätze und Positionen der Patienten-, Körper- und Religionsgeschichte auf ihre Relevanz für das Thema hin befragt und grundlegende Probleme der Quelleninterpretation behandelt. Daran schließen sich zwei Kapitel über den württembergischen Pietismus im Allgemeinen sowie über die Behandlung des Themas „Krankheit“ in normativen Texten pietistischer Autoren wie Philipp Jakob Spener und Samuel Urlsperger an. Kritisch ist anzumerken, dass diese Präliminarien bereits 84 Seiten und damit ein Drittel des gesamten Buches einnehmen. Vor allem die Quellenkritik ist zu umständlich und weitschweifig geraten, da die Autorin zunächst eine Reihe von Definitionen und Forschungsmeinungen zu den behandelten Quellengruppen referiert, um sich dann für die denkbar pragmatischsten Begriffsklärungen zu entscheiden. Die Behauptung, dass der „persönliche, freundschaftliche Brief“ im 18. Jahrhundert als „neuer Brieftyp“ anzusehen sei, ist von der historischen Familienforschung zudem schon vor längerer Zeit revidiert worden.1

Dass Ernsts systematische Vorgehensweise auch Vorteile hat, zeigt sich in den folgenden Kapiteln, die der Praxis des Umgangs mit Krankheit gewidmet sind. Die einzelnen Kapitel über die Erklärung von Krankheitsursachen (III), das Verhalten in der Krankheit (IV), die Heilung Kranker (V), die Bedeutung von Krankheit als „Lektion“ für die Betroffenen (VI) und das „selige Sterben“ (VII) untersuchen die zentralen Quellengruppen wie die Bengelsche Familienkorrespondenz und die Tagebücher Philipp Matthäus Hahns zunächst separat und fassen die Ergebnisse dann am jeweiligen Kapitelende zusammen. Kapitel VIII differenziert den Naturbegriff der Pietisten, der sowohl negativ mit Sündhaftigkeit und Fleischlichkeit konnotiert war als auch neutral für das menschliche Wesen und die Welt überhaupt stehen konnte, während sich Kapitel IX mit dem Sonderfall des jahrelang auf dem Hohenasperg inhaftierten und erst spät zum Pietismus bekehrten Dichters und Publizisten Friedrich Daniel Schubart befasst.

Erwartungsgemäß dominieren in den behandelten Texten religiöse Krankheitsdeutungen. Angehörige der pietistischen Elite sahen Gott als Urheber von Krankheit; für Unbekehrte war sie eine göttliche Strafe, während sie für Bekehrte eher den Charakter einer väterlichen Züchtigung trug. Eine zentrale, häufig wieder kehrende Metapher ist die der „Erweichung“: Krankheiten machten die Frommen und Bekehrten weich, „geschmeidig“ und damit besonders empfänglich für Gottes Botschaft. Von Kranken wurde vor allem Geduld und Fügung in den Willen Gottes erwartet, und Heilung kam von einem stets in der Welt präsenten Gott. In jedem Fall war Krankheit für Pietisten „eine Schule, eine Zuchtschule, eine Übung und eine Lektion. [...] Wenn die göttliche Lektion gelernt war, so hatten die württembergischen Pietisten einen Schritt auf dem Weg der Heiligung hin zu Gott zurückgelegt“ (S. 199).

Zu den interessantesten Ergebnissen der Arbeit gehört indessen der Befund, dass diese religiösen Interpretationen im Denken der pietistischen Theologen mit anderen, insbesondere humoralpathologischen Deutungsmustern verwoben waren. Krankheiten galten auch als Resultat einer Stockung oder falschen Mischung der Körpersäfte, manche Autoren hoben die Bedeutung der Ernährung für die leibliche Gesundheit hervor, und die meisten Pietisten konsultierten Heiler und nahmen Arzneien, wobei die weit verbreiteten und bis nach Nordamerika exportierten Medikamente aus den Franckeschen Anstalten in Halle 2 zwar auch in Württemberg verwendet wurden, hinsichtlich ihrer Wirksamkeit dort jedoch nicht unumstritten waren. Obwohl Heilung letztlich von Gott kam, mussten Krankheiten richtig behandelt und die richtigen Arzneimittel eingesetzt werden.

Darüber hinaus arbeitet Ernst individuelle Unterschiede zwischen den untersuchten Autoren heraus. Philipp Matthäus Hahn etwa glaubte im Gegensatz zu seinen Kollegen auch an den Einfluss von Geistern und Dämonen und forderte in seinen Gebeten das heilende Eingreifen Gottes regelrecht ein, während andere Pietisten es prinzipiell ablehnten, wegen eines „weltlichen“ Anliegens wie der körperlichen Gesundheit zu Gott zu beten. Durch solche Differenzierungen und durch ihre genauen Beobachtungen gelingt es Katharina Ernst, ihrem Anspruch gerecht zu werden, sowohl individuelle Deutungen von Krankheit als auch deren Einbettung in die „Gruppenkultur“ der württembergischen Pietisten aufzuzeigen. Obwohl die Quellen vorrangig die Sicht einer gebildeten Elite wiedergeben, spiegeln sich in ihnen auch die Einstellungen nicht-pietistischer Gemeindemitglieder, die beispielsweise Gesundbeter und Segensprecher konsultierten oder auf die Ermahnungen ihrer pietistischen Pfarrer am Krankenbett lieber verzichteten. Die materialreiche Studie ist zwar nicht ganz frei von Längen und Wiederholungen, aber sie vermag durch eine klare Begrifflichkeit, argumentative Stringenz und einfühlsame Quelleninterpretationen zu überzeugen.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Beer, Mathias, Eltern und Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen. Familienleben in der Stadt des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs (1400-1550), Nürnberg 1990.
2 Vgl. dazu die wegweisende Studie von Wilson, Renate, Pious Traders in Medicine. A German Pharmaceutical Network in Eighteenth-Century North America, University Park 2000.

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