K. Schönwälder: Einwanderung und ethnische Pluralität

Titel
Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Grossbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren


Autor(en)
Schönwälder, Karen
Erschienen
Anzahl Seiten
768 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Imke Sturm, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

In regelmäßigen Abständen ist Einwanderung Thema der öffentlichen Diskussion. Das gilt nicht nur für Deutschland, auch in anderen europäischen Ländern folgt die Behandlung des Themas bestimmten Zyklen. Karen Schönwälder pickt sich in ihrer neuesten Monografie einige solcher öffentlichen Einwanderungs-Debatten aus der neuesten deutschen und englischen Geschichte heraus und lässt sie zum Aufhänger ihres Vergleichs der Einwanderungs- und Minderheitenpolitik in diesen beiden Ländern werden. Gegenstand dieses substanziellen Bandes sind deutsche und britische Reaktionen auf die Nachkriegseinwanderung – und zwar in den Regierungen und in ausgewählten Zeitungen; der behandelte Zeitraum umfasst die Fünfziger bis Siebziger-Jahre. In dieser Gründlichkeit ist das Thema in der historischen Forschung noch nicht behandelt worden, und insbesondere hinsichtlich der Geschichte der deutschen Ausländer- und Einwanderungspolitik kann Schönwälder mit einigen neuen Quellen aufwarten. Neu ist auch der deutsch-englische Vergleich, der besonders reizvoll erscheint angesichts der vielen Unterschiede in der Ausländer- und Einwanderungspolitik der beiden Länder. Die betroffenen Menschen, die „Gastarbeiter“ und die „colonial immigrants“, unterscheiden sich ebenso wie die Aufnahmegesellschaften, und entsprechend unterschiedlich sind die Reaktionen, die hier untersucht werden. Schönwälder kann in mancher Hinsicht gängige Vorurteile widerlegen, und stellt immer wieder den großen Einfluss heraus, der von den nationalen Vorgeschichten ausgeübt wird. Vier der interessantesten Ergebnisse dieses Vergleichs seien hier besonders hervorgehoben.

1. Schönwälder räumt mit einigen Mythen auf, die die Annahmen zur Ausländer- und Einwanderungspolitik in diesen beiden Ländern lange geprägt haben. Hinsichtlich der deutschen Politik war immer wieder von der politischen Kurzsichtigkeit die Rede, die gerade in den Sechziger und frühen Siebziger-Jahren zu Entscheidungen geführt haben soll, deren Folgen nicht übersehen wurden. Im vorliegenden Band wird nachgewiesen, dass schon Mitte der Sechziger-Jahre durchaus über langfristige Prozesse von Ansiedlung und Familiennachzug der ausländischen Arbeiter nachgedacht wurde. Auch das Phänomen des umfangreichen Familiennachzugs nach dem Rekrutierungsstopp 1973/74 kam nicht überraschend.

Ähnlich verhält es sich mit dem Vorwurf, das deutsche ‚Gastarbeitersystem’ sei unter rein ökonomischen Gesichtspunkten aufrecht erhalten worden, im Vertrauen auf eine funktionierende Rotation der Arbeitnehmer. Schönwälder belehrt uns eines besseren, tatsächlich gab es bereits in den Sechziger-Jahren eine Diskussion darüber, wie Ausländer in die bundesdeutsche Gesellschaft aufgenommen werden können und wie die Zukunft der Einwanderung aussehen könnte. Dass der Gedanke der Rotation eher einem idealen ökonomischen Modell entsprach als der Wirklichkeit, war keineswegs eine plötzliche, erschreckende Erkenntnis. Die dauerhafte Ansiedlung von ausländischen Arbeitnehmern galt als Folge der Rekrutierung und wurde seit Mitte der sechziger Jahre erwartet und problematisiert.

Der als typisch deutsch beschriebene Ansatz der Verweigerung („Wir sind kein Einwanderungsland“) findet sich bei Schönwälder erstaunlicherweise bei den Engländern, nachweislich in den Unterhaus-Protokollen. Die Überzeugung, Großbritannien sei ein Magnet für Millionen von Ausländern scheint dabei genauso hochgegriffen wie das immer wieder bemühte Argument, das Land sei eine kleine, überbevölkerte Insel. In der Bundesrepublik spielen ähnliche Argumente im behandelten Zeitraum noch keine Rolle. Ein wesentlicher Unterschied der deutschen und britischen Medienberichte ist, dass die Anwesenheit der Ausländer in Großbritannien als Folge politischer Entscheidungen angesehen wird, in Deutschland aber als Folge wirtschaftlicher Notwendigkeit und der Entscheidungen der Arbeitgeber.

2. Als grundsätzlich verschieden erweist sich in beiden Ländern die Diskussion über die Behandlung von Einwanderern. Im Vergleich mit der Bundesrepublik wird deutlich, wie sehr der Gedanke der individuellen Freiheit im angelsächsischen Diskurs verhaftet ist – und wie wenig im Westdeutschland der ersten Nachkriegsjahrzehnte. So wird in Parlamentsdebatten über das britische Ausländergesetz nie in Zweifel gezogen, dass die Freiheit des Individuums letztlich vor den Interessen des Staates stünde – der Innenminister dürfe nicht das Recht haben, ohne Begründung auszuweisen. Über die Einschränkung der individuellen Freiheiten von ‚British subjects’ in der Form der Einwanderungsbeschränkung von 1962 war in Großbritannien im Kabinett und im Parlament jahrelang ohne Einigung diskutiert worden. Die frühe Propagierung einer Politik der Toleranz gegenüber Minderheitenkulturen in der Rede von Roy Jenkins vom Mai 1966 war ebenfalls ein Produkt dieser Denkschule.

Dagegen war man in der Bundesrepublik mit der Einschränkung der Rechte von Ausländern nicht zimperlich. Schönwälder ist vorsichtig, wenn es um die Herleitung dieses Ansatzes aus der historischen Erfahrung geht, aber sie beobachtet Kontinuitätslinien z.B. hinsichtlich der der Terminologie der ‚Integrierung’ und ‚Assimilation’, die auf Diskussionen über Minderheitenpolitik nach dem Ersten Weltkrieg und auch bezüglich der ethnisch Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgehen könnten (S. 318). Hier bestand kein Zweifel, dass die ‚Belange der Bundesrepublik’ immer im Vordergrund stehen müssten (S. 239). So gab – und gibt – es viel genauere Informationen über Ausländer durch das 1953 geschaffene ‚Ausländerzentralregister’ in Köln. Anfang der Sechziger-Jahre lieferte es Daten über Wohnort, Arbeitsstätte und strafrechtliche Verurteilungen von 1,8 Millionen Ausländern. In der Überwachung der politischen Aktivität der Einwanderer zeigt sich nach Schönwälder eine nachhaltige Verunsicherung durch die Erfahrung des Nationalsozialismus ebenso wie aktuelle Kommunismus-Ängste während des Kalten Krieges. 27.800 angeworbene italienische Arbeitskräfte wurden in den ersten Monaten des Anwerbevertrags seit 1955 vom deutschen Verfassungsschutz auf kommunistische Aktivitäten hin untersucht. Die Befunde waren so verschwindend, dass die Regelüberprüfung eingestellt wurde.

3. Worin sich beide Länder wieder gleichen, ist die Emotionalität, die in vielen Diskussionen zum Thema durchbricht. Häufig wird von einer sachbezogenen Argumentation abgewichen, wenn von der Ausnutzung der Wohlfahrtssysteme, von der Gefahr durch Krankheiten oder durch Kriminalität die Rede ist. Wie Schönwälder zeigt, ist aber nicht nur die Ablehnung, sondern auch die Offenheit gegenüber den Einwanderern oft von Emotionalität und Vorurteilen geprägt. In beiden Ländern zeigt sich insbesondere in den Medienberichten eine vordergründige Hilfsbereitschaft, die tatsächlich dazu dient, die eigene vermeintliche kulturelle Überlegenheit herauszustreichen. In der Bundesrepublik ist es der Stolz über das Wirtschaftswachstum, der sich in der Belehrung der südeuropäischen Gastarbeiter Bahn bricht, in Großbritannien ist die hochgespielte Bedeutung der persönlichen Freiheit Teil der großen britischen Selbstlüge der frühen Sechziger-Jahre: „Gerade in der Freiheit des Citizen, in Großbritannien zu leben, wurde die Fiktion einer Fortexistenz des Empire aufrecht erhalten.“ (S. 73)

4. Ausländer- und Einwanderungspolitik steht mit Außenpolitik in einem engen Zusammenhang und galt in beiden Ländern daher auch als Aushängeschild. Besonders deutlich wird das für den Zeitraum der ersten Nachkriegsjahrzehnte, in denen sowohl Großbritannien als auch die Bundesrepublik in der seit dem Zweiten Weltkrieg stark veränderten weltpolitischen Situation noch auf der Suche nach ihrer Position waren. „Aus dem ihnen angebotenen Selbstverständnis als Angehörige einer Wirtschaftsmacht, die auch Fremden Gelegenheit bieten konnte, ihr Leben zu verbessern, sowie als sozialer und politischer Motor des neuen Europas konnten die Deutschen Stolz beziehen und auch nationalistische Überlegenheitsgefühle bestätigt sehen“, konstatiert Schönwälder (S. 213).

In Großbritannien wurde die Arbeitskräftezuwanderung nicht nur häufig mit der politischen Zukunft des Empire in einen Zusammenhang gestellt und die Einwanderungskontrolle bis in die frühen Sechziger-Jahre unter diesem Gesichtspunkt gestaltet. Auch die Politik gegenüber den Minderheiten in Großbritannien wurde seit den Sechziger-Jahren zeitweise mit dem Anspruch des internationalen Vorbildcharakters gestaltet – vor dem Hintergrund der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, der südafrikanischen Apartheid (von der man sich bereits distanziert hatte) und den entsprechenden Tendenzen in Ostafrika.

Der Seitenblick auf eine internationale Wirkung war in der Bundesrepublik besonders deutlich bei der Wahl der Länder, mit denen Anwerbeabkommen geschlossen wurden – weniger bei der Gestaltung der Politik gegenüber den Ausländern, die im Lande waren.

Eindrucksvoll nachgewiesen wird die große Bedeutung außenpolitischer Strategieüberlegungen beim Zustandekommen von Anwerbeabkommen mit dem Abkommen mit der Türkei, das 1961 geschlossen wurde (S. 251f). Arbeitsmarktpolitisch hielt man eine weitere Anwerbung nicht für notwendig, aber aus politischen Gründen fühlte man sich gedrängt, dem Wunsch der Türkei nachzugeben. Der Vertragsabschluss mit Jugoslawien 1968 war gegen den ausdrücklichen Willen des Arbeitsministeriums zustande gekommen: außenpolitische Strategieüberlegungen im Rahmen der neuen Ostpolitik von Außenminister Brandt überwogen über die wirtschaftlichen Sorgen angesichts der ersten Nachkriegsrezession 1967 (S. 344).

Schönwälder nimmt uns mit ins Archiv und in die Welt von Presse und Politik. Wir lernen die Argumentationslinien ausführlich kennen, erfahren, wie Tabus entstehen und wieder gelockert werden, wie sich Sprachregelungen ändern und wie sich Parteien spalten oder einigen. Auch Einzelheiten des politischen Systems werden in ihrer Bedeutung für die Diskussion erkannt, so zum Beispiel der im Vergleich mit der Bundesrepublik viel größere individuelle Profilierungszwang für englische Abgeordnete: die direkte Wahl begünstigt damit ‚populistische’ Themen wie die Einwanderung.

Mit zahlreichen Zitaten und bis in alle Einzelheiten hinein kann die Aktenlage nachvollzogen werden, und die gründliche Aufarbeitung der Quellen verleiht diesem Buch Handbuchcharakter. Für die europäische Migrationsgeschichte ist der Band ein großer Gewinn, nicht nur durch die Erschließung neuer Erkenntnisse zu Großbritannien und der Bundesrepublik, sondern auch weil die Geschichte der Gastarbeiteranwerbung wie auch der postkolonialen Zuwanderung in diesen beiden Ländern durchaus repräsentativ für Entwicklungen in anderen europäischen Ländern wie der Schweiz, Frankreich oder den Niederlanden sein kann.

Wenn es vordergründig um Einwanderungskontrolle und ‚multikulturelles’ Zusammenleben geht, so finden hier tatsächlich – so erscheint es im Rückblick – die ersten Anfänge eines Bewusstseinsprozesses statt, im Zuge dessen nach und nach Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten selbst eingestanden werden. Wir beobachten die schwierige Abkehr vom vermeintlichen Ideal der homogenen Gesellschaft. Es bleibt die Frage, ob wir heute weiter gekommen sind, oder ob nicht die neuen Tabus der politischen Korrektheit die Diskussion über Fragen von Einwanderung und Zusammenleben erneut behindern.

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