J. Nicolas: La rebellion francaise

Titel
La rebellion francaise. Mouvements populaires et conscience sociale 1661-1789


Autor(en)
Nicolas, Jean
Erschienen
Anzahl Seiten
506 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Middell, Zentrum für höhere Studien, Universität Leipzig

Jean Nicolas hat mit diesem Band vollendet, was ein ähnlich gewichtiges Buch im Jahre 1985 angekündigt und auf dem Niveau der Forschungshypothesen und verwendeten Kategorien ausprobiert hatte: eine Gesamtschau der gewaltförmigen Konflikte und Erhebungen über mehr als ein Jahrhundert zwischen dem Beginn der persönlichen Herrschaft Ludwig XIV. 1661 und dem Ausbruch der Revolution 1789. Mehr als 8.500 Rebellionen hat der Verfasser mit Hilfe von 57 Kolleginnen und Kollegen, die ihre Regionalexpertise bereitwillig zur Verfügung gestellt haben, identifiziert. Frankreichs durch die Revolution vereinheitlichte Archivlandschaft macht solche nach gemeinsamen Standards durchgeführte Untersuchungen überhaupt theoretisch möglich, aber für ihre Realisierung wird eine enorme organisatorische Kraft und Disziplin benötigt. Nur selten gelingt es auch im Land der „Enquêtes“, für die Marc Bloch und Lucien Febvre schon in den 1930er Jahren heftig warben, ein solches Vorhaben zu vollenden und zu verhindern, dass es im Stadium beeindruckender, aber inkommensurabler Regionalmonografien stecken bleibt.

Jean Nicolas hat mit einem analytischen Raster begonnen und die darin postulierten 72 Typen von Konflikten (die sich zu 15 Gruppen zusammenfassen lassen – vgl. die Übersicht S. 548-550) zunächst an bereits einigermaßen erforschten Gegenständen getestet. Nun legt er einen Gesamtüberblick vor, der alle mit physischer Gewaltanwendung verbundenen Auseinandersetzungen von Volksbewegungen (gegen Kirche, Staat, Munizipalität und Grundherren sowie weitere Notabeln) und das gesamte Spektrum der Konflikte in der Arbeitswelt von Streitigkeiten über die Bezahlung bis zu größeren Streiks umfasst. Im letzteren Bereich bezieht der Verfasser auch nicht gewaltförmige Proteste mit ein, während er sich sonst auf die registrierte Übertretung des Gewaltverbotes gegen Personen und gegen Sachen konzentriert.

Die geografische Verteilung zeigt bestimmte Zonen Frankreichs, die auf lange Sicht besonders anfällig für Erhebungen waren: Paris und seine Umgebung, Maine und Anjou, das Artois und die Picardie, das Bas-Languedoc, das Roussillon und Korsika. Dagegen blieben die Bretagne, Savoyen und die Provinzen des östlichen und mittleren Frankreich (mit Ausnahme des Elsass und Lothringens) sowie die Nomandie, das Orléanais und der Südwesten verhältnismäßig ruhig, wenn man die teilweise durchaus beträchtlichen Zahlen für rebellische Akte auf die Bevölkerungszahl hochrechnet (Karte S. 33).

Auf der Zeitachse erkennt man ein relativ niedriges Niveau bis um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, in dessen erstem Jahrzehnt ein Höhepunkt unverkennbar hervorsticht, gefolgt von einem Abschwung bis zum Ende der 1730er-Jahre, nach einem erneuten Anstieg bis Mitte der 1750er-Jahre folgt noch einmal ein kurzer zehnjähriger Rückgang und danach ein kontinuierlicher Anstieg der Zahl von Erhebungen und sozialen Protestbewegungen bis zum Ende des Ancien Régime, so dass die Revolution auch vor diesem Hintergrund nicht als eruptiv in die Geschichte getretene neue Tendenz erscheint, sondern vielmehr als Fortsetzung eines Trends, der sich schon seit den 1770er-Jahren abzeichnete

Hinsichtlich der Größe der Orte, die sich als besonders anfällig für Erhebungen erwiesen, liegen die Dörfer mit weniger als 500 Einwohnern und die Städte mit mehr als 2000 Einwohnern gleichauf: jeweils reichlich 40 Prozent aller Erhebungen fanden hier statt, während in den nach der Bevölkerungszahl dazwischen liegenden bourgs signifikant weniger Unruhen ihren Ausgangspunkt nahmen.

Unter den Anlässen dominieren die Erhebungen gegen den Fiskus und hier vor allem gegen die Kassierung indirekter Steuern mit 39,1 Prozent aller von Nicolas und seinen Mitarbeitern registrierten Fälle, während rund ein Sechstel aller Unruhen (17,6 Prozent) auf den Streit um Lebensmittel und ihre Preise entfiel. 14,1 Prozent der Ausschreitungen richteten sich gegen repressive Akte des staatlichen Apparates. Nur 5,1 Prozent der Rebellionen waren direkt gegen die Grundherrschaft gerichtet, während es sich in 5,2 Prozent der Fälle um Protestbewegungen wegen der Löhne oder der Arbeitsbedingungen im Handwerk handelte. In den 3,1 Prozent der Unruhen, die auf religiöse Gründe zurückgeführt werden können, sind Auseinandersetzungen um den Protestantismus, um den Status der Jansenisten, aber auch um die Anhänglichkeit zu lokalen Kulten enthalten. In weniger als 2 Prozent der Fälle wurden munizipale Autoritäten direkt attackiert, und in reichlich einem Prozent der Fälle spielten regionalistische Motive in den neu annektierten Gegenden wie dem Roussillon, dem Franche-Comté und auf Korsika eine Rolle. Nur gering war der Anteil jener Emeuten, die sich gegen öffentlich breit und strittig erörterte Reformideen des Staates richteten, und nur 12 (von 8.528) Erhebungen wandten sich gegen den Adel und seine Privilegien.

Diese wenige Daten resümieren in dürren Angaben den enormen materialen Reichtum der Studie von Nicolas, der sich zunächst den Akteuren auf beiden Seiten der Konflikte, den Vertretern der Staatsmacht und der niederen Gerichtsbarkeit, aber auch den organisierten Schmugglern und kriminellen Banden zuwendet und danach einzelne Typen von Erhebungen und diverse Anlässe für Unruhen Revue passieren lässt. Den Blick von oben, den die Quellen vorgeben, indem sie über den Tabubruch der Untertanen und die Strafverfolgung Auskunft geben, korrigiert der Verfasser immer wieder eindrucksvoll, wenn er die Folgen von Steuererhöhungen oder Einlagerungen von Militär für ein einzelnes Dorf anschaulich beschreibt und die Verletzung hergebrachter Normen durch die staatlichen Eingriffe schildert. Er kann sich dafür auf eine stattliche Bibliothek sozialgeschichtlicher Studien zur regionalen Agrargeschichte des Ancien Régime stützen, die vor 15-20 Jahren im Bewusstsein des Faches noch als bemerkenswerte Leistungen und Grundlage des internationalen Erfolges der französischen Historiografie fest verankert waren, heute jedoch durch manchen cultural turn hinfort gespült scheinen. So ist es nicht das mindeste Verdienst von Nicolas, diesen ungeheuren Fundus an Wissen für eine Gesellschaftsgeschichte Frankreichs aus der Sicht der sozialen Erhebungen zu nutzen und damit auch neu zu erinnern (S. 551-585).

Insgesamt ein vorzügliches Buch, dem wegen seines erheblichen Umfanges nach Seiten und Ergebnissen eine breite Rezeption zu wünschen ist.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Land
Sprache der Rezension