M. Frese u.a. (Hgg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch

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Titel
Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik


Herausgeber
Frese, Matthias; Paulus, Julia; Teppe, Karl
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte 44
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
839 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Faulstich, Institut für Angewandte Medienforschung, Universität Lüneburg

Forschungsbeiträge zu Jahrzehnten sind seit einiger Zeit wieder „in“; es begann mit den 1950er und den 1960er-Jahren. Offenbar besteht ein Bedarf daran, sich zum Ende eines Jahrhunderts bzw. zum Beginn des neuen Jahrtausends der jüngeren Vergangenheit zu versichern und die Vielzahl schwer überschaubarer Einzelpublikationen und häufig isolierter Detailbefunde zu bündeln. Gleichwohl ist zu beobachten, dass in vielen Fällen lediglich auf verbreitete Doktrinen wie zum Beispiel die „68er Generation“ pauschalierend zurückgegriffen wird oder diese sogar erneut festgeschrieben werden. Hier stellt der vorliegende Sammelband eine der wenigen und zudem methodisch innovativen Ausnahmen dar.

Der Band enthält die Beiträge zu einer Tagung „Die 1960er-Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch“, die das Westfälische Institut für Regionalgeschichte im Jahr 2000 veranstaltet hat – ergänzt um einen Dokumentationsteil von Christiane Streubel zu den zentralen Debatten und Befunden. In sechs Sektionen wurden insgesamt 32 Einzelbeiträge präsentiert, auf die hier nur selektiv eingegangen werden kann. Eingeleitet wird der Band durch einen übergreifenden Beitrag von Matthias Frese und Julia Paulus, der die wesentlichen Erträge zusammenfasst und dabei die Ergiebigkeit eines Zugriffs demonstriert, der regionalgeschichtliche und gesamtgesellschaftliche Perspektiven sowie soziale, politische und wirtschaftliche Faktoren bündelt.

Sektion I widmet sich der Erwerbs-, Familien- und Hausarbeit sowie den Geschlechterrollen im Wandel. Dieser Akzent auf dem sozialen Bereich, de facto auf der sich ändernden Rolle und Bedeutung der Frauen, macht bereits den ganz anderen Ansatz gegenüber einer Forschungstradition deutlich, die gewöhnlich beim Politischen beginnt. Beeindruckend ist insbesondere die Differenziertheit der Argumente, die auf widersprüchliche und gegenläufige Entwicklungen eingehen. Die Geburtenziffern sanken zwischen 1965 und 1970 dramatisch, aber gleichwohl bekamen etwa katholische Frauen immer noch mehr Kinder als protestantische. Familien auf dem Lande blieben größer als städtische und verharrten weitgehend in der alten Wertordnung (Helene Albers). Einerseits nahm die weibliche Erwerbstätigkeit zu, freilich oft in Form der „Teilzeitarbeit“ für die „moderne Frau“ (Christine von Oertzen), andererseits blieb die traditionelle Hausfrauenrolle im Prinzip erhalten und wurde in Verbindung mit der Berufsarbeit sogar zur Doppelbelastung (Ulrike Lindner). Von einem Wandel der Geschlechterrollen kann also nicht wirklich gesprochen werden (Julia Paulus). Die „sexuelle Befreiung“ galt allenfalls für die Männer (Kristina Schulz) – womit allerdings unterbewertet bleibt, dass die „Antibabypille“ doch ein enormes Selbstbestimmungsrecht für die Frauen etablierte.

Sektion II konzentriert sich – alternativ zum eher die private Sphäre hervorhebenden Sozialen – auf Politik und Öffentlichkeit. Doch nicht um eine hypostasierte politische Öffentlichkeit geht es in den Beiträgen, sondern um die Komplexität unterschiedlicher Teilöffentlichkeiten. Thematisiert werden etwa das katholische Milieu und die Arbeiterbewegung (Thomas Großbölting), die Amerikanisierung des Wahlkampfs als Schritt hin zu einer „Normalisierung“ pluralistischer und individualistischer Konzepte von Öffentlichkeit (Julia Angster), die Herausbildung neuer antiautoritärer Formen von Öffentlichkeit, bei denen eben nicht die studentische Protestgeneration, sondern eher die Vorgängergeneration der „45er“ Einfluss nahm (Christina von Hodenberg), und die Entstehung eines neuen westdeutschen Geschichtsbildes als Folge der beginnenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (Edgar Wolfrum). Dabei wird ganz deutlich, dass traditionelle Erklärungsformeln den komplexen 1960er-Jahren kaum gerecht werden können.

Sektion III ist mit „Planung als Reformprinzip“ überschrieben. Behandelt werden u.a. die Bildungsplanung (Wilfried Rudloff), die Planungen zur Vollbeschäftigung (Georg Altmann), die Anfänge der Umweltpolitik (Karl Ditt), die ressortübergreifenden Planungen des Bundeskanzleramts (Winfried Süß), die Entwicklungshilfe und Raumplanung für Binnenbereiche am Beispiel Bayern (Thomas Schlemmer, Stefan Grüner, Jaromír Balcar), die Planungseuphorie und regionale Strukturpolitik am Beispiel Nordrhein-Westfalen (Karl Lauschke) sowie schließlich die agrarpolitischen Weichenstellungen der 1950er und 1960er-Jahre im selben Bundesland (Norwich Rüße). Die Beispiele können nur andeuten, dass hier neben zeitspezifischen Aspekten der damaligen optimistischen Aufbruchstimmung in Binnenbereichen auch eine Vielzahl hochinteressanter organisationstheoretischer Einsichten geboten werden. Allerdings stellt sich damit gleichzeitig auch die Frage, ob das Jahrzehnt tatsächlich „geplant“ oder ob nicht im historiografisch-konstruktivistischen Rückblick ein solches Sinnkonzept nur eingezogen wurde.

Weitere Sektionen widmen sich dem Komplex „Verwaltung und Bürger“, dem Thema „Deutungsmuster“ (wie z.B. „Generationenwandel“, „68er-Bewegung“ und „Oppositionsbewegung“) sowie dem Bereich „Lebensstile im Wandel“. Speziell die letztgenannte Sektion macht freilich auch ein Defizit des Bandes deutlich. Zwar werden Schlüsselbegriffe wie „Konsumgesellschaft“ (Michael Prinz), „neue Wohnkultur“ (Georg Wagner-Kyora), „Erlebnisgesellschaft“ und „Medienkonsum“ (Konrad Dussel) sowie alternative Ansätze in der Jugendfürsorge (Markus Köster) thematisiert. Aber der Aspekt einer die Gesellschaft übergreifend prägenden hedonistischen Kultur der Protestgeneration und insbesondere die herausragende Rolle der Schallplatte für die damaligen gesellschaftlichen Umwälzungen werden allzu verkürzt dargestellt. Das mag daran liegen, dass der Band ganz generell die Funktion von Kultur in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen weitgehend ausklammert. Die enorme Bedeutung des Wertewandels, die Umwälzungen etwa des bundesdeutschen Theaters, der Niedergang der E-Musik, die strukturellen Veränderungen des Buchmarkts, die neuen Akzente beim Kinofilm, die Veränderungen in der Werbung und der Sportkultur, vor allem der Aufschwung einer alles dominierenden Rockkultur – auch sie gehören zu den 1960er-Jahren als „Wendezeit“. Möglicherweise müssen die neue Jugendkultur und ihre Stars, die neuen Selbstentfaltungswerte, speziell die neue globale Rockmusik sogar als ausschlaggebende Faktoren des Wandels benannt werden, der sich politisch und sozial dann nur noch niederschlug.

In der Gesamteinschätzung kann solche Kritik den besonderen Wert des Sammelbandes und seine vielfältigen Anregungen aber nicht beeinträchtigen: eine durchweg gewinnbringende Lektüre, ein wichtiges Buch für die Debatte!

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