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Titel
Plessner. Ein deutscher Philosoph zwischen Kaiserreich und Bonner Republik


Autor(en)
Dejung, Christoph
Erschienen
Zürich 2003: Rüffer & Rub
Anzahl Seiten
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kersten Schüßler, Berlin

Historikern ist das geflügelte Wort von Deutschland als der „verspäteten Nation“ vertraut. Nur allzu gut passt es als Oberbegriff zu einer Vielzahl von Thesen über den so genannten deutschen Sonderweg in die nationalsozialistische Katastrophe. Der Philosoph Helmuth Plessner hatte bereits 1935 ein Buch mit der These vorgelegt, zu einer Zeit also, als die Mehrzahl deutscher Intellektueller entweder im Exil verstummte, im Dritten Reich schweigend mitlief oder sich – wie Plessners Konkurrent und Zeitgenosse Martin Heidegger - als „Geistesführer“ wähnte. Plessner, Bürgersohn des Kaiserreichs, akademischer Außenseiter in Weimar, vom NS-Regime als „Halbjude“ verfolgt, hat mit großem Glück den nationalsozialistische Terror überlebt und war dann selbst verspätet in das bundesrepublikanische Establishment aufgestiegen.

Christoph Dejung, Jahrgang 1943, hat nun seine Biografie des „Philosophen zwischen Kaiserreich und Bonner Republik“ vorgelegt. Dejung lernte Plessner als Student in den späten 60ern kennen und zeichnet das Bild eines Gelehrten von überaus charmantem Wesen, einen deutschen Geist mit weltläufig-liberalem Ethos. Dabei kommt es dem Autor weniger auf brisante Neuigkeiten denn auf amüsante Einbettung in Wissenschaftsgeschichte und Zeitgeschehen an. Dejung hat sich an einer Art Hermeneutik Plessners versucht, die stark literarischen Charakter trägt. Wo mangels originärer Quellen die Deutung im Ungefähren bleiben muss, versucht der Autor daraus eine Tugend zu machen und im Rückgriff auf literarische Topoi und Erzählungen Plessner als Rollenspieler lebendig werden zu lassen. Plessner selbst hat tatsächlich in seiner philosophischen Anthropologie der 1920er und 1930er-Jahre den Menschen als „künstlich von Natur aus“ und Rollenspieler beschrieben, eine Sicht, die er in den 1960er-Jahren soziologisch entfaltete und selbst wohl verkörperte.

1892 in Wiesbaden geboren, wurde Plessner von seinem gerade vom Juden- zum Christentum konvertierten Vater lutherisch getauft und wuchs in der wohlhabenden wilhelminisch-weltläufigen Atmosphäre des Kurbads auf. Im elterlichen Sanatorium herrschte Vielsprachigkeit, der tolerante Vater und die sorgende Mutter ließen den durch einen verkürzten Arm beeinträchtigten einzigen Sohn an der von Patienten aller Nationen bevölkerten Tafel die Luft der weiten Welt atmen. Hier schon wurde er zum Imitator. Das Elternhaus verließ er als großbürgerlich geprägter Freigeist, der studieren durfte, wonach ihm der Sinn stand: Medizin in Freiburg, Zoologie und schließlich Philosophie in Heidelberg, Göttingen, Berlin und Erlangen. Das Kaiserreich schwankte zwischen positivistischer Wissenschaftsgläubigkeit und naturhafter Lebensbegeisterung. Plessner saugte glücklich alles in sich hinein. Er studierte den südwestdeutschen Neokantianismus Wilhelm Windelbands, erkundete den Neovitalismus eines Hans Driesch ebenso wie den Lichtsinn der Seesterne auf der Forschungsstation Helgoland. Er durfte mit Ernst Bloch und Georg von Lucázs zum Jour fixe von Max Weber und Ernst Troeltsch, stellte sich in Frack und Zylinder in Edmund Husserls phänomenologischer Studierstube vor und wechselte nach der Promotion an die Seite der philosophischen Urgewalt Max Scheler nach Köln, letzteres schon in Weimar. Den Krieg hatte Plessner als Hilfskraft im Deutschen Nationalmuseum Nürnberg überstanden, dann kurz als Sekretär des „Reichsbundes geistiger Arbeiter“ in der Münchner Räterepublik gewirkt, bevor Köln sein „neues Alexandrien“ werden sollte. Doch daraus wurde nichts. Plessner bekam stets nur akademische Nebenjobs zugeschoben, obgleich er nahezu zeitgleich mit Martin Heideggers „Sein und Zeit“ ein durchaus kongeniales Hauptwerk vorlegte. Auf kantisch-systematischer Grundlage setzte er allein auf weiter Flur zur „rationalen Wende zum Leben“ (V. Gerhard) und zur Ernüchterung jener Lebensphilosophie an, die bald von nationalsozialistisch inspirierten Kollegen rassentheoretisch pervertiert werden sollte. Der Mensch lebe demnach in „exzentrischer Position“, als Körper zwar in die organische Welt eingebunden, als denkend-historisches Wesen aber die Zufälligkeit seiner biologisch-kulturellen Prägung durchschauend. Das verpflichte ihn politisch zu taktvoll-welterschließender Lebensführung. Plessners in Weimar vorgelegte ‚politische Philosophie’ - mondän, großstädtisch, liberal – fand jedoch kaum Widerhall. Max Scheler, ein sich selbst verzehrender philosophischer und libidinöser Vulkan, argwöhnte, von Plessner illegitim beerbt zu werden. Der Konkurrent Heidegger ließ früh den Kontakt einfrieren. Von anderen Philosophen mit Ausnahme Nikolai Hartmanns wenig beachtet, sorgten 1933 Entlassung und Emigration für den akademischen Garaus. Der berühmte niederländische Verhaltensforscher F. J. Buytendijk ermöglichte in Groningen den universitären Wiedereinstieg, Studenten versteckten und schützten Plessner im Krieg, 1946 übernahm der deutsche Gelehrte die Stelle des in Auschwitz ermordeten Leo Polak – eine sehr frühe niederländische Geste der Versöhnung. 1952 nach Göttingen übersiedelt, ließ die immer noch von vielen ehemaligen NS-Professoren besetzte Uni den Philosophen nur auf einen Soziologenlehrstuhl. Plessner, der gelegentlich Adorno in Frankfurt vertrat, beschützte seine Studenten bei Umfragen zur Vergangenheit des Lehrkörpers und brachte es 1960 immerhin zum Rektor der Universität, bevor er als Emeritus 1962 erster Theodor-Heuss-Professor an der ‚New School’ in New York und schließlich 1965 Dozent an der Züricher Universität wurde.

Dejung verschränkt die Sichtung des Plessnerschen Lebens (ungerade Kapitel) mit denen des Werks (gerade Kapitel). Den zentralen Bruch von 1933 deutet er als schreckliche Erfahrung, aus der heraus sich Plessners humaner Liberalismus umso stärker entfaltet hat. Dem Verfasser dieser Rezension, der selbst einmal ein als etwas „symphatetisch“ gewertetes kleines Buch über Plessner vorlegte 1, mag folgende auch selbst-kritische Bemerkung erlaubt sein: Vielleicht wird hier der späte Plessner zu sehr in den frühen projiziert. Denn nachdem Plessners Glaube an die Weimarer Republik und die Parteiendemokratie schwand, wird der grundliberale Zug in „Die Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) und besonders in „Macht und menschliche Natur“ (1931) immer wieder von autoritären Tönen gestört. Verstörend wirkt auch der einmalige Hinweis im Briefwechsel mit Josef König auf einen italienischen Faschisten, dem man sich anvertrauen könne. 2 Der publizierte Teil des Briefwechsels bricht ausgerechnet kurz nach 1933 ab, weitere Briefe finden sich nicht im Plessner-Archiv in Groningen. Darf man sich fragen, was aus Plessner geworden wäre, hätten nicht die Nationalsozialisten, sondern „nur“ ein autoritäres Regime die Macht übernommen?

Autoren wie der Philosoph Rüdiger Safranski und der Germanist Helmut Lethen meinen bei Plessner zumindest philosophisch-systematische Widersprüche ausmachen zu können und streichen einen kalt-machtpolitischen Zug in dessen politischer Philosophie der 20er-Jahre heraus. 3 Die geforderte stete Erweiterung des kulturellen Welthorizontes lasse sich auch territorial deuten, so Safranski. Aus Lethens Sicht maskiert Plessners Mensch sein eigenes Wesen in Großstadt- und Welterschließung so sehr, dass es zu verkümmern drohe. Dejung zeichnet Plessner ganz anders: Als jemanden, der statt sein Gegenüber machtvoll in die Wehrlosigkeit zu taktieren, in der höflichen Bergung von dessen eigensten Charakteren und Fähigkeiten an „Welt“ gewinnt. Tatsächlich hatte sich Plessner, anders als der im katholisch-alemannischen Milieu aufgewachsene und im Weltwinkel Todtnauberg geborgene Konkurrent Heidegger, in Holland, der Schweiz und den USA stets in neuen Rollen ausprobiert. Die Dialektik von Vertraut und Unvertraut war ihm Spielverhältnis, bis er mit 92 Jahren 1985 in Göttingen starb. In diesem Sinne ist das Plessner-Porträt des Schweizers Dejung ein historisches Lese- und Reisebuch zu Selbsterkenntnis einer deutschen Geisteslandschaft, die sich von imperialer Selbstbespiegelung über Weimarer Experimentierfreude weitet und dann bis zur zivilisierten Bonner Bescheidenheit verengt.

Vielleicht nicht zufällig also wurde Plessners Werk nach der Wiedervereinigung in der „Berliner Republik“, in der Deutschland mehr nationale und internationale Verantwortung zuwächst, verstärkt gelesen, erforscht und dann auch bei Suhrkamp als Paperback neu aufgelegt. Die nächsten Biografien sind bereits in Arbeit.

Anmerkungen:
1 Schüßler, Kersten, Helmuth Plessner. Eine intellektuelle Biographie, Berlin 2000.
2 König, Joseph; Plessner, Helmuth, Briefwechsel 1923-1933, hg. v. H.-U. Lessing und Almuth Mutzenbecher, Freiburg im Breisgau 1994.
3 Safranski, Rüdiger, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994; Lethen, Helmut, Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994.

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