Titel
Geschichtsgefühl. Ästhetik und Kommunikation


Herausgeber
Cammann, Alexander; Hacke, Jens; Schlak, Stephan
Reihe
Heft 122/123, 34. Jahrgang, Winter 2003
Erschienen
Berlin 2004: PR Kolleg Berlin
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Morat, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Nicht zuletzt mit den aktuellen Debatten um die deutschen Opfer von Bombenkrieg und Vertreibung sind die kollektiven Gefühle in den zeithistorischen Diskurs zurückgekehrt. Dass die Auseinandersetzung um die (nationale) Vergangenheit allerdings nicht nur bei diesen Themen emotional aufgeladen ist, macht die aktuelle Doppelnummer der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation deutlich, die von Alexander Cammann, Jens Hacke und Stephan Schlak herausgegeben wurde und dem Thema „Geschichtsgefühl“ gewidmet ist. Obwohl weder der Brand-Diskurs um Jörg Friedrich noch der Streit um das Vertriebenen-Zentrum direkt aufgegriffen werden, geht es auch in diesem Heft vornehmlich um die doppelte deutsche Vergangenheit und ihre stete Gegenwart nach 1990. Zwar weist Ernst Nolte in seinem Interview auf die allgemeine Bedeutung von Emotionen in der Geschichte hin, indem er gegen den (marxistischen) Glauben an die Interessengeleitetheit historischer Akteure ins Feld führt, dass Menschen primär „von ihren Überzeugungen, ihren Passionen und ihren Emotionen“ geleitet seien. Doch in der Mehrzahl der Beiträge geht es nicht um die Frage nach Funktion und Bedeutung von Gefühlen in der Geschichte, sondern um die emotionale Aufladung, um die affektive Valenz der historischen Vergangenheit in der erinnernden Gegenwart. „Mein Geschichtsgefühl, Deutschland betreffend“, so wird der einem auf Seite 13 fotografisch entgegengrübelnde Martin Walser zitiert, „ist der Bestand aller Erfahrungen, die ich mit Deutschland gemacht habe.“ So wie Martin Walser denken auch die meisten der Autorinnen und Autoren beim Thema Geschichtsgefühl vornehmlich an Deutschland und sind dabei, wenn nicht um den Schlaf, so doch in Wallung gebracht.

Dass die Fixierung auf die deutsche Nation gerade ein Ergebnis der zunehmenden Emotionalisierung des Geschichtsdenkens seit den 1980er-Jahren sei, dass Geschichtsgefühl und „nationszentrierte Historisierung“ mithin genuin zusammenhängen, argumentiert Paul Nolte in seinem Beitrag über „Jürgen Habermas und das bundesrepublikanische Geschichtsgefühl“, der zu den lesenswertesten des Heftes gehört und in dem er den linksintellektuellen Wandel von der Gesellschaftskritik zur nationalen Geschichtspolitik seit den 1960er-Jahren beschreibt. Während sich die Geschichte für Habermas und die an einer „Rekonstruktion des historische Materialismus“ interessierte Linke noch in den 1970ern vornehmlich „kalt und hart“ angefühlt habe, sei auch diese – also die Linke zusammen mit Habermas – in den 1980er und 1990er-Jahren am „kulturpolitischen Historisierungstrend“ beteiligt gewesen und habe durch die Etablierung eines „kuscheligen“ Geschichtsgefühls konservative Felder besetzte. (Nolte weist zurecht darauf hin, dass Habermas’ „Verfassungspatriotismus“ auch auf der zweiten Begriffshälfte zu betonen ist.) Die von Nolte praktizierte Gleichsetzung von Gesellschaftskritik mit historischer Reflexion und von Geschichtsgefühl mit nationaler Identitätsstiftung folgt dabei allerdings einer zu schematischen Entgegensetzung von „Denken“ und „Fühlen“, die einer methodischen Fruchtbarmachung „gefühlter Geschichte“ tendenziell entgegen steht. (Dazu unten mehr.)

Neben dem Artikel über Habermas thematisiert auch Stephan Schlaks Beitrag über Hans-Ulrich Wehler die altlinke Geschichtspolitik, kritisiert Wehler aber in erster Linie dafür, es sich im vierten Band seiner Gesellschaftsgeschichte mit dem „Charismatiker“ Hitler zu einfach zu machen und in der Debatte um den EU-Beitritt der Türkei mit genau den Argumenten abendländische Geschichtspolitik zu betreiben, die er früher an seinen bundesrepublikanischen Diskurskontrahenten kritisierte. Dem Geschichtsgefühl der alten Bundesrepublik ist schließlich auch das zweite Interview des Bandes mit Odo Marquardt gewidmet sowie Per Leos Arbeit am Mythos von Bern (auch wenn er in deren Verlauf die Erfindung der deutschen Fußballtugenden von 1954 in das Jahr 1930 zurückverlegt).

Dass dieses westdeutsche Geschichtsgefühl das ostdeutsche nach 1989/90 überlagerte, kann Albrecht von Lucke in seiner Kritik an der „westlich dominierten Erinnerungskultur“ überzeugend darlegen, indem er auf die geschichtspolitische Verdrängung des 17. Juni 1953 durch 1968 als den „zweiten Gründungsmythos der [Bundes-]Republik“ hinweist. In seiner revolutionären Bedeutung unterschätzt werde allerdings nicht nur der Aufstand von 1953, sondern auch das Ende der DDR selbst, so Alexander Cammann in seinem Beitrag über die „ignorierte Revolution“ von 1989. Dass die Revolutionsgeschichte von 1989 „als Forschungsgegenstand intellektuell nicht ernst genommen“ werde, führt Cammann in erster Linie auf das „postnationale Geschichtsgefühl der Bonner Republik“ und ihren „Anti-Pathos-Reflex“ zurück, dem die existenzielle und unironische Aufladung des Wende-Geschehens fremd geworden sei. Dass es in der DDR im Gegensatz zum post-historischen Westen noch um etwas gegangen sei („nothing goes, but everything matters“ statt „anything goes, but nothing matters“), sei umgekehrt aber gerade der Antrieb für die „um 1970 geborenen West-Menschen“ gewesen, nach 1990 in den wilden Osten (zumeist Berlins) zu ziehen, wie Eva Behrendt in ihrem Artikel über die „West-Ostalgie“ darlegt. Indem Behrendt nach dem „emotionalen Bild vom Osten“ bei der Westjugend fragt, beschreibt sie eine ganz anders gelagerte Überformung der ostdeutschen Vergangenheit durch den westdeutschen Blick. Diese „west-ostalgische Schwärmerei“ sei allerdings bald abgekühlt. Sie hat heute einer ernüchterten Verabschiedung der DDR-Geschichte in die Ostalgie-Shows Platz gemacht, zu deren Kritik auch die erhellenden Überlegungen von Wolfgang Engler über die „DDR-Vergangenheit zwischen literarischer Archäologie und medialem Schlussverkauf“ einen Beitrag leisten.

Nicht nur durch diese Beiträge zur DDR-Vergangenheit geistert im Übrigen ein Gespenst, das seit 1989 in vielen deutschen Geschichtsdebatten umgeht: die Generation. Auch das ältere bundesrepublikanische Geschichtsgefühl wird mit Habermas und Wehler, Marquard und Nolte anhand einer spezifischen Nachkriegs-Generationslage vermessen. Dabei entsteht zudem der Eindruck, dass in diesem Heft die ‚lange Generation’ der geschichtspolitisch so einflussreichen ‚45er’ zwar noch einmal aufgerufen wird, sich ihr gegenüber aber gleichzeitig eine jüngere Generation der heute Anfang 30-jährigen (zu der die Mehrzahl der Autoren gehört) formiert, die nun ihr eigenes Geschichtsgefühl reklamiert. Am deutlichsten wird das vielleicht in Stephan Schlaks Wehler-Kritik, die zusammen mit der nach und nach abtretenden „Generation Wehler“ gleich auch den „ergrauten“ Geschichtsort Bielefeld und das verblasste Charisma der Kritischen Theorie verabschieden will.

Bei alledem bleibt der Begriff „Geschichtsgefühl“ selbst allerdings vage. In erster Linie scheint damit die emotionale Haltung besagter Generationen als „Wahlverwandtschaften der Geburt“ (Wolfgang Engler) in Bezug auf ihre Zeitstelle in der (deutschen) Geschichte gemeint zu sein. Dass Geschichtsbetrachtung und Geschichtshandeln immer emotional „gestimmt“ sind, wird allerdings nicht genauer ausgeführt, obwohl etwa Martin Heidegger, von dem ein solcher daseinsanalytischer Begriff der „Stimmung“ zu gewinnen wäre, ebenfalls als Gespenst durch das Heft geistert. (Ein Brief von ihm an Ernst Nolte aus dem Jahr 1965 ist gar im Handschriftenoriginal wiedergegeben, Philipp Felsch verweist auf ihn in seiner Rekonstruktion der Entdeckung des „Alltags“ im nervösen Zeitalter der Jahrhundertwende, Arnhelm Neusüss thematisiert das „Vorlaufen zum Tod“ im Rahmen seiner essayistischen Funktionsbestimmung der Kunst.) Nur weil das Geschichtsgefühl in diesem Sinn nicht als konstitutiver Bestandteil jeder historischen Reflexion erkannt wird (auch was sich, nach Paul Nolte, „kalt und hart“ anfühlt, „fühlt“ sich ja an), kann es zu der bereits angesprochen einseitigen Gegenüberstellung von kritischer Geschichtsreflexion einerseits und unkritischem Geschichtsgefühl andererseits kommen, die nicht nur im Artikel Paul Noltes anklingt, sondern etwa auch im Editorial, in dem die Herausgeber das Geschichtsgefühl als mögliche Gefahr für die historische Aufklärung charakterisieren.

Das Problem der Bedeutung von Gefühlen bei jeder Geschichtsbetrachtung tangiert schließlich auch die Frage nach den Medien der Geschichte. Denn nur weil etwa Bilder (angeblich) mehr und leichter Gefühle wecken als Texte, sind sie ja nicht per se ‚unkritischer’, sondern gerade in der Lage, bestimmte und von Texten nicht gespeicherte Vergangenheitsdimensionen in die Anschauung zu heben. Das so gewendete Thema der „Sinnlichkeit“ historischer Anschauung wird in den beiden Ausstellungsbesprechungen von Hilmar Sack über die Holocaust-Ausstellung von 2002 und von Dieter Hoffmann-Axthelm über die „Kunst in der DDR“-Ausstellung von letztem Jahr leider nicht behandelt. Allerdings finden sich Hinweise dazu in dem lesenswerten Beitrag von Jan-Friedrich Mißfelder „Über das Hören historischer Opernaufnahmen“, der deutlich macht, dass „im Knistern der Schallplatte“ ein „Gefühl für Geschichte“ ganz eigener Art transportiert wird, welches so nur im Totenreich vergangener Stimmen zu erlangen ist.

Methodisch ließe sich der Begriff des Geschichtsgefühls also sicher noch weiter und genauer ausleuchten. Dass er es verdient hätte und dass er der bekannten Gegenüberstellung von Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur eine weitere, die scheinbare Dichotomie irritierende Komponente hinzufügen könnte, macht dieses Heft mit seinen vielfältigen Anregungen jedenfalls deutlich. Die Anstrengungen der Herausgeber, Autorinnen und Autoren sind allerdings nicht in erster Linie auf eine wissenschaftlich strenge Methodendiskussion gerichtet, sondern stellen selbst gleichsam Übungen in Geschichtsfühligkeit dar. Das Geschichtsgefühl wird so immer auch als (generationelles) Lebensgefühl der Gegenwart erkennbar. Und in Bezug auf dieses gegenwärtige Lebensgefühl haben uns die „Alten“ vielleicht doch noch etwas zu sagen: Wenn Guido O. Kirner (Jahrgang 1967) das Geschichtsgefühl der postmodernen Gegenwart als „Krise ohne Alternative“ durch eine „Grundstimmung des Abschieds und des Verlusts der Moderne“ geprägt sieht, so möchte man ihm gerne mit dem im Heft direkt nachfolgenden Odo Marquard (Jahrgang 1928) entgegnen: „diesen unendlichen Krisenstolz können wir uns gar nicht leisten“. Paul Nolte ist also durchaus zuzustimmen, wenn er den Intellektuellen in der Tradition unzeitgemäßer Betrachtungen rät, „der übermäßigen Historisierung Grenzen zu setzen und sich wieder dem Gegenwartsprojekt der Gesellschaftsreform zuzuwenden“. Wobei hinzuzufügen wäre, dass es sich hier nicht um eine einfache Alternative handelt. Auch die Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung sollte immer mit einem Gefühl für Geschichte betrieben werden.

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