F. Ebbinghaus: Ausnutzung und Verdrängung

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Titel
Ausnutzung und Verdrängung. Steuerungsprobleme der SED-Mittelstandspolitik 1955-1972


Autor(en)
Ebbinghaus, Frank
Reihe
Zeitgeschichtliche Forschungen 22
Erschienen
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Roesler, Berlin

Bis 1989 durchaus kein Tabuthema, aber von der Geschichts- bzw. Wirtschaftsgeschichtsschreibung der DDR nur am Rande behandelt, hat die Geschichte der privaten Unternehmen nach 1990 eine Aufwertung erfahren. Das ist schon erstaunlich, gehört doch die Wirtschaft zu den Stiefkindern der Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Auf die Geschichte des privaten Unternehmertums trifft diese Vernachlässigung nicht zu. Vielleicht, weil dieser Teil der Geschichte der Wirtschaft besser in das Täter-Opfer-Klischee passt als etwa die Geschichte der Bildung und Funktionsweise der volkseigenen Kombinate.

Allerdings war die DDR das Land des kommunistischen Osteuropas, in dem "Industriekapitalisten", die Gruppe, die heute als "kleine und mittlere Unternehmer (KMU)" bezeichnet wird, nicht nur bis Ende der 40er, sondern bis Anfang der 70er-Jahre wirtschaftlich eine Rolle spielten. Diese Art "Opfer des SED-Regimes" wurde offensichtlich nicht nur gejagt. Sonst hätten diese Unternehmer nicht bis 1972 in fünfstelliger Zahl überleben können. Ebbinghaus spricht deswegen auch nicht von Liquidierung, sondern von "Ausnutzung und Verdrängung" als Behandlungsform dieser Unternehmen durch den Staat. Für die detaillierte Untersuchung ausgewählt hat Ebbinghaus allerdings die reinen "Verdrängungsphasen" der Jahre 1958 bis 1960 und der Zeit vom Dezember 1970 bis Ende 1972. Auf diese Zeiträume entfallen zwei Drittel des Umfangs seiner Untersuchung. Dies ist nun an sich kein Nachteil, denn die beiden Kampagnen zur Sozialisierung von Privatwirtschaften nahmen zu ihrer Zeit einen wichtigen Platz in der Wirtschaftspolitik der DDR ein. Und gerade bezüglich der Funktionsweise dieser Kampagnen gab es in der Forschung bisher eine ganze Reihe offener Fragen. Insofern ist der Autor mit seinem Buch erfolgreich eine Forschungslücke angegangen.

Schon eher problematisch ist, dass Ebbinghaus in Untertitel und in der Einleitung davon spricht, dass seine Schlussfolgerungen zur Rolle des privaten Unternehmertums in der DDR sich auf einen "langen und in sich relativ geschlossenen Untersuchungszeitraum" der Entwicklung der privaten Industrie beziehen (S. 11). Denn eine Gesamtschau - auch nur für den im Untertitel angegebenen Zeitraum - hat er nicht geliefert. Noch problematischer ist, dass Ebbinghaus aufgrund der zweifellos auf aufwändigen Archivstudien beruhenden Untersuchungen über einmal drei und einmal zwei Jahre zu Urteilen hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und privater Wirtschaft gelangt, die über große Strecken des empirischen Nachweises entbehren.

Doch zunächst zu dem erfreulichen Erkenntniszuwachs, den Ebbinghaus durch seine Recherchen über zwei Sozialisierungskampagnen (eine dritte, die vom Herbst 1952 bis Mitte 1953, bleibt durch die zeitliche Beschränkung seiner Untersuchungen außer Betracht) zutage gefördert hat. Seine wohl wichtigste neue Erkenntnis betrifft den Widerspruch zwischen ursprünglich beabsichtigten und dann tatsächlich realisierten Verstaatlichungen. Was Forscher schon immer frappiert hat, ist, dass die eindeutig "von oben" eingeleiteten Sozialisierungskampagnen bald deutlich über das Ziel hinausschossen, d.h. dass mehr "sozialisiert" wurde als ursprünglich beabsichtigt. Das Bild vom Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird, bietet sich an. Es passte nur nicht in das Bild von der zentralistisch gelenken Wirtschaft. Ebbinghaus belegt zunächst einmal detailliert, was den Wirtschaftshistorikern generell schon vorher bekannt war: Anderthalb Jahre nach Beginn der ersten im Buch behandelten Sozialisierungskampagne gelang es Ulbricht nicht ohne Mühe einen Stopp der ausufernden "Umwandlungskampagne" durchzusetzen. In der Landwirtschaft wurde die Sozialisierungskampagne dagegen im Verlaufe des ersten Quartals 1960 zum Selbstläufer und endete erst, nachdem der letzte Bauernhof kollektiviert war.

Ebbinghaus kann eine empirisch untermauerte Lösung des Widerspruchs zwischen zentraler Lenkung der Kampagne und ihrer der zentralen Lenkung entglittenen "Übererfüllung" liefern. Das gelingt ihm u.a., weil er nachweisen kann, dass es innerhalb der SED-Führung in der Vorbereitung und während der Kampagnezeit widerstreitende Interessen gab. Diese waren teilweise darauf zurückzuführen, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen derartiger eigentumspolitischer Änderungen von den wirtschaftsleitenden Organen, z.B. von der Staatlichen Plankommission, anders eingeschätzt wurden als von den politischen Abteilungen des ZK. Sie spiegeln ein Dilemma der SED wider, das Ebbinghaus so formuliert: "Die im wesentlichen auf den Konsumgüterbereich beschränkte Existenz privater Produktionsmittel galt einerseits unter sozialistischen Vorzeichen als Anachronismus, der überwunden werden musste. Andererseits aber war die Konsumgüterindustrie ein wichtiges Feld zur Lösung von Fragen der Herrschaftslegitimation. Beide Zielsetzungen schlossen sich prinzipiell gegenseitig aus. Ideologisch induzierte Sozialisierungsprogramme konnten deshalb durchaus mit politischen und volkswirtschaftlichen Nützlichkeitserwägungen - etwa der Bevölkerungsversorgung – kollidieren." (S. 12f.) Prinzipiell ist das keine neue Erkenntnis. Aber der Ablauf der Sozialisierungskampagnen erklärt sich nicht nur aus der Verschiedenheit ideologischer und ökonomischer Zielsetzungen, sondern auch aus der Ausnutzung der Kampagnen für die Durchsetzung machtpolitischer Ziele sowie für die Gewinnung besserer Positionen im innerparteilichen Führungskampf von der einen gegen die andere Seite (1958/60 Ulbricht gegen seine "revisionistischen" Widersacher, 1970/72 Honecker gegen Ulbricht). Auch diesen Zusammenhang gesehen und empirisch belegt zu haben, ist ein Verdienst von Ebbinghaus.

Problematisch sind dagegen Ebbinghaus' Gesamteinschätzungen bzw. Urteile, die über die Untersuchung der beiden Kampagnen hinausgehen. Eine seiner Grundthesen ist, dass es zwischen Ulbricht und Honecker hinsichtlich ihrer Politik gegenüber dem Unternehmertum in der Industrie im Prinzip keine Unterschiede gegeben hätte. Beide hätten nicht nur das gleiche Endziel, Liquidierung des privaten Produktionssektors, verfolgt, sondern sich auch der gleichen stalinistischen (weil kampagnemäßigen) Methoden in ihrer Politik gegen die DDR-KMU bedient. Ebbinghaus spricht von der "von Ulbricht eingeleiteten und von Honecker vollendeten Vernichtung des Mittelstandes" in der DDR.

Mit dieser These stellt sich Ebbinghaus gegen alle bisher gewonnenen Erkenntnis der in- und ausländischen Forschung über kapitalistische Privatunternehmen in der DDR. Offensichtlich nicht in Erklärungsnot bringen ihn die bekannten Ulbricht-Worte von Mitte der 60er-Jahre, die den Unternehmern eine Zukunft im DDR-Sozialismus bis in die 80er bzw. 90er-Jahre und möglicherweise darüber hinaus versprachen. Der Autor lässt sich in seinem Urteil auch nicht durch diejenigen Artikel der "Ulbrichtschen" Verfassung der DDR von 1968 verunsichern, in denen privates Eigentum garantiert wird, soweit es seiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht wird.

Recht oberflächlich und nicht mehr als das übliche Klischee der "DDR-Geschichtsaufarbeitung" bietet Ebbinghaus an, wenn er abschließend die spannende Frage aufwirft, warum denn die 1990 wieder hergestellten privaten und halbstaatlichen Betriebe von 1972 in den 1990er-Jahren nicht zur Keimzelle eines gesunden ostdeutschen Mittelstandes wurden, sondern sich die über das Verfahren des Management-Buy-Out ausgegliederten Teilbetriebe von VEB unter ihren ehemals "sozialistischen Leitern" zum Kern ostdeutscher KMU entwickelten. Wenn bis 1997 bereits ein Viertel der reprivatisierten Unternehmen hatte aufgeben müssen und von den verbleibenden 2.700 Betrieben mehr als die Hälfte mit Ertragsproblemen zu kämpfen hatte und 40 Prozent als pleitegefährdet galten, dann kann man dieses Debakel nicht so einfach begründen, wie es Ebbinghaus in seiner Charakterisierung des ostdeutschen Mittelstandes tut: "Im Sozialismus geächtet und verdrängt, musste er vor den Gesetzen der Marktwirtschaft kapitulieren." (S. 345) Diese Begründung steht auch im Gegensatz zu anderen Ausführungen in seinem Buch, in denen der Autor die Privatunternehmer der DDR nicht als zur Untätigkeit verurteilte Opfer, sondern eher als in die DDR-Gesellschaft integrierte Wirtschaftsmanager sieht, wenn er das Verhalten der ehemaligen DDR-Privatunternehmer in den 90er-Jahren kritisiert: "Mentale Prägungen aus DDR-Zeiten, die den sozialen Konsens favorisierten, erwiesen sich gerade bei den idealistischen ‚Pionier-Reprivatisierern' als hinderlich für die nötigen marktwirtschaftlichen Anpassungen." (S. 344)

Als Fazit bleibt: Das Buch bringt einen erfreulichen Wissenszuwachs über den Kampagnencharakter der Verstaatlichung von privaten und halbstaatlichen Betrieben in der DDR 1958/60 und 1970/72, gepaart allerdings mit teilweise in sich widersprüchlichen, generell wenig überzeugenden und empirisch unzureichend abgesicherten Aussagen über die SED-Mittelstandspolitik generell.

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