Cover
Titel
False Start. Jewish Studies at German Universities during the Weimar Republic


Autor(en)
Wassermann, Henry
Erschienen
Amherst 2003: Prometheus Books
Anzahl Seiten
253 S
Preis
$45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heidemarie Petersen, Geisteswissenschaftliches Zentrum, Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Der Titel des Buches führt den Leser erst einmal gründlich in die Irre. Der aus amerikanischen Universitäten stammende Begriff der „Jewish Studies“ kann vieles bezeichnen: Die mit jüdischen Sprachen über Hebräisch, Aramäisch bis hin zu Jiddisch oder Ladino befassten Philologien, jüdische Religionswissenschaft oder jüdische Geschichte. Hier ist indes mit „Jewish Studies at German Universities“ nichts von alldem gemeint. Es geht um einen Teilbereich protestantisch-christlicher Bibelwissenschaft, der sich dem so genannten nachbiblischen Judentum und seiner schriftlichen Überlieferung in Parallele zum Frühchristentum widmet.

Das Buch behandelt also nicht die (gescheiterten) Versuche der Etablierung einer genuin jüdischen „Wissenschaft des Judentums“ an den Universitäten der Weimarer Republik, sondern „Jüdische Wissenschaften“ (S. 13) als ein Spezialgebiet protestantischer Theologie. Aus der Lektüre wird schnell deutlich, dass es sich bei „Jüdischen Wissenschaften“ um einen notgedrungen synthetisierenden Hilfsbegriff handelt. An den deutschen Universitäten, wo man diese Spezialstudien betrieb, wurden sie weder eindeutig benannt noch einem bestimmten Fach zugeordnet. Während sie zum Beispiel in Leipzig mit dem bereits 1886 von Franz Delitzsch begründeten „Institutum Iudaicum“ einen festen institutionellen Platz innerhalb der theologischen Fakultät bekamen, wurden sie anderen Orts wie etwa in Bonn der Semitistik bzw. den Orientwissenschaften zugewiesen. Die eingerichteten Lektorate respektive Dozenturen lauteten wahlweise „Semitische Sprachen“, „Nachbiblisches Judentum“, „Religionsgeschichte“ oder eben „Jüdische Wissenschaften“.

Die Genese des Faches lässt sich dagegen eindeutig benennen: Die historisch-kritische Erforschung der biblischen Überlieferung, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den protestantisch-theologischen Fakultäten etablierte, konnte nicht umhin, den jüdischen Entstehungskontext dieser Überlieferung einzubeziehen. Dabei ging es nicht darum, wie bei der „Wissenschaft des Judentums“, den Judaismus in seinem Eigenwert zu erforschen, sondern um eine Apologie der vermeintlich überlegenen christlichen Religion. Die von protestantischen Theologen an deutschen Universitäten initiierten „Jüdischen Wissenschaften“ dienten also vorrangig dem Zweck, die christliche Deutungshoheit über die biblische Überlieferung historisch-kritisch abzusichern und letztlich gegenüber dem konkurrierenden Paradigma der „Wissenschaft des Judentums“ zu behaupten. Aus dieser grundlegenden Konkurrenzsituation erklärt sich auch, dass es selbst in der von Wassermann behandelten Weimarer Republik nicht zu einer Kooperation von jüdischer „Wissenschaft“ und christlichen „Wissenschaften“ kam. Während man von jüdischer Seite, wie Wassermann am Beispiel von Rezensionen zeigt, den „Jüdischen Wissenschaften“ protestantischer Theologen zwar distanziert, aber nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstand, ignorierten die christlichen Bibelwissenschaftler weitgehend die Arbeit ihrer jüdischen Kollegen. Dennoch kam man ohne jüdische Expertise nicht aus. Statt aber die Zusammenarbeit mit den etablierten Institutionen der „Wissenschaft des Judentums“ in Breslau und Berlin zu suchen, engagierte man osteuropäisch-jüdische Gelehrte wie Israel Isser Kahan (in Leipzig), die eine traditionelle Jeschiwah-Ausbildung durchlaufen hatten. Leider geht Wassermann nicht auf mögliche Motive einer solchen Berufungspolitik ein: Warum zog man die orthodoxen „Ostjuden“ den deutschjüdischen Wissenschaftlern vor?

Zeitlich konzentriert sich die Darstellung auf die Jahre der Weimarer Republik, greift aber teilweise bis ins ausgehende 19. Jahrhundert zurück. Damit schließt sie an die 1999 erschienene Studie von Christian Wiese zum Verhältnis von „Wissenschaft des Judentums“ und protestantischer Theologie im Wilhelminischen Deutschland an.1 Die Frage, ob und warum die politische Zäsur von 1918 eine Zäsur in diesem Verhältnis bedeutete, bleibt dabei offen.

Ungeachtet des Problems sinnvoller Zeitschnitte sind verschiedene Blickwinkel denkbar, aus denen man das Thema angehen könnte - etwa als Institutionengeschichte der Universitäten und ihrer theologischen Fakultäten oder als kontextualisierte Untersuchung großer Publikationsvorhaben wie der „Giessener Mischna“ oder der „Biblia Hebraica“. Wassermann hat einen deskriptiv-biografischen Zugang gewählt: In acht Fallstudien zeichnet er die Entwicklung der „Jüdischen Wissenschaften“ anhand des akademischen Werdeganges einzelner Personen nach. Im Einzelnen sind die Kapitel den protestantischen Theologen und/oder Orientalisten Paul Fiebig, Walter Windfuhr, Hugo Gressmann, Gerhard Kittel (dem Sohn Rudolf Kittels, des Herausgebers der „Biblia Hebraica“) und Paul Kahle sowie den jüdischen Wissenschaftlern Israel Isser Kahan, Lazar Gulkowitsch und Mojssej Woskin gewidmet, die an den Universitäten in Leipzig, Halle, Berlin, Göttingen, Giessen, Bonn und Hamburg tätig waren. Warum gerade diese Personen ausgewählt wurden, wird nicht erläutert, auch die sehr unterschiedliche Gewichtung in Länge und Ausführlichkeit der Einzelbiografien – zwischen zehn und dreißig Seiten - wird nicht eigens begründet. Ein Kapitel ist - vom biografischen Konzept abweichend - einer Institution, dem Lektorat für „Jüdische Wissenschaften“ an der Universität Giessen gewidmet.

In seinem Vorwort gibt Wassermann zweierlei methodische Referenzen an: Zum einen verweist er auf Thomas Kuhns Untersuchung der „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ und das dort entwickelte Modell der Abfolge von „Normalwissenschaft“, „Krise“ und „Paradigmawechsel“ im Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis 2. Zum anderen schlägt er ein diskursanalytisches Verfahren vor, dessen Provenienz nicht näher erläutert wird. Wassermann unterscheidet fünf „Narrative“ resp. Diskursstränge, die zu untersuchen seien: 1. „Jüdische Wissenschaften“ versus „Wissenschaft des Judentums“ im allgemeinen akademischen Kontext der Weimarer Republik; 2. Die wissenschaftsinternen Kriterien, die die Anerkennung oder Ablehnung „Jüdischer Wissenschaften“ als akademischer Disziplin im Einzelnen gelenkt haben; 3. Das Verhältnis von Christentum und Judaismus im theologischen Diskurs; 4. Das Verhältnis von Juden und Christen im gesellschaftlichen Diskurs der Weimarer Republik; und schließlich 5. „Fachklatschen und Fachsimpeln“ oder: „what academic life is all about“ (17f.).

Wassermann bekennt, dass ihn der letzte Aspekt am meisten interessiert habe, und in der Tat ist dies das eigentliche Thema des Buches. Mit nie erlahmendem polemischem Eifer geißelt er die Unzulänglichkeiten des akademischen Betriebs und führt Kapitel um Kapitel vor, wie universitäre Karrieren jenseits fachlicher Kompetenzen „gemacht“ wurden. Kaum eine der porträtierten Personen entgeht dem Verdikt, sie sei für die ihr übertragenen wissenschaftlichen Aufgaben eigentlich völlig ungeeignet gewesen – sei es aus fachlichen, charakterlichen oder sonstigen Gründen. Das ist zwar süffig zu lesen, aber nur von begrenztem Erkenntniswert. Das Ziel, anhand exemplarischer Biografien die Entwicklung der „Jüdischen Wissenschaften“ in der Weimarer Republik nachzuvollziehen, wird auf diese Weise verfehlt.

Die anderen von Wassermann angesprochenen „Narrative“ finden dagegen kaum explizite Berücksichtigung, auch Thomas Kuhns Theorem vom wissenschaftlichen „Paradigmawechsel“ wird nicht wieder aufgegriffen.

Alles in allem ist „False Start“ leider eine verschenkte Gelegenheit, das von Christian Wiese für das ausgehende 19. Jahrhundert detailliert analysierte Thema für das beginnende 20. Jahrhundert fortzuschreiben: Die im Vorwort gemachten methodologischen Versprechungen werden nicht eingelöst, und Wassermanns ausgeprägtes Interesse für akademischen „Fachklatsch“ überlagert letztlich die anderen von ihm angesprochenen Aspekte.

Anmerkungen:
1 Wiese, Christian, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland – Ein Schrei in’s Leere?, Tübingen 1999.
2 Kuhn, Thomas, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1976 (engl. Chicago 1962).

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