Titel
Isaak Dunaevskij - Sänger des Volkes. Eine Karriere unter Stalin


Autor(en)
Stadelmann, Matthias
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael John, Lotman-Institut für russische und sowjetische Kultur, Ruhr-Universität Bochum

Der St. Petersburger Komponist Boris Tischchenko, ein Vertreter der russischen Nachkriegsavantgarde, bezeichnete die Musik Isaak Dunaewskiis in seinem Anna Achmatowa gewidmeten „Requiem“ aus dem Jahre 1968 als klingende Insignien des stalinistischen Terrors: „Ich habe das Lied Dunaewskiis „Von der Heimat“ durch ein dodekaphonisches Thema parodiert. Überall taucht dieses Thema wie ein Trugbild auf, wie ein fälschliches Antlitz dieser trügerischen Freiheitsvorstellung, die besungen wurde, obwohl gleichzeitig Millionen von Menschen inhaftiert, verurteilt, abgeführt oder erschossen und dann unter die Erde gebracht wurden.“1 Tischchenko (geb. 1939), der sich als Vertreter der Nachkriegsavantgarde einer reglementierten Kultur- und Verbandspolitik unterordnen musste, sah in Dunaewskii den Komplizen und Hofkomponisten des stalinistischen Regimes.

Das Bild, das uns Matthias Stadelmann vom Liedkomponisten und Begründer des sowjetischen Massengenres Isaak Dunaewskii in seiner nunmehr publizierten Doktorarbeit vorlegt, ist weitaus sachlicher und stellt dessen Musik in keinen Zusammenhang mit dem stalinistischen Terror. Vorsichtig zeichnet er die biografischen Konturen einer historischen Persönlichkeit nach, die von der Zeitgeschichte, zahlreichen Exegeten und Kritikern nur zu oft instrumentalisiert wurde. In seiner Studie zeigt sich gleichermaßen Einfühlungsvermögen in die Person und ihre gesellschaftlichen Kontexte wie hinreichende Distanz gegenüber dem historischen Subjekt. Und so macht Matthias Stadelmann deutlich, dass auch in Zeiten diskurstheoretischer Geschichtsschreibung ein in letzter Zeit weniger prominentes wissenschaftliches Genre - die Biografie – maßgebliche und zeitgeschichtlich relevante Erkenntnisse zu Tage fördern kann.

Das Buch gliedert sich in sechs Teile, die biografische Fakten und gesellschaftspolitische Darstellungen parallel behandeln. In der Einleitung werden verschiedene Ansätze der Stalinismusforschung zusammengefasst und reflektiert.

Der zweite Teil (S. 19-106) gibt einen Einblick in Dunaewskiis künstlerische Entwicklung. Stadelmann schildert ausführlich die kulturpolitische Auseinandersetzung um die sowjetische Estrade, die Ideologisierung der nachrevolutionären Salon- und Kleinkunst und die Kampagnen gegen das so genannte „leichte Genre“. Der sozialistische Umbau unter Stalin mündete Anfang der Dreißiger-Jahre in die „Kulturrevolution“ (S. 52f.) beziehungsweise „Rekonstruktion“ (S. 56ff.). Ziel war es, die vielfältigen Erscheinungsformen der Klein- und Unterhaltungskunst dem ideologiekonformen Diskurs anzuschließen und nachhaltig zu „sowjetisieren“. Doch auch nach 1932 erklangen weiterhin jazzige Nummern, wie beispielsweise Gershwins Rhapsody in Blue. Dunaewskii landete zu dieser Zeit mit der Filmmusik zu den „Fröhlichen Jungs“ (Regie: Grigori Aleksandrow) seinen ersten wirklich großen Erfolg.

Von diesen Erfolgen handelt der dritte Teil des Buches (S. 103-206). Dunaewskii avancierte in den Dreißiger-Jahren trotz heftiger Anfeindungen in der Presse und ideologisch begründeter Vorbehalte gegenüber dem Film „Fröhliche Jungs“ zum beliebtesten Volkskomponisten und Begründer einer neuen Stilistik des Massenliedes, das geschickt ideologiekonforme Zwischentöne hinter populären Melodien und unbekümmerten Rhythmen verbarg. Der Marsch der „Fröhlichen Jungs“ geriet zu einem ersten Versuch der sowjetischen Identitätsstiftung in populärmusikalischem Gewand (S. 140). Die „Solemnisierung“, das heißt Zelebrierung der Unterhaltungsmusik, deutete den jüdisch-ukrainischen zum sowjetischen Jazz um und fand in der sowjetischen Folklore und volkstümlichen Lyrik eine ideologische Heimstatt.

Die Dreißiger-Jahre waren Dunaewskiis Blütezeit, und so verwundert es nicht, dass ein Ausnahmemusiker wie er auch mit hohen Würden und repräsentativen Funktionen ausgezeichnet wurde. Der vierte Teil (S. 207-331) schildert Dunaewskiis Wirken in öffentlichen Ämtern. Im Jahre 1937 wurde er Vorsitzender des Leningrader Komponistenverbandes. Ziel dieser Einsetzung Dunaewskiis war es, die massenwirksame Musik auch unter den weniger öffentlichkeitswirksamen Komponisten der „Ernsten Musik“ zu verbreiten. Minutiös beschreibt Matthias Stadelmann das Innenleben einer sowjetischen Kulturinstitution, so wie dies bislang noch nicht geleistet wurde. Klar wird anhand seiner Darstellungen, dass die Arbeit im Verband bei weitem nicht rein ideologischen und parteipolitischen Gesichtspunkten folgte. Das fehlende Regelwerk zum „sozialistischen Realismus“ und nur implizite Bewertungskriterien zur ästhetischen Einordnung der Kunstwerke, die Seilschaften innerhalb der Kommunistischen Partei und den Verbänden lassen die Unvorhersehbarkeit der politischen Urteile zu Zeiten des stalinistischen Terrors ahnen.

Zu Kriegszeiten reiste Dunaewskii mit dem Eisenbahnerensemble durch das sowjetische Hinterland. Stadelmann bezeichnet die Jahre 1941-1945 als den „großen Bruch“ in Dunaewskiis Laufbahn. In den Teilen V und VI (S. 331-382 und S. 383-446) meint er eine Abwärtskurve in dessen Karriere auszumachen: Grassierender Antisemitismus, Dunaewskiis unbeirrtes Festhalten an Operette und fröhlichem Liedmarsch, seine persönliche Lage und wachsender Widerstand unter seinen Komponistenkollegen werden dafür als Indizien angeführt, ungeachtet der weiteren Erfolge seiner Operetten und Filmmusiken und der nachhaltigen Popularität im Volk. Andere Komponisten wie Blanter, Mokrousow, Nowikow hatten seinen Stil kopiert und vermochten nun ebenso gut den Nerv der Gesellschaft zu treffen. Politisch schienen nach 1945 das lyrische Partisanen- und Soldatenlied mehr Konjunktur zu besitzen.

Der Volkskomponist Dunaewskii wandte sich ab Mitte der 1940er-Jahre stärker der Innensicht und Reflexion zu, was in den zahlreichen Briefen an seine jungen Brieffreundinnen zum Ausdruck kommt. Er haderte mit den prinzipienlosen Komponisten, die alte Ware mit neuem Etikett verkauften (S. 349), nahm sich als Anwalt der Ehrenwerte sowjetischer Kulturpolitik wahr und ernannte sich zum Hüter über die Güte der musikalischen Massengenres (S.371). Doch mögen die rigiden Anklagen nicht über seine gekränkte Eitelkeit und eine gesteigerte Egozentrik Ende der 40er Jahre hinwegtäuschen, denn Dunaewskii war nach wie vor der beliebteste und einflussreichste Komponist, der zudem auch die Säuberungswellen und Kampagnen des Jahres 1948 unbeschadet überstanden hatte. Seine Operetten „Freier Wind“ (1947) und der Musikfilm „Die Kosaken vom Kuban“ (1949) erfreuten sich großer Beliebtheit, im Radio erklangen täglich seine Schlager und 1951 erhielt er für die Filmmusik zu „Die Kosaken vom Kuban“ sogar den Stalinpreis. 1955 starb der „Sänger des Volkes“, kurz nachdem er einen neuen Publikumserfolg geschrieben hatte – die Operette „Weiße Akazien“.

Matthias Stadelmanns Buch ist eine weitere Etappe auf dem Weg einer historischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion der Stalinzeit. Das Buch eröffnet einen Einblick in das komplexe Verhältnis von künstlerisch-individuellen Ambitionen und ideologischen Anforderungen zwischen Musiker und Staatsorganen. Dunaewskii eignet sich als eine schillernde Persönlichkeit besonders gut, diese vielschichtigen Zusammenhänge darzustellen. Dennoch ist bei der biografischen Rekonstruktion von Schlüsselfiguren des kulturpolitischen und kunstästhetischen Systems der Sowjetunion immer auch Vorsicht geboten.

Dies gilt auch für den Umgang mit einer Reihe sowjetischbiografischer Sekundärliteratur, die Stadelmann trotz aller wissenden Distanz teilweise als authentische Quellen heranzieht. Das Buch wird an den Stellen glaubhaft, an denen aufgrund der quellenkundigen Arbeit des Autors der Mensch und Künstler Dunaewskii in den Vordergrund tritt, wie zum Beispiel in den zahlreichen Briefwechseln oder bei den vergeblichen Bemühungen um das Leningrader Miniaturentheater und die unverwirklicht gebliebene Oper „Rachel“. Als Vertreter von Parteilosungen unterscheidet sich Dunaewskii nicht wesentlich von dem Gros der übrigen Verbandskünstler und Repräsentanten. Zu eloquent und rhetorisch gewandt agierte Dunaewskii dort, als dass er sich mit unvorsichtigen Äußerungen ins politische Abseits manövriert hätte.

Der Versuch Stadelmanns, Dunaewskii gerade in seinen letzten Lebensjahren als einen aufrichtigen Kritiker der Kulturpolitik zu rehabilitieren wird dadurch angreifbar. Denn wenn es um die Position im System ging, das heißt die Aufnahme ideologischer Strömungen und das Einsetzen von parteipolitischen Argumentationen für die eigene Sache, dann lässt sich seine Ehrlichkeit nur schwer glaubwürdig darstellen. Dunaewskii als einen Einsichtigen und Kritiker des Systems innerhalb des Diskurses zu etablieren, wirkt nicht vollends überzeugend. Hinzu kommt, dass Stadelmann weite Strecken der Vierziger-Jahre anhand der überwiegend privaten Korrespondenz rekonstruiert und sich hier auch vorwiegend auf eine Briefpartnerin (Raja Ryzkin) beschränkt. Der Fokus der Arbeit scheint auf den 1930er-Jahren gelegen zu haben, was man auch an dem ungleichen Umfang ersehen kann: die Vorkriegsjahre werden wesentlich ausführlicher behandelt (S. 52-316) als die 40er und 50er-Jahre (S. 331-446). Die Figur Dunaewskii in seinen öffentlichen und privaten Belangen steht klar im Vordergrund des Buches. An manchen Stellen hätte man sich darüber hinaus vielleicht noch mehr Werkbeschreibungen gewünscht, um auch den Künstler Dunaewskii näher kennenzulernen.

Anmerkung:
1 Interview mit Boris Tischchenko vom 03.08.1996, abgedruckt in: John, Michael, Auf dem Wege zu einer neuen Geistigkeit? Requiem-Vertonungen in der Sowjetunion (1963-1988), Berlin 1996, S. 153-162.

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