P. J. Lapp: General bei Hitler und Ulbricht

Cover
Titel
General bei Hitler und Ulbricht. Vincenz Müller - Eine deutsche Karriere


Autor(en)
Lapp, Peter Joachim
Erschienen
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Stöver, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Leben oder manchmal auch Karrieren in zwei politischen Systemen waren für viele Deutsche im Zwanzigsten Jahrhundert fast die Regel: Der Wechsel von der Monarchie zur Republik, von der Republik zur Diktatur, von der Diktatur zur Diktatur oder aber auch von der Diktatur zur Demokratie. Schon eine Normalbiografie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts konnte drei politische Systeme durchlaufen. Verhalten und Strategien in solchen Lebensläufen sind seit vielen Jahren ein Thema der historischen Sozialforschung. 1

Nicht zuletzt haben einige mehr oder minder prominente Wanderer durch die Systeme und zwischen den Systemen Autobiografien vorgelegt. Einer von ihnen war der 1894 geborene Vincenz Müller, ein Berufsoffizier, der seine berufliche Ausbildung und politische Sozialisation noch im Kaiserreich erhielt, im Dritten Reich zum hoch dekorierten General und in der SBZ/DDR schließlich 1956 zum Stellvertretenden Verteidigungsminister der DDR aufstieg. Seine Autobiografie "Ich fand das wahre Vaterland", die 1963 post mortem, und von einem SED-Historiker (Klaus Mammach) betreut, im Militärverlag der DDR erschien, war selbstverständlich keine wirkliche Darstellung seiner persönlichen und politischen Entscheidungen. Sie gehört wie viele andere, z.B. im "Verlag der Nation" erschienene ähnliche Werke zur politischen Bekenntnisliteratur. Insofern stand es natürlich an, eine auf neuen Quellenfunden basierende Biografie über Vincenz Müller zu liefern, wie es Peter Joachim Lapp nun im Berliner Christoph Links Verlag getan hat.

Die Arbeit beruht vor allem auf Material aus dem Militärarchiv Freiburg, dem Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des MfS, der Stiftung Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv Berlin und Zeitzeugenaussagen, die den Autor, wie er versichert, "vor allzu großer Aktengläubigkeit bewahrten" (S. 283). Lückenlos bleibt die Biografie aber dennoch nicht, kann sie wohl auch nicht bleiben. In vielfacher Hinsicht bleibt der Leser auf Mutmaßungen angewiesen. Und Lapps Buch zeigt nicht zuletzt wie schwierig es ist, sich dem Leben eines anderen trotz vorhandener schriftlicher Quellen und Erinnerungen von Zeitzeugen zu nähern.

Lapps narrativ angelegte und leicht lesbare Darstellung über Vincenz Müller verfolgt chronologisch das Leben eines Mannes, den manche für einen routinierten Opportunisten, andere für einen Patrioten hielten, der um der besseren Sache wegen jeder deutschen Staatsführung gedient hätte. Aus christlich-kleinbürgerlichem Hause der bayerischen Provinz stammend, erzwang er förmlich, wie Lapp zeigt, seine Ausbildung zum Offizier, bewährte sich im Ersten Weltkrieg und war schließlich, als das Kaiserreich 1918 einen Waffenstillstand anbot, Oberleutnant. Anders als für viele andere brachte das Ende des Ersten Weltkrieges für Müller aber nicht das Ende seiner militärischen Karriere, sondern weitere Aufstiegschancen. Zunächst im so genannten Grenzschutz Ost, dann in der Reichswehr konnte er seine Laufbahn fortsetzen. Die Gründe, die dazu führten, dass Müller diesen Weg einschlagen durfte, der vielen höheren Dienstgraden verbaut war, bleiben in der Biografie allerdings im Dunkeln. Ebenso kommentarlos geht der Band über die Grenzschutzzeit Müllers hinweg. Was er dort genau machte, wen der junge Oberleutnant in diesem teils rechtsradikalen Milieu kennen lernte, wo er Verbindungen knüpfte, bleibt dem Leser verborgen. In Berlin, so heißt es lapidar, "unterbreitete ihm ein Major die Möglichkeit, sich dem Grenzschutz Ost zur Verfügung zu stellen, der eine Front gegen den Bolschewismus im Baltikum aufbauen und zugleich polnische Übergriffe auf deutsches Gebiet abwehren sollte". Über Müllers politische Einstellung darf man spekulieren. Indes, ein erhaltener Brief spricht wohl dafür, dass Müller, wie Lapp rekonstruiert, aus "Vernunftsgründen" (was immer das meint) zur Weimarer Republik stand. Ihr Ende, befürchtete der bei der Gründung der Republik knapp 25-jährige, führe möglicherweise zum "Zerfall Deutschlands und auch Bayerns". Eine "Herzensangelegenheit war ihm der Staat jedoch nicht", urteilt Lapp wohl zu Recht (S. 32). Parteipolitisch habe sich Müller ohnehin nicht offen geäußert - was immer das auch heißen mochte.

Was Müller tatsächlich eine Herzensangelegenheit war, bleibt dem Leser so erst einmal verborgen: Der Mann wird "zugeteilt" (S. 32), wieder "zugeteilt" (S. 34), "kommandiert" (S. 37), "abgeordnet" (S. 47), er wird in "Vorgänge [...] verwickelt" (S. 41). Er orientierte sich, wie Lapp zeigt, vor allem an Personen und dem, was er für seine Pflicht hielt. Als er ins Reichswehrministerium versetzt wurde, war es zunächst der zwölf Jahre ältere Vorgesetzte Kurt von Schleicher, dessen politisch zweifelhafte Intrigen nicht unmaßgeblich zum Ende der Republik beitrugen.

An dieser Stelle der Biografie Müllers ist es wirklich schwierig, dem Autor in der Darstellung von biografischen Wendungen und Wandlungen zu folgen. Möglicherweise liegt dies an der Quellenlage, die wohl nicht so ist, dass man die Veränderungen des mittlerweile zum Hauptmann Aufgestiegenen auch schlüssig belegen kann. Jedenfalls ist Müller, der zunächst als jemand präsentiert wird, der die Republik nicht richtig mochte, nun am Ende von Weimar "1932/33 auf der Seite der Demokraten", aber gleichzeitig "wie Schleicher offen für einen 'Dritten Weg' in der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung" (S. 49). Ob sich dies so halten lässt, ist schwierig zu sagen, Schleicher jedenfalls scheiterte bekanntlich an dem Versuch, eine Interessenskoalition unter anderem aus Gewerkschaften und dem linken Flügel der NSDAP zusammenzubinden. Hitler nahm ihm die fast erreichte Spaltung der NSDAP extrem übel und ließ ihn im Zusammenhang mit dem "Röhm-Putsch" ermorden.

Wie auch immer Müller zur NSDAP bis dahin stand, ob ihm das "'Rabaukentum' der Nazis von Beginn an fremd" (S. 49) gewesen war oder ob er "sogar mit vielen militärischen Zielen der neuen Herren sympathisiert[e]" (S. 52): Die Liquidierung von Schleicher interpretiert Lapp durchaus nachvollziehbar als Zäsur im Leben Müllers. Indes: Wie tief diese ging, ist schwer zu sagen, denn sein beruflicher Aufstieg schritt scheinbar unaufhaltsam fort. Lapp sieht das so: "Verständlicher wird seine Haltung nur, wenn man bedenkt, was eine Demissionierung nach sich gezogen hätte: [...] einen sozialen Abstieg [...]." (S. 56) Die folgenden Jahre sah man Müller dann u.a. als Kommandeur der Wehrmachtsakademie und auch als Inspekteur der deutschen Truppen in Spanien, die Franco zu Hilfe kamen, und auch zum Beispiel als Mitwirkender an den Planungen zur (bekanntlich nicht durchgeführten) Invasion der Schweiz 1940. Auch beim Überfall auf die UdSSR 1941 funktionierte Müller tadellos. Er wurde 1943 innerhalb nur eines Jahres vom Generalmajor zum Generalleutnant ernannt.

Alles dies spricht dafür, dass dieser Mann nicht nur ein tüchtiger Soldat war, sondern auch keine Fragen stellte; selbst dann nicht, als es um die systematische Ermordung von Zivilisten ging. Lapp geht davon aus, dass Müller "auch in puncto Judenverfolgung nicht unbeteiligt gewesen sein" dürfte (S. 105), ein Sachverhalt, der ihn bis weit in seine DDR-Karriere verfolgte. 1960, kurz vor seinem Tod, holte ihn diese Vergangenheit noch einmal ein. Sie wurde aber von der DDR nicht weiter verfolgt und kam auch in den wenige Jahre später vorgelegten Erinnerungen nicht vor. Lapp sieht Müller nicht nur hier, sondern auch beim geplanten Tod von Kriegsgefangenen als "Schreibtischtäter" (S. 108).

1944 kam es wieder zu einem "überraschende[n] Wandel" (S. 141) im Lebenslauf von Müller, dem nach Lapp aber trotzdem "jede Art von Renegatentum [...] zuwider" (S. 148) war: Nur einen Tag nach der Gefangennahme am 8. Juli 1944 sprach Müller bereits mit dem Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) und entschied sich knapp einen Monat später für den Beitritt - zeitgleich übrigens mit Paulus. Schon im November 1944 besuchte er die Antifa-Schule Krasnogorsk. Als er zurückkam, war er nach der Aussage von Graf Einsiedel, eines der Vizepräsidenten des NKFD ein "überzeugter Kommunist" (S. 148) - ein Urteil, das Lapp zumindest einschränken möchte: "Doch er nahm kommunistische Gedankengänge auf und näherte sich der Ideologie an, wurde aber nie ein 'in der Wolle gefärbter' Anhänger des Marxismus-Leninismus" (S. 148f.). Wie dem auch sei: Müller ging noch einen Schritt weiter und stellte sich dem sowjetischen Geheimdienst zu Verfügung. Diesen in der Tat erstaunlichen Wandel erklärt Lapp mit der Erpressbarkeit des Generals durch die Verbrechen in Russland. Tatsächlich ging Müllers geschmeidige Anpassungsfähigkeit sogar noch weiter: Er wurde zur "positiven Beeinflussung" des zögerlichen Paulus von den Sowjets eingesetzt, und Lapp geht davon aus, dass auf seine Arbeit sogar die Aussage von Paulus beim Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zurückging.

Natürlich fällt es einem Biografen schwer, die Biegungen in diesem Lebenslauf zu begründen. Lapps Vermutung ist, "daß Müller seine weltanschauliche Wende 1944/45 weniger aus innerer Überzeugung und eher als einen Willensakt aus politischer Berechung vollzog" (S. 149). Könnte es nicht viel eher sein, dass es bereits seit langem - möglicherweise seit 1918 - keine inneren Wendungen mehr waren, sondern nur noch das Akzeptieren der Gegebenheiten? So sieht es jedenfalls eher aus, als sich der General jetzt wieder den neuen Machthabern, die auch diesmal nicht "demokratisch" sind, zur Verfügung stellte. 1948: Eintritt in die Blockpartei NDPD und rasche Parteikarriere, 1953: Chef des Stabes der KVP, 1956: Stellvertretender Verteidigungsminister. Dann kam wohl der Bruch: Müller, der seit 1944 auf die Kommunisten gesetzt hatte, sah sich von der SED "fallengelassen, ausgegrenzt, aufs Altenteil abgeschoben" (S. 253), nachdem er aus "eindeutig patriotischen Beweggründen" (ebd.) Gespräche mit ehemaligen Wehrmachtsoffizieren aus dem Westen (u.a. Teske) und mit dem damaligen Bundesminister Schäffer u.a. über die Wiedervereinigung geführt hatte, die auch nach Lapps Recherche "den Straftatbestand des Hochverrats" erfüllten (S. 252). Gekränkt dachte er an Flucht in den Westen, lässt es aber.

Den Vorwurf, den man Müller immer gemacht hat, er sei ein "Karrierist", kann Lapp dann auch nicht mehr entkräften. Den 1961 vollzogenen Selbstmord Müllers ordnet er jedenfalls dem politischen und menschlichen Scheitern dieser "deutschen Karriere" zu.

Anmerkung:
1 Vgl. z.B. Fischer-Rosenthal, Wolfram; Alheit, Peter (Hgg.), Biographien in Deutschland, Soziologische Rekonstruktion gelebter Gesellschaftsgeschichte, Opladen 1995.

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