W. Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa

Cover
Titel
Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000).


Autor(en)
Schmale, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
327 S., 76 s/w Abb., 10 Graf.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Kühne, School of Historical Studies, Institute for Advanced Study Princeton

Ein halbes Jahrtausend Männlichkeit, nicht nur eines Landes, sondern eines ganzen Kontinents, und das in einem handlichen Band – das ist ein mutiges Unterfangen. Es erfordert souveräne Literaturkenntnis auf einem jungen, unübersichtlichen und ungleichmäßig bestellten Forschungsfeld, und die Bereitschaft, Akzente zu setzen und Schneisen zu schlagen. Ein 35-seitiges Literaturverzeichnis signalisiert denn auch Belesenheit, und die Aufteilung des Stoffs auf fünf große und klar abgegrenzte Epochenkapitel, drei für die Frühe Neuzeit, zwei für die Moderne, verspricht eine gewinnbringende Lektüre.

Schmale bietet eine Geschichte der „Modelle“ und Idealisierungen (oder, wie er sagt, „Idealtypisierungen“) von Männlichkeit im Gefüge kultureller „Figurationen“ (N. Elias, S. 9). Nicht beabsichtigt ist die Darstellung der vielfältigen „Männerrollen“ (der König, der Bauer, der Dandy, der Kastrat, der Kleriker, der Soldat, der Rapper). Das ist eine Einschränkung, die kaum konsequent durchzuhalten ist und auch nicht durchgehalten wird, was kein Nachteil sein muss, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Schmale immer wieder auch auf die praktischen Lebenszusammenhänge des Mann-Seins reflektiert, an denen sich jene Figurationen abarbeiten müssen. Im Übrigen aber ist die Akzentuierung des Themas durchaus sinnvoll, da die Forschung auf dieser diskursiven Ebene weiter gediehen ist als auf der praxeologischen. Auch an der Begrenzung auf die „großen Linien“ (S. 9) der Geschichte jener Männlichkeiten wird kaum jemand Anstoß nehmen. Die Frage ist, wie diese Linien ausgewählt und wie sie nachgezeichnet werden.

Gleichsam als Querachse der großen Linen wird das hegemoniale“ Männlichkeitsmodell eingezogen, dessen Genese Schmale in Anlehnung an die durch den Soziologen Bob Connell 1985 eingeführte Begrifflichkeit in die Zeit der Aufklärung datiert und dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft zuordnet. Das ist überzeugend. Männlichkeit ist in der bürgerlichen Gesellschaft eingebunden in das Konzept der Geschlechtsidentität. Hinter der biologischen Kategorisierung als Mann oder Frau treten alle anderen Differenzierungskategorien zurück. Hegemonial ist dieses Modell, weil es erstens mit dem Anspruch biologistischer Unbedingtheit und Unentrinnbarkeit auftritt, weil zweitens alternative Männlichkeiten nur noch in disqualifizierter, stigmatisierter Form oder aber im Modus der Opposition möglich sind, und weil es drittens die gesamte Gesellschaft durchzieht: Nicht nur werden verschiedene Männlichkeiten hierarchisch konfiguriert. Auch Frauenrollen und Weiblichkeit werden in Beziehung zu Männlichkeit gesetzt, die Gesellschaft wird dichotomisch in öffentliche und private Räume zerteilt. „Alles, wirklich alles: ideell, materiell, körperlich, moralisch, habituell, wird dichotomisch-geschlechtlich und asymmetrisch durch überlegene Männlichkeit markiert.“ (S. 154)

Solche hegemoniale Männlichkeit war durch soldatische Tugenden, bestimmte soziale und politische (‚staatsbildende’) Fähigkeiten, die Rolle als Familienernährer (nicht so sehr als in der Familie präsenter Vater) und durch Heterosexualität bestimmt. In der „postmodernen Gesellschaft“ lassen polymorphe Identitätsbildungen, soziokulturelle Pluralisierungsprozesse und nicht zuletzt politisch verordnete Gleichberechtigungsnormen der hegemonialen Männlichkeit „in Gestalt des Patrioten-Gatten-Berufstätigen“ immer weniger Raum. Schmales knappes und konzises Schlusskapitel entfaltet die Vision einer Gesellschaft, in der die Wahl des Geschlechts „theoretisch allen Menschen offen steht bzw. sogar von ihnen verlangt wird“ (S. 269). Über die Chancen einer solchen Gesellschaft mag man diskutieren. Dass die gegenwärtige Pluralität von Geschlechterrollen ein historisches Novum darstellt, dürfte unstrittig sein.

Die Schwäche des Buches ist nicht seine optimistische Zukunftsperspektive, sondern die heiße Nadel, mit der es am historischen Gewebe strickt. Männlichkeit in der Frühen Neuzeit war in ein Geschlechterkonzept mit – im Vergleich zur Moderne – offenen Grenzen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, nicht zuletzt auch zwischen Hetero- und Homosexualität – eingebunden. Dem historisierten Konzept der hegemonialen Männlichkeit zufolge hätte es die Aufgabe des Teils über die Vormoderne sein müssen, das Nebeneinander verschiedener Männlichkeiten deutlich zu machen, die – im Unterschied zur „Postmoderne“ – nicht individuell wählbar, sondern an Gruppen- (Standes- usw.) Zugehörigkeiten gebunden waren. Der Blick für ein solches Nebeneinander geht jedoch bei der Suche nach „Idealtypisierungen“ verloren. Schmale konstruiert eine Abfolge von dreien: Ein aus der christlichen Anthropologie gewonnener „Neuer Adam“ prägte die Zeit um 1500, die Figur des durch besondere kommunikative Fähigkeiten ausgezeichneten „Magiers“ die Renaissance, das Ideal des „Heroen“ die Männlichkeit der höfischen Konsumgesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts. Die begrenzte soziale und nicht zuletzt räumliche Reichweite dieser Idealisierungen wird zwar gelegentlich angedeutet, aber nicht problematisiert, geschweige denn zum Thema der Darstellung gemacht. Stattdessen werden die Befunde zweier Autobiografien ohne große Umschweife für repräsentativ erklärt, für ihre Zeit, für Europa. Benvenuto Cellini steht für das 16. und Samuel Pepys für das 17. bzw. frühe 18. Jahrhundert.

Autobiografien stellen zweifellos eine gute Quelle für die Untersuchung idealisierter Männlichkeiten dar. Autobiografisches Schreiben war eine soziale Praxis, die zumal in der Frühen Neuzeit primär von Männern unter Männern für Männer betrieben wurde. Die Autobiografie diente als Medium, um das Wirrwarr des gelebten Lebens zu einem kohärenten, auf verinnerlichte Vorstellungen von Männlichkeit verweisenden Bild zu ordnen. Eine Darstellungsform, welche die Geschlechterproblematik(en) einer Zeit im Spiegel ausgewählter Autobiografien einfinge, könnte zweifellos faszinierende Ergebnisse zeitigen. Aber für die Geschichte der Männlichkeit von jeweils rund 100 Jahren jeweils nur eine Autobiografie, deren Auswahl kaum diskutiert wird? Das ist denn doch etwas zu einfach. Cellinis Autobiografie gibt manches her für den Zusammenhang von kommunikativen Fähigkeiten, Ehrvorstellungen und mann-männlicher Vergesellschaftung. Die Autobiografie Pepys’ dagegen thematisiert mehr den (eigenen) Körper und die emotionale Befindlichkeit des Verfassers. Bedeutet das, dass “Ehre” und Soziabilität im 17. oder 18. Jahrhundert von geringerer Bedeutung als im 16. Jahrhundert war? Wenn ja – für wen, für die Angehörigen welcher Stände, Schichten, nicht zuletzt: Länder? Soziale und regionale Differenzierungen fallen der „Idealtypisierung“ zum Opfer. So aber lässt sich keine Geschichte der Männlichkeit schreiben, schon gar keine Europas. Schlichtweg unverständlich bleibt die Langatmigkeit und Weitläufigkeit, in der Schmale seine Autobiografien paraphrasiert und oft wörtlich zitiert. Ulrich Bräkers „Abenteuer des armen Mannes im Tockenburg“, ein keineswegs etwa heute in Vergessenheit geratener Meilenstein der Literaturgeschichte, werden auf 14 Seiten ausgebreitet. Herauszufinden, warum dieses Zitat und jenes Abenteuer die Genese der hegemonialen Männlichkeit illustriert, bleibt dem Leser überlassen.

Für die Folgezeit wird die Fokussierung auf eine Autobiografie als Spiegel der Männlichkeit einer Zeit merkwürdigerweise aufgegeben, obwohl gerade die Phase der Hegemonialität die Fortsetzung dieses Darstellungsprinzips - und die Pluralisierungstendenzen in der „Postmoderne“ zumindest die Frage nach der autobiografischen Bewältigung - nahe gelegt hätten. Stattdessen folgt nach einigen verallgemeinernden Ausführungen über die Konstruktion des “neuen Menschen“ (i.e. Mannes) in der Französischen Revolution und die Trennung zwischen politisch-öffentlich-männlichem und familiär-privat-weiblichem Raum um 1800 die vierseitige Paraphrase eines 14-seitigen Aufsatzes von Ute Frevert über die geschlechtergeschichtlichen Bedeutung der allgemeine Wehrpflicht und das Heer als Schule der männlichen Nation. Inwieweit sich diese für Deutschland gewonnenen Befunde auf ein wie immer verstandenes Europa projizieren lassen, problematisiert Schmale nicht einmal. Dass die europäischen Nationen durchaus unterschiedliche militärische Heldenkulte – doch gewiss einflussreiche „Idealtypisierungen“ – entwickelt haben, bleibt gleichfalls außen vor. Europa wird dem Leser, diffus genug, als „flexible Bennennung“ für die historisch variable Ausdehnung von „Kommunikationsnetzwerken“ vorgestellt (S. 11). In welcher Weise und wie weit sich bestimmte Männlichkeitsmodelle über diese Kommunikationswerke verbreitet haben, wird kaum auch nur angesprochen. Insgesamt wird insbesondere die angelsächsische Männlichkeitsforschung und damit Großbritannien vernachlässigt, obwohl gerade sie am weitesten fortgeschritten ist.

Abgesehen von einigen – ausgerechnet als Auftakt zum Kapitel über „polymorphe Männer“ platzierten - Bemerkungen über das Ritual des Kahlscherens von (der Kollaboration verdächtigten) Frauen in Frankreich nach Ende der deutschen Besatzung bleibt der für das 20. Jahrhundert so fundamentale, wenn auch widersprüchliche, nicht auf einfache Gleichungen zu bringende Zusammenhang zwischen industrialisiertem Krieg und Männlichkeit ausgeklammert. Eine Geschichte der Männlichkeit in Europa ohne Kriege? Nicht nur das: Dass Gewalt gegen Frauen, andere Männer und sich selbst zum „Kerntypus“ noch gegenwärtiger Männlichkeit gehört, wird im Rahmen der Paraphrase eines soziologischen Modells erwähnt. Was es damit in der Vergangenheit auf sich hatte, lässt sich einigen wenigen zufälligen Bemerkungen und Zitaten nicht entnehmen.

Besser als über die politischen und militärischen wird der Leser über die leiblich-körperlichen Dimensionen vormodernen und moderner Männlichkeit informiert. In dieser Hinsicht macht sich der – vor allem um Foucault kreisende – fortgeschrittene Forschungsstand positiv bemerkbar. Dasselbe gilt für einen längeren Abschnitt über die Medikalisierung, Stigmatisierung und Subkulturalisierung der Homosexualität im Zuge der Durchsetzung der bürgerlich-hegemonialen Männlichkeit. Insofern ist die Lektüre des Buches durchaus nicht ohne Ertrag. Seine Krux besteht darin, dass es mehr sein will als eine Sammlung von Essays, Forschungsresümees und Miszellen zu ausgewählten Aspektes des großen Themas. Vermutlich lässt der derzeitige Forschungsstand noch gar keine synthetisierende „Geschichte der Männlichkeit in Europa“ über mehr als 500 Jahre hinweg zu. Wenn doch, sollte der für den Weg vom Exzerpt zum Buch erforderliche Zeitaufwand nicht zu knapp veranschlagt werden.

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