V. Rosen-Prest: L'historiographie des Huguenots en Prusse

Cover
Titel
L'historiographie des Huguenots en Prusse au temps des Lumières. Entre mémoire, histoire et légende: J.P. Erman et P.C.F. Reclam, Mémoires pour servir à l'histoire des Réfugiés françois dans les Etats du Roi (1782-1799)


Autor(en)
Rosen-Prest, Viviane
Erschienen
Anzahl Seiten
831 S.
Preis
€ 105,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Heusch, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Eine ‚Radiografie‘, eine Durchleuchtung der Mémoires pour servir à l’histoire des Réfugiés françois dans les Etats du Roi der französisch-reformierten Pastoren Jean Pierre Erman und Pierre Chrétien Frédéric Reclam hat die Germanistin Viviane Rosen-Prest sich zum Ziel ihrer Doktorarbeit gesetzt. 1 Ein ambitioniertes Unterfangen, das nicht allein aus dem Umfang des Werkes resultiert – mehr als 3000 Seiten zählt die zwischen 1782 und 1799 entstandene, neunbändige Geschichte der Ansiedlung der französischen Réfugiés im Brandenburg-Preußen des Großen Kurfürsten und seiner Nachfolger. Auch der historischen Bedeutung der Mémoires muss Rechnung getragen werden: Einerseits stehen sie am Anfang der hugenottischen Historiografie – von einigen kleineren, meist aus Anlass von Jubiläen entstandenen Abhandlungen abgesehen – und sind noch bis in die Gegenwart in zahlreichen Arbeiten zum deutschen Refuge präsent. 2 Andererseits wird ihnen von der Forschung eine beachtliche Wirkkraft bescheinigt, gelten sie doch als erster Höhepunkt der Legendenbildung um die Hugenotten. Diese findet ihren Ausdruck, wie Etienne François es formulierte, „in der äußerst positiven Wertschätzung des Begriffes ‚Hugenotte’ in der deutschen Sprache“ und in den „vielen, durchweg positiven Assoziationen, die damit verbunden sind“. 3

Den diversen in den Mémoires nebeneinander stehenden Modi der Überlieferung – „conservation de la mémoire, fondation d’une histoire, édification d’une légende“ (S. 17) – sucht Rosen-Prest durch die Vierteilung ihres Buches zu entsprechen. Dabei bietet sie weit mehr als eine bloße Radiografie der Mémoires, da sie nicht nur das Produkt selbst, sondern auch seine zeitliche und ideengeschichtliche Verankerung, seine Vor- und Nachgeschichte ausleuchtet.

Die ersten beiden Teile sind dem Entstehungskontext der Mémoires gewidmet: der Situation in der Berliner Hugenottenkolonie am Ende des 18. Jahrhunderts, der die beiden Autoren angehörten, ihrer Biografie, der Genese des Werks und seinem ideologischen Hintergrund. Prägnant arbeitet die Verfasserin hier die oftmals von der Forschung nachlässig behandelte Integrationsproblematik heraus. Bismarcks Diktum von den Hugenotten als den besten Deutschen erschien a posteriori als Beleg der reibungslosen Integration. Doch gerade die Mémoires standen am Anfang der Mär von der raschen und problemlosen Eingliederung, wurden hier doch die Konflikte zwischen Einheimischen und Zuwanderern beinahe vollkommen ausgeklammert. Rosen-Prest zeichnet demgegenüber das Bild einer selbstbewussten Minorität, die mehr als hundert Jahre nach ihrer Einwanderung gegen ihre Auflösung ankämpft, ihren privilegierten Status zu erhalten sucht und hierfür eine kollektive Erinnerung bemüht. Zwei Leitmotive macht sie in dem Werk aus: das Lob der Hohenzollern als aufgeklärter Herrscher und das Andenken an die Vorfahren. Beide Gedankenstränge haben die Pastoren zu dem Zweck verknüpft, ein spezifisches Bild der Hugenotten zu festigen: Dank der Unterstützung der Hohenzollern hätten die Réfugiés durch ihren technologischen Vorsprung und ihre beispielhafte Moralität den Fortschritt Brandenburg-Preußens um ein halbes Jahrhundert beschleunigt (S. 353). Dem Königshaus sollte mit dieser Darstellung der Nutzen der Migranten vor Augen geführt und so eine Fortsetzung der hugenottenfreundlichen Politik bewirkt werden. Die sich ihrer Zugehörigkeit unsicheren Hugenotten-Nachfahren wiederum suchten die Pastoren auf eine Gruppenidentität zu verpflichten, die den Assimilationsprozess aufhalten sollte. Diese Gruppenidentität speiste sich aus den Traditionen, nämlich der französischen Sprache – auch die Sprache der Mémoires – und der beispielhaften Lebensführung ihrer Vorväter, deren Tugenden (Einfachheit, Fleiß, Frömmigkeit, Loyalität) ihnen Wohlstand und Glück beschert hätten (S. 155). In diesem Kontext erklärt Rosen-Prest die Mythologisierung der ersten Einwanderergenerationen; in diesem Sinne bezeichnet sie die Mémoires aber auch als "véritable livre d'action" (S. 554).

Der dritte Teil ihrer Dissertation zeichnet die Konstruktion des Mythos um die Hugenotten nach. Die Verfasserin untersucht hier – nach einer hauptsächlich auf der Wiedergabe der Thesen von Mircéa Eliade beruhenden Einführung in Wesen und Funktion von Mythen – diverse Elemente, die der Legendenbildung zugrunde lagen. Ihre Analyse beschränkt sich dabei nicht auf das von Erman und Reclam beschriebene Verdienst einzelner Personen- und Berufsgruppen (Adelige, Gelehrte, Künstler; Fabrikanten, Händler, Handwerker), sondern hebt auch auf ihren aktionistischen Sprachstil und die suggestiven Illustrationen Daniel Chodowieckis ab.

Im vierten Teil schließlich geht Rosen-Prest auf die Verbreitung, Rezeption und Nachwirkung der Mémoires ein. Sie bescheinigt dem Werk eine unerwartet breite Diffusion nicht nur in hugenottischen Kreisen. Interessant – gerade auch für den Blick der Aufnahmegesellschaft auf die Hugenotten – ist die binnen weniger Jahre veränderte Einordnung des Werkes: Stand es im Katalog des Verlegers Friedrich Nicolai zur Leipziger Buchmesse von 1787 noch unter der Rubrik „Livres français“, erschien es acht Jahre später in der Spalte „Histoire et dispositions patriotiques de Prusse et de Brandebourg“ (S. 484).

Hervorzuheben ist zuletzt der umfangreiche, gut durchdachte Anhang. Auf mehr als 200 Seiten findet der Leser hier neben kartografischem, biografischem und Bildmaterial zeitgenössische Korrespondenzen und Texte rund um die Entstehung, Aufnahme, Verbreitung und Nachwirkung der Mémoires. Beachtung verdienen die tabellarischen Überblicke über die heute vorhandenen Exemplare ebenso wie die Auflistung der Quellen, deren sich Erman und Reclam bedient haben. Abgerundet wird der Annex von einem längst überfälligen Namens- und Sachregister der neun Bände der Mémoires.

Rosen-Prest rückt die Ergebnisse der Recherchen der beiden Autoren regelmäßig zurecht, etwa bei der Bewertung des wirtschaftlichen Einflusses der Hugenotten. Doch wünscht man sich zuweilen noch mehr kritische Distanz zum Werk, nicht nur insofern, dass weite Passagen nicht hätten zitiert werden müssen – womit die Arbeit an Länge verloren und an Bündigkeit gewonnen hätte - vielmehr auch zu Ermans und Reclams Umgang mit den ‚Fakten’: Wenn die Verfasserin in der Einleitung die Absicht äußert, auch zwischen den Zeilen lesen zu wollen, bleibt sie diesem Vorsatz nicht immer treu. 4 Die von den Autoren beschriebene Brüderlichkeit zwischen den reformierten und den lutherischen Kirchen beispielsweise bezweifelt sie, doch begnügt sie sich mit dem Zitat eines Einwurfs Frédéric Hartwegs, der sich überdies auf die Zeit vor der Ankunft der Réfugiés bezieht (S. 319). Hätte sie die Konsistorialprotokolle der französischen Kirche Berlins für diesen Zeitraum gekannt, wären ihr die häufigen Beschwerden über die lutherischen Nachbargemeinden aufgefallen. 5 Auch die von Erman und Reclam beschworene moralische Integrität der ersten Flüchtlingsgeneration wird von Rosen-Prest wiedergegeben (S. 312, 402ff.), die mannigfachen, gerade auch aus unsittlichem Verhalten resultierenden Konflikte innerhalb der Gemeinde aber verschwiegen. Das schwierige Verhältnis der Hugenotten zu FriedrichWilhelm I. wird von Erman und Reclam genauso übergangen wie von Rosen-Prest, die vielmehr kommentarlos die „eher positive Wahrnehmung“ des Soldatenkönigs in den Mémoires konstatiert (S. 260). Diese Unstimmigkeiten zwischen Fakten und Narration zu vertiefen, das Weggelassene und Beschönigte zu hinterfragen, hätte die Arbeit Rosen-Prests für den Historiker interessanter gemacht. So bleibt es bei einer profunden, aber nicht immer kritischen Wiedergabe des von Erman und Reclam Beschriebenen.

Anmerkungen:
1 „Ce que nous entreprenons ici, c’est, en somme, la radiographie d’un livre“ (S. 19).
2 Für die Jahre 1970-1998 hat Vivane Rosen-Prest eine Auflistung der Arbeiten erstellt, die sich der Mémoires bedienen (S. 686-688).
3 François, Etienne, Die Traditions- und Legendenbildung des deutschen Refuge, in: Duchhardt, Heinz (Hg.), Der Exodus der Hugenotten. Die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 als europäisches Ereignis, Köln 1985, S. 177-193, hier S. 177.
4 „Mais si l’ouvrage intéresse par son propos déclaré, il intéresse aussi par ce qu’il traduit involontairement de la mentalité des auteurs. Au-delà de ce qu’ils veulent dire, ils disent aussi beaucoup sans le vouloir.“ (S. 17)
5 Archiv der Französischen Kirche im Französischen Dom, Berlin [AFrD]: Rep 04 I 4/5 (Actes du Consistoire de l'Eglise françoise de Berlin).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension