M. Schalenberg: Rezeption des "deutschen Universitätsmodells"

Cover
Titel
Humboldt auf Reisen?. Die Rezeption des 'deutschen Universitätsmodells' in den französischen und britischen Reformdiskursen (1810-1870)


Autor(en)
Schalenberg, Marc
Reihe
Veröfftlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 4
Erschienen
Basel 2003: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
€ 50,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sonja Kinzler, School of Humanities and Social Sciences, International University Bremen

Die Debatten um die Zukunft der universitären Bildung schlagen zurzeit hohe Wellen. Ganz selbstverständlich wird dabei in der Frage, ob Deutschland Eliteuniversitäten braucht, mit der „Humboltschen Bildungstradition“ argumentiert. So sieht etwa Heike Schmoll in der FAZ 1 die zumeist an Wirtschaftsstudien ausgerichteten Privathochschulen überwiegend jenseits dieser Tradition angesiedelt. Für Wolf Lepenies, der mit Blick auf die angelsächsische Wissenschaftskultur Reformvorschläge für das „kranke deutsche Wissenschaftssystem“ in der SZ aufzeigt, ist „Humboldts Erbschaft [...] in den USA wie in England deutlich sichtbar geblieben: Weder in Stanford noch in Cambridge wäre es möglich, Forschung und Lehre gegeneinander auszuspielen.“ 2

Gerade vor diesem Hintergrund lohnt ein genauerer Blick auf die Geschichte des deutschen „Modells“ und seiner Rezeption, den das hier angezeigte Buch in vergleichender Perspektive bietet. Marc Schalenbergs Dissertation „Humboldt auf Reisen?“(Humboldt-Universität Berlin, 1999) hinterfragt die verbreitete Annahme, ein „Humboldtsches Bildungsmodell“ habe nicht nur in Deutschland, sondern auch im europäischen Ausland Vorbildcharakter für die Entwicklung der modernen Universitäten gehabt. Seine Suche nach Rezeptionsformen und Rezeptionsinteressen führte ihn vornehmlich nach Paris und Oxford. Die Analyse der diskursiven Instrumentalisierungen eines deutschen „Modells“ im Kontext von Reformforderungen soll außerdem „die Möglichkeit eröffnen, dem dort jeweils vorherrschenden akademischen bzw. universitären Selbstverständnis“ vergleichend „auf die Spur zu kommen“ (S. 19).

Als Zeitrahmen wurden die Jahrzehnte zwischen der Gründung der Universität Berlin 1810 und dem deutsch-französischer Krieg 1870/71 gewählt. Weitere Argumente für diese universitätsgeschichtliche „Scharnierphase“ zwischen Peter Moraws frühneuzeitlicher „Familienuniversität“ und Adolf von Harnacks „Großbetrieb der Wissenschaft“ (S. 46) liegen nach Schalenberg im Bildungswesen der einzelnen Länder – er führt unter anderem die politischen Umschwünge in Frankreich oder die strukturellen Veränderungen der University of Oxford in den 1870er-Jahren an. Der Ansatz des Buches ist bewusst stärker ideen- als diskursgeschichtlich angelegt, was aber keinesfalls die Analyse von „sprachlichen Strategien“ (S. 33) ausschließt, im Gegenteil.

Zunächst wird das „deutsche Universitätsmodell" kurz charakterisiert. Schalenberg greift zwar den Modellbegriff auf, geht auf der Analyseebene damit aber sehr differenziert um. Dabei zeigt sich beispielsweise, dass in der Eigendarstellung der deutschen Bildungseinrichtungen, die Schalenberg unter anderem heranzieht, Frankreich und England eher Konkurrenten als Adressaten waren, also in dieser Hinsicht eher von Abgrenzung als von Rezeptionserwartung zu sprechen wäre. Die Prinzipien des „Modells" werden auf breiter Forschungsgrundlage griffig zusammengefasst (die bekannten Schlagworte sind: Einheit von Forschung und Lehre; Freiheit von Forschung, Lehre und Studium; Trägerschaft durch den „Kulturstaat"; Einheit und Priorität der Wissenschaft). Seine Darstellung des „Modells" ist stark institutionen- und ideengeschichtlich, wodurch es leider für Leser mit weniger universitätsgeschichtlichem Vorwissen möglicherweise nicht immer klar wird, auf welchen der Humboldtbrüder (Wilhelm, Alexander) Bezug genommen wird. Die Beobachtung der neueren Forschung, dass Wilhelm (der auch den Umschlag ziert) vor allem in Deutschland, Alexander mehr in Frankreich und England für die deutsche Bildungsidee stand, ist für das Thema so bezeichnend, dass man sie intensiver aufgreifen und den Humboldts entsprechend dem Werktitel eine größere Rolle hätte zuweisen können.

Man hat die höhere Bildung in Frankreich immer wieder als spezialisiert, an Praxisnähe ausgerichtet und zentralistisch organisiert charakterisiert. Die Rezeption des im Wesentlichen gegensätzlichen deutschen Bildungssystems kann sich also nur auf wenige Berührungspunkte stützen. Die Untersuchung stellt heraus, dass jeglicher Transfer in diesem Rahmen auf die Vermittlung durch einzelne Personen oder Personengruppen, allen voran französische Literaten und deren Reiseberichte und einzelne deutsche Exilanten, angewiesen war. Zu den vielen großen Namen der Bildungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, die dem Leser in „Humboldt auf Reisen?“ begegnen, zählt unter anderen auch Madame de Staël. Beeindruckt von der Gründlichkeit des deutschen Studiums propagierte sie das liberale deutsche System. Die detaillierte Untersuchung einzelner Argumentationen (vor allem in der Restaurationszeit) führt aber insgesamt zu dem Schluss, dass Deutschland eher Projektionsfläche war, als dass die Beurteilungen tatsächlich auf Landeskenntnis beruhten. Zu grundlegender Kritik am französischen System kam es nicht, entsprechend auch nicht zu nennenswerten institutionellen Veränderungen.

Für die englischen Einrichtungen der höheren Bildung geht Schalenberg vergleichbar vor: Auch hier stellt er detailreich die Grundstrukturen, die Agenten – auch unter ihnen wie in Frankreich Reisende und vereinzelte deutsche Emigranten, wenn auch weniger Literaten – und die einschlägige Medienlandschaft vor. Wie in Falle Frankreichs wird auch hier von den bekannten Leitideen des jeweiligen Bildungssystems ausgegangen, um anschließend zu differenzieren: Gerade im Vergleich der Debatten kam demnach die englische Betonung auf der Charakterbildung der Studierenden im Gegensatz zur berufspropädeutischen Ausrichtung in Paris oder dem Forschungsimperativ des deutschen „Modells“ deutlich zum Tragen. Die Liberalisierungs- und Reformdebatten um die Jahrhundertmitte, die anschaulich nachgezeichnet werden, drehten sich, mit dem Argument der Forschungsförderung nach deutschem Vorbild, nicht zuletzt um die (konfessionellen) Zugangsbeschränkungen.

Abschließend wird das Material auf verschiedene Konzepte wie etwa den Freiheitsbegriff hin beleuchtet, was die Verschiedenheit der Rezeptionskulturen und die Unwahrscheinlichkeit von Ideentransfers noch einmal betont. Schalenberg resümiert, dass im Hinblick auf die deutschen Universitäten in anderen gesellschaftlichen Kontexten verbreitete Negativklischees insgesamt eine geringe Rolle spielten; er beobachtet also eher eine „Über- als [...] [eine] Unterschätzung“ (S. 350) der deutschen Universitäten, womit die eingangs erwähnte These der Modellhaftigkeit tendenziell bestätigt wird. Es sei hier betont, dass diese transnationale Untersuchung nicht mit Konzepten aus der Nationalismusforschung überfrachtet wurde, sondern Begriff und Verständnis von Nation eher einen selbstverständlichen Bezugsrahmen für die Analysen abgeben.

Das Buch zeichnet nicht primär den eigentlichen Transfer von Elementen oder gar der Idee eines „Bildungsmodells“ nach – das Interesse liegt nicht auf institutionellen Konsequenzen der Rezeption, die laut Schalenberg ohnehin eher nach dem Untersuchungszeitraum anzusiedeln wären. Vielmehr werden einerseits gerade die wesentlichen Unterschiede der Systeme berücksichtigt und andererseits Interessengebundenheiten in einzelnen Rezeptionsbereichen herausgestellt. Eines der vielen Beispiele, denen nachgegangen wird, ist das institutionelle Wirken Louis Pasteurs, der sich „dem Deutschlanddiskurs der 1860er Jahre“ „bereitwillig anpasste“, wenn er Argumente für den Auf- und Ausbau von Laboratorien brauchte (S. 162).

Der klar strukturierte Aufbau der Untersuchung macht die Eigenheiten Englands und Frankreichs leichter vergleichbar, und zwar nicht nur mit Deutschland, sondern auch untereinander. Auch die auf den ersten Blick etwas starr wirkende jeweilige Untergliederung der beiden Hauptkapitel in 1. Institutionen, 2. Personen, 3. Öffentlichkeits- und Medienstruktur erweist sich als plausibel. Der sorgfältig redigierte Band schließt mit einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis, das damit der hohen Belegdichte der Untersuchung entspricht, und einem Personen- und Ortsregister.

Anmerkungen
1 Schmoll, Heike, „Jenseits der Humboldtschen Bildungstradition. Hoch spezialisiert, aufwendig ausgestattet, doch kaum evaluiert: Die Ausbildung an deutschen Privathochschulen“, FAZ vom 7.1.2004.
2 Lepenies, Wolf, „Die Ahnunglosen. Elite auf Rezept? Die schwerkranken deutschen Universitäten brauchen andere Therapien“, SZ vom 8.1.2004.

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