Titel
Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR. Im Auftrag der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Bundeszentrale für politische Bildung


Herausgeber
Kaminsky, Annette
Erschienen
Anzahl Seiten
546 S.
Preis
€ 18,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Philipp Sternberg, Berlin

Sie waren die ersten. „Den Opfern des Stalinismus“ lautete die Inschrift des Gedenksteins, der am 4. November 1951 auf dem Charlottenburger Steinplatz enthüllt wurde – noch bevor in den Berliner Westsektoren irgendwo an die Opfer der anderen, knapp sechs Jahre zuvor zu Ende gegangenen deutschen Diktatur erinnert wurde. Die Vereinigung der Opfer des Stalinismus war schneller gewesen als ihr Pendant, der Bund der Verfolgten des Naziregimes. Dieser ließ als Antwort zwei Jahre später auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes einen Stein mit der Inschrift „Den Opfern des Nationalsozialismus“ errichten.

Erinnerungskonkurrenz ist also keine Erfindung der Jahre nach 1989, auch wenn der zeitweise erbitterte Streit um die richtige Darstellung des Grauens in den nach 1945 direkt weiter genutzten Schreckensorten Buchenwald und Sachsenhausen dies vermuten lässt. Die ehemaligen Häftlinge der sowjetischen Speziallager wollten nach jahrzehntelangem Verschweigen Erwähnung finden, während die Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager eine Verkehrung von Ursache und Folge befürchteten.

Mittlerweile ist es gelungen, den Streit halbwegs zu schlichten: An beiden Gedenkorten ist auch das Leid der Jahre 1945–1950 in eigenen Gebäuden dokumentiert, ohne dass die Erinnerung an NS-Rassenwahn und Vernichtungspolitik geschmälert wird. Die neuen Ausstellungen sind am Rand der Gedenkstättengelände errichtet worden, d.h. als Fortsetzung, nicht als Gegenpol zum Gedenken an den NS-Terror. Die Opfer Stalins sind also berücksichtigt – die Schulklassen hingegen besuchen meist weiterhin ausschließlich die Orte des KZ-Gedenkens; für die Epoche danach haben sie keine Zeit. Die Orte der Erinnerung an die dunklen Seiten der SBZ/DDR haben sich in den vergangenen 14 Jahren vor allem im Osten etabliert, doch so richtig ernst genommen werden sie im vereinten Deutschland noch immer nicht.

Das liegt nur selten an fehlendem Interesse, auch wenn es zweifellos Ausnahmen gibt. So wird gern die Geschichte aus der namenlosen Kleinstadt erzählt, deren Gedenkstein mit der Inschrift „3.10.1990“ Passanten folgendermaßen erklärten: „Da wurde doch die Kaufhalle eröffnet.“ Ruth Gleinig weiß es besser. Sie hat für die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in jahrelanger Fleißarbeit 356 Gedenkorte zusammengetragen – in Ost- wie in Westdeutschland: 90 Grenzmuseen und Mauermahnmale, 80 Erinnerungsorte für Stätten des stalinistischen Terrors, 30 zur Stasi-Repression, 27 zum 17. Juni 1953, 16 zum Herbst 1989 und so fort; bekannte Institutionen wie das Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen, verdienstvolle lokale Initiativen, Museen jenseits der reinen Opferperspektive wie das „Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR“ in Eisenhüttenstadt und schließlich skurrile Fundstücke wie den Gedenkstein zum „Checkpoint Qualitz“ zwischen Lübars im West-Berliner Norden und Blankenfelde. Dort hatte der Lübarser Bauer Helmut Qualitz am 16. Juni 1990 mit seinem Trecker die Mauer umgefahren und die Verbindung in den Osten eigenmächtig wieder geöffnet.

Das Kompendium ist, um das wenigste zu sagen, verdienstvoll. Es steht nun neben den beiden dickeren Bänden zu Gedenkstätten für NS-Opfer, die ebenfalls von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wurden.1 Das Handbuch gibt den vielen, oft durch private Initiative entstandenen Gedenkorten einen gut nutzbaren Fund-Ort (samt praktischen Hinweisen zu Anfahrtswegen etc.). Aber der Band ist mehr als das: Die vielerorts immer noch prekär ausgestatteten und stets von Sparzwängen bedrohten Institutionen haben mit ihm eine Bestätigung ihrer Relevanz für die deutsche Erinnerungskultur in ihrer ganzen Vielschichtigkeit, mit all ihren Widersprüchen bekommen. Dieses Werk erscheint daher rechtzeitig – weil antizyklisch. „Seit Mitte der 1990er-Jahre schwächt sich das Interesse [an einer Auseinandersetzung mit dem SED-System] ab“, schreibt Bernd Faulenbach im Einleitungsaufsatz („Diktaturerfahrungen und demokratische Erinnerungskultur in Deutschland“, S. 18-30, hier S. 23). Grund zur Panik bestehe dennoch nicht: „Auch die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit erfolgte schubweise.“

Der neue Schub könnte der produktive Umgang mit der doppelten Diktaturerfahrung in Deutschland sein. In seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1994 sagte der unter den Nazis in Buchenwald inhaftierte Jorge Semprún voller Hoffnung (zit. nach S. 18): „Deutschland ist [...] das einzige Volk Europas, das sich mit den beiden totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen kann und muss: dem Nazismus und dem Stalinismus. In seinem Kopf und Körper hat es diese Erfahrungen erlebt und kann sie nur überwinden – und ohne dass daraus ein Präzedenzfall wird, könnte man in diesem Zusammenhang einmal den Hegelschen Begriff der Aufhebung verwenden – kann sie also nur überwinden, indem es beide Erfahrungen kritisch übernimmt und aufhebt, um so die demokratische Zukunft Deutschlands zu bereichern.“2

Dazu müsste jedoch ein sensibler Umgang mit den schmerzhaften Erinnerungskontroversen der ehemals Verfolgten gehören – und auch die Proteste gegen einen unterschiedslosen Umgang mit „den Opfern“ müssten erwähnt werden.3 Was im Vorwort von Annette Kaminsky und Ruth Gleinig sowie in Faulenbachs Aufsatz noch beherzigt wird, geht im Darstellungsteil leider oft genug unter. Da wird die auf Betreiben von Helmut Kohl umgestaltete Neue Wache mit ihrer Inschrift „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ erwähnt, ohne die Kontroverse um diese entdifferenzierende Formulierung auch nur zu streifen. Die Dokumentation zu den NS-Gedenkstätten widmet dem Streit immerhin eine ganze Textspalte.4 Auch im eingangs zitierten Fall fehlt ein Verweis auf den erbitterten Streit zwischen Opferverbänden beider Regime vor dem Hintergrund des westdeutschen Antikommunismus der Adenauer-Zeit (S. 52).

Eine Bestandsaufnahme soll zeigen, was vorhanden ist, und soll dabei nicht permanent werten. Die Geschichte eines Gedenkortes und die Kontroversen um ihn muss sie jedoch erwähnen. Denn die Erinnerung an zwei deutsche Diktaturen ist nur im Modus von Debatten möglich. Das wissen die Verantwortlichen des hier besprochenen Bandes natürlich – und meistens beachten sie es auch. Beim Eintrag zur Speziallager-Gedenkstätte Sachsenhausen zeigen sie beispielhaft, wie das selbst auf dem knapp bemessenen Raum einer solchen enzyklopädischen Arbeit gehen könnte (S. 183): „Tatsache bleibt bei allem Für und Wider, dass die Geschichte des Lagers sowohl eine Geschichte des nationalsozialistischen als auch des stalinistischen Terrors ist. Deshalb soll das Geschehen im NS-Konzentrationslager weder relativiert noch das im sowjetischen Speziallager bagatellisiert werden. Das neue Museum stellt sich diesem Anspruch.“5

Ein „Übermaß an Verwerfungen, Brüchen und Brechungen“ attestieren Etienne François und Hagen Schulze der deutschen Geschichte und ihren Erinnerungsorten.6 Solche Diskontinuitäten und Widersprüche wegzulassen wäre sträflich. Dass den beiden Bänden zum Gedenken an den Nationalsozialismus nun dieser zum Gedenken an SBZ/DDR zur Seite gegeben wird, ist umso wertvoller.

Anmerkungen:
1 Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, 2 Bde., Bonn 1995/99.
2 Siehe neuerdings auch Semprún, Jorge, Blick auf Deutschland (Sammlung von Reden aus den Jahren 1986 bis 2003, enthält u.a. die Friedenspreisrede von 1994)., Frankfurt am Main 2003.
3 Der Streit um das sächsische Gedenkstättengesetz, dem von Seiten der NS-Opferverbände und der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten eine unzulässige Pauschalbetrachtung totalitärer Gewaltherrschaft vorgeworfen wird, sei hier als aktuelles Beispiel genannt (siehe http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?pn=texte&id=406=406).
4 Bundeszentrale für politische Bildung 1999 (wie Anm. 1), S. 98.
5 Die Warnung vor Relativierung der nationalsozialistischen und Bagatellisierung der stalinistischen Verbrechen geht auf Empfehlungen einer Expertenkommission zur Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten vom Januar 1992 zurück. Vgl. Kirsch, Jan-Holger, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 595-605, hier S. 602.
6 François, Etienne; Schulze, Hagen, Einleitung, in: Dies. (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte 1, München 2001, S. 9-24, hier S. 18.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension