M. Krzoska: Für ein Polen an Oder und Ostsee

Cover
Titel
Für ein Polen an Oder und Ostsee. Zygmunt Wojciechowski (1900-1955) als Historiker und Publizist


Autor(en)
Krzoska, Markusz
Reihe
Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 8
Erschienen
Osnabrück 2003: fibre Verlag
Anzahl Seiten
482 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heidi Hein, Grundlagenarbeit/Veröffentlichungen, Herder-Institut e.V., Marburg

Biografien als historiografisches Genre sind unter dem Einfluss moderner methodischer Ansätze in den letzten Jahren zunehmend wieder in den Blick fachhistorischer Forschung geraten. Neuere innovative Biografien zeigen, dass moderne struktur-, sozial- und mentalitätsgeschichtlich angelegte Lebensbeschreibungen wesentlich zum historiografischen Erkenntnisprozess beitragen können, da dieser Ansatz die Frage nach den Handlungs- und Gestaltungsspielräumen des Individuums in den jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen direkter als andere methodische Zugänge stellt. Moderne Biografien sind folglich nicht nur Lebensbeschreibungen, sondern auch eine auf eine Person fokussierte Darstellung historischer Entwicklungen und geistesgeschichtlicher Strömungen.

Dies wird in der vorliegenden Biografie über Zygmunt Wojciechowski, einem der führenden polnischen Historiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich. Seine Person ist repräsentativ für die Wandlungen, Herausforderungen und Probleme der polnischen Geschichtswissenschaft in dieser Zeit. Jedoch ist er auch durch sein Hauptverdienst – die Popularisierung des polnischen Westgedankens – ein heikles Thema der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte.

Zygmunt Wojciechowski (1900-1955) verkörpert wie kaum eine andere Persönlichkeit der geistigen Elite Polens die wechselvollen Zeitläufte Polens von seiner Wiedergründung 1918 bis zum Stalinismus. Von Bedeutung ist heute noch seine „mitunter seltsam anmutende Mischung aus Beharrlichkeit und Flexibilität, aus wissenschaftlichem Duktus und politischer Agitation“ (S. 13). Wojciechowski gehört als Mediävist und Rechtshistoriker zu den bedeutendsten polnischen Historikern und prägte seit Mitte der 1920er-Jahre mit seinen wissenschaftspolitischen und publizistischen Aktivitäten das polnische politische Denken, indem er zu Aspekten der staatlichen Ordnung und dem Verhältnis Polens zu seinen westlichen Nachbarstaaten, insbesondere Deutschland, Stellung bezog. Schon mit seiner 1924 erschienen Dissertation über die Organisation des polnischen Staates unter den Piasten erregte Wojciechowski Aufsehen, das ihn schon ein Jahr später auf den Lehrstuhl für Verfassungsgeschichte und altes polnisches Recht der Juristisch-Ökonomischen Fakultät in Posen brachte. Bis zum Zweiten Weltkrieg beschäftigte er sich mit Aspekten der mittelalterlichen Geschichte Polens. Er versuchte im publizistischen Umfeld, das Wissen über die Gebiete zwischen Warthe, Oder und Ostsee zu verbreiten. Er entfernte sich während dieser Zeit aber von der polnischen Nationaldemokratie, näherte sich allmählich dem Regierungslager an und bekannte sich zu autoritären Herrschaftsformen für Polen. Im polnischen Untergrund des Zweiten Weltkriegs setzte er seine wissenschaftliche Arbeit fort und engagierte sich in illegalen Bildungseinrichtungen. Anfang 1945 überredete er die kommunistische Übergangsregierung, der er sich nach seinem Bruch mit der Londoner Exilregierung angedient hatte, zur Gründung eines eigenständigen Instituts (Instytut Zachodni/Westinstitut, Posen), dessen Direktor er wurde und das sich mit den neuen „wiedergewonnenen“ Westgebieten und den deutsch-polnischen Beziehungen befasst. Wojciechowski gelang es, seine Stellung im Posener Wissenschaftsbetrieb bis zu seinem Tod 1955 zu behaupten.

Die vorliegende Berliner Dissertation zeichnet Wojciechowskis Entwicklung als Historiker und Publizist nach, wobei sie die wichtigsten Stationen seines Lebens als Ausgangspunkt für seine gedankliche und fachliche Weiterentwicklung nimmt, dann aber diese aufgrund von Analysen seiner Werke darstellt. Dabei sieht der Verfasser an den Phasen der politischen Geschichte auch Zäsuren für die biografische und intellektuelle Entwicklung Wojciechowskis, wobei der Schwerpunkt der Darstellung auf die Zwischenkriegszeit gelegt wird. Nach Kapiteln mit eher einführendem Charakter über die polnische Historiografie vor 1918 und in der Zwischenkriegszeit erörtert Krzoska, welche Vorbilder Wojciechowski prägten. Dann widmet er sich den wissenschaftlichen Arbeiten Wojciechowskis, wobei er deren Themen systematisch vorstellt und deren intellektuelle Entwicklung nachvollzieht. Davon leiten sich dann seine wissenschaftspolitischen Aktivitäten ab, denen Krzoska ein weiteres Kapitel widmet. Hierbei nimmt das Konzept der polnischen „Mutterländer“ breiten Raum an, das die polnische Westforschung prägte. Es stellt die Grundlage für Wojciechowskis politische Haltungen dar, die anschließend dargestellt werden. Hierbei geht es nicht nur um die Begriffe „Staat“ und „Nation“, sondern auch um seine Ansichten zu den Strukturen des polnischen Staates und zu dessen Minderheiten, sowie zum Faschismus und Nationalsozialismus. Daran anschließend ist ein vergleichsweise knappes Kapitel Wojciechowskis Tätigkeiten im polnischen Untergrund gewidmet, die als Voraussetzungen für sein Engagement im kommunistischen Polen zu sehen sind. Dies wird in einem weiteren Kapitel dargelegt, wobei das Posener West-Institut im Mittelpunkt steht. Abschließend und zusammenfassend erörtert Krzoska Wojciechowskis Selbstverständnis: Diese Studie stellt Wojciechowski als „homo politicus par exellence“ (S. 399), zugleich aber auch leidenschaftlichen Historiker dar, der seine Fragen aus der Gegenwart ableitete und von dem, was er schrieb, überzeugt war. Es wird deutlich, dass Wojciechowski ein typischer Vertreter seiner – und nicht nur der polnischen – Historikergeneration ist, für die es selbstverständlich war, Wissenschaft und Politik miteinander zu verbinden.

Eine umfangreiche polnischsprachige Zusammenfassung ermöglicht dem polnischen Leser einen notwendigen Zugriff auf die Wojciechowski-Biografie; ein Personenregister erleichtert dem Leser die Orientierung. Durch diese detail- und kenntnisreiche Studie hat Krzoska nicht nur ein wichtiges Desiderat der polnischen Historiografie-, Ideen- und Geistesgeschichte gefüllt und einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung und zum Verständnis des polnischen politischen Denkens im 20. Jahrhundert, insbesondere des polnischen Westgedankens, erbracht, sondern auch zur weiteren Aufarbeitung der deutsch-polnischen Beziehungen beigetragen.

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