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Titel
Paulus. Zeugnis, Begegnung, Wirkung


Autor(en)
Biser, Eugen
Erschienen
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Metzger, Seminar für Neues Testament, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Eugen Biser, emeritierter Professor für Christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und katholischer Priester, ist davon überzeugt, dass das Christentum sich gegenwärtig damit beschäftigen muss, aus seiner selbst verschuldeten Krise herauszufinden. Da seiner Auffassung zufolge das Christentum eine Befreiungsreligion ist, die den Menschen von seiner Todes- und Weltangst erlöst und von der inneren Verbindung der Christen zu Christus lebt, müsse in der Moderne die mystische Kraft der Religion wieder neu belebt werden. Die Liebe Gottes sowie die Verbindung des Sohnes zu uns neu ins Bewusstsein zu bringen, steht dabei im Mittelpunkt der Bemühungen Bisers. Von diesem Geist ist auch das von ihm vorgelegte Buch "Paulus. Zeugnis. Begegnung. Wirkung" durchdrungen. Nach diversen Veröffentlichungen zu Paulus - "Der unbekannte Paulus" (2003), "Paulus" (1992), "Paulus. Wegbereiter des Christentums. Zur Aktualität des Völkerapostels in ökumenischer Sicht" (1986), "Paulus für Christen. Eine Herausforderung" (1985), "Der Zeuge. Eine Paulus-Befragung" (1981), "Paulus - der letzte Zeuge der Auferstehung. Antworten für heute" (1981) - verfolgt Biser mit dem jüngst verfassten Werk ein kühnes Ziel. Er will die von Paulus in dessen Werk "stehen gelassenen Widersprüche" feststellen und das leisten, "was (Paulus) von selbst nicht mehr zu leisten vermochte" (S. 9). Er will also die Herausforderung annehmen, "das, was (Paulus) in seinen widersprüchlichen Äußerungen offen ließ, fort- und zu Ende zu denken" (S. 16). Dies gelingt laut Biser nur im Dialog mit Paulus, den er selbst aufnehmen will. Zugleich will er andere in die Begegnung mit Paulus führen. Dabei denkt er nicht nur an den Leser des Buches, sondern auch an historische Persönlichkeiten (Martin Buber, Friedrich Nietzsche). Von dieser Begegnung mit Paulus verspricht sich Biser die Entdeckung der "Mitte des Evangeliums", die er mit der "Einwohnung Christi im Herzen der Seinen" bestimmt, um so die Anhänger Christi "die Quelle der Kraft finden zu lassen, aus der (Paulus) bei der Verwirklichung seiner stupenden Lebensleistung schöpfte" (S. 10).

Der bisherigen Paulusforschung steht Biser dabei eher reserviert gegenüber. In Anlehnung an und unter Abwandlung des berühmten Fazits von Albert Schweitzer, mit dem dieser seine "Geschichte der Leben-Jesu Forschung" abschloß,1 bilanziert er die aktuellen Bemühungen der Paulusforschung wie folgt: "Sie zog aus, um Paulus, der von Nietzsche und seinen Gesinnungsgenossen als Zerstörer des Christentums gebrandmarkt und von gravierenden Missverständnissen verdunkelt worden war, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und sie freute sich, als sie in ihm in einer Zeit des spirituellen Aufbruchs nicht nur den bedeutendsten Botschafter des Evangeliums, sondern insbesondere auch den Kronzeugen der christlichen Mystik entdeckte. Dann aber fiel zunehmend der Schatten Luthers auf ihn mit der Folge, dass er an den Felsen der Rechtfertigungslehre gekettet und um sein tatsächliches Eigenprofil gebracht wurde. Er aber zog sich aus dem Disput seiner Interpreten auf sich selbst zurück, doch stets bereit, sich dem Christentum als Retter aus seiner gegenwärtigen Identitätskrise anzubieten." (S. 198)

Mit dieser Bilanz der exegetischen Paulus-Forschung bestimmt Biser seinen eigenen Standpunkt und vermag in nuce sein Bild des Apostels zu entwerfen. Diesem Bild ist der erste Teil des Buches ("Der Zeuge", S. 13-186) gewidmet. In den ersten beiden Abschnitten beschreibt Biser die "Initiation" (S. 13-26) und die "Insinuation" (S. 27-49) des Paulus. Ob mit diesen Überschriften die Bekehrung bzw. die Berufung des Paulus treffend beschrieben ist, mag dahingestellt bleiben. Fraglich erscheint allerdings schon der Eingang des Hauptteils: "Paulus [...] führte (das Christentum) aus der Verhaftung in der Gesetzesreligion in die Freiheit" (S. 13). Das Judentum als Gesetzesreligion zu kennzeichnen, lässt allzu leicht das Missverständnis aufkeimen, es sei keine Gnaden-, sondern eine Leistungsreligion. Dies ist aber eindeutig nicht der Fall. Gerade bei Biser erscheint dieser Gedanke inkonsequent, da er doch von E. P. Sanders die wesentlichen Grundzüge seiner Paulusinterpretation übernimmt (vgl. S. 9, 87, 110; insbesondere die Würdigung Sanders auf S. 206), der seinerseits überzeugend die Wissenschaft wieder darauf hingewiesen hat, das Judentum nicht als dunkle Kontrastfolie zur Gnadenreligion des Christentums zu verwenden.2

Nachdem Biser den vorchristlichen Paulus als einen "sich nach Liebe sehnende(n)" Jüngling (S. 22) wahrscheinlich gemacht zu haben glaubt, stellt er den bekehrten Paulus unter der Überschrift "Die Identifikation" (S. 50-67) als den "erste(n) moderne(n) Mensch(en) im Sinn des neuzeitlichen Subjektivismus", als den "Protagonist(en) des elaborierten Selbstbewusstseins" (S. 50) vor. Christus habe den verunsicherten Jüngling gerettet. Paulus seinerseits glaube durch sein Damaskuserlebnis an Christus und habe ihn damit in Besitz genommen (S. 60). Nun sei es sein Lebensinhalt, das, was er gesehen und gefühlt habe, in Sprache zu übersetzen. Dieser Prozess der Sprachwerdung sei dabei vor allem durch seine Gegner provoziert worden (S. 64).

Im vierten Abschnitt des ersten Teils, "Die Konzeption" (S. 68-95), entwirft Biser seine Sicht der paulinischen Theologie. Im Zentrum steht dabei Jesus selbst (S. 71). So wendet sich Biser entschieden davon ab, die Mitte der paulinischen Theologie in der Rechtfertigungslehre zu sehen, doch will er als Ausgangspunkt des paulinischen Denkens Röm 7, 24 begreifen: "Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?" (S. 33, 74, 297 u.ö.). Gerade dieser Vers ist aber der lutherischen Frage nach dem gnädigen Gott so nahe, dass Biser eigentlich die Rechtfertigungslehre als Zentrum des paulinischen Denkens folgern müsste, insbesondere wenn er gegen U. Wilckens 3 annimmt, dass dieser Vers "nicht [...] von der Versklavung des Menschen durch die Sünde, sondern, abrupt und neu einsetzend, von seiner (des Paulus) Todesverfallenheit spricht und damit mehr noch auf die Existenznot der Nachgeborenen vorgreift" (S. 297). Also sei Röm 7, 24 als "Schrei jener inneren Leere" aufzufassen, "die für den Mystiker Paulus nach ihrer 'Erfüllung' durch den den Seinen einwohnenden Christus schreit" (S. 74). So gelangt Biser zur Feststellung, dass Paulus nur adäquat begriffen werden kann, wenn man in ihm den Mystiker Christi erblickt (S. 74, 76). Insgesamt sei die paulinische Theologie als "einzige Auslegung des Ostergeschehens anzusehen" (S. 81).

Nachdem Biser die "Proklamation" (S. 96-117) Christi als die Lebensaufgabe des Paulus beschrieben hat, folgen die "Dokumentation" (S. 118-139), die "Passion" (S. 140-159) und die "Inversion" (S. 160-186) als abschließende Abschnitte der Rekonstruktion des paulinischen Lebens und Denkens. Dabei führt er zum zweiten Hauptteil des Buches ("Der Dialog", S. 189-297) hin, in welchem er Paulus in seinem Wort als lebend vorstellt (S. 189). "Indem (Paulus) spricht, gibt er sich zu erkennen und lässt [...] sich sehen. Daran muss der Versuch einer Vergegenwärtigung anknüpfen" (S. 179). In diesem zweiten Teil sieht sich Biser vor die Aufgabe gestellt, "Paulus so zu vergegenwärtigen, dass die stupende Lebensleistung begreiflich wird, die er als Theoretiker und Praktiker des Christentums erbrachte" (S. 200). Das heißt im Vollzug der vergegenwärtigenden Begegnung mit Paulus aber konkret, "dass die von Paulus stehen gelassenen Divergenzen im Akt des verstehenden Nachvollzugs vereinbart oder, wo das nicht angeht, zur Entscheidung im einen oder andern Sinn gebracht werden müssen" (S. 212). Damit überschreitet Biser die Grenzen der Exegese. Dies benennt er klar, wenn er als Abschluss der Vorüberlegungen des zweiten Teils ("Paulus im Wort: Die paulinische Sprachwelt", S. 189-197; "Paulus durch Paulus: Elemente einer Paulus-Hermeneutik", S. 198-214) formuliert: Paulus "zu folgen, wo er sich in Christus umgriffen, erfüllt und mit seinem Dasein versöhnt weiß, ist Aufgabe und letztes Ziel des verstehenden Umgangs mit ihm und damit auch das der von der Forschungssituation geforderten Paulus-Hermeneutik" (S. 214).

Im weiteren Verlauf des Buches lässt Biser verschiedene Gesprächspartner des Paulus auftreten, die ihr je eigenes Interesse an Paulus gezeigt haben und an denen wiederum Biser ein persönliches Interesse hat. So vergleicht er zunächst Jesus mit Paulus (S. 215-235) und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass Paulus der Ausleger seines Herrn war und die "übersprachliche Offenbarung des Gottessohnes" (S. 219) die lebenslange, hermeneutische Aufgabe des Apostels war. Sodann wirft er dem Evangelisten Lukas in dem Abschnitt "Paulus und Lukas: Der Weg in die Schriftlichkeit" (S. 236-257) vor, Paulus verfälscht und um dessen Sprengkraft gebracht zu haben (S. 237). Da Lukas die Mystik des Apostels nicht erfasse, könne er Paulus lediglich als "Glaubensbote" (S. 239), nicht aber als Apostel und Osterzeuge anerkennen, so dass die Apostelgeschichte ein "Dokument eines für den Rezeptionsprozess der ersten Stunde höchst aufschlussreichen Missverständnisses" (S. 239) darstelle.

Im folgenden Abschnitt lässt Biser Paulus auf Martin Buber treffen ("Paulus und Buber: Der jüdische Kontrahent" S. 258-268). Parallel zu dem Verhältnis von Nietzsche zu Jesus meint Biser "eine unterschwellige Identifikation" (S. 266) wahrzunehmen. Dieses Verhältnis habe Nietzsche seinerseits zu Paulus nicht. Ihn leite eher ein Konkurrenzverhältnis zu Paulus, wie Biser in dem etwas martialisch überschriebenen Abschnitt "Paulus und Nietzsche: Der letzte Kampf" (S. 269-283) feststellt. Nietzsche erscheint für Biser "als das kathartische Korrektiv des Apostels" (S. 278), da er mit der Gesetzeskritik des Paulus in Einklang stehe und energisch darauf verweise, dass das Christentum nicht von der Sühneleistung Christi am Kreuz lebe, sondern das Kreuz als Selbsterweis der Liebe Christi verstehen müsse (S. 278). Damit habe Nietzsche unabsichtlich dazu beigetragen, Paulus als den Mystiker zu erweisen und die Grundgestalt des Christentums von seiner antiochenischen Überlagerung durch den Satisfaktionsgedanken zu unterscheiden (S. 278).

Die Abschnitte "Paulus und die Welt: Der große Aufbruch" (S: 284-294) und "Paulus und der Tod: Der letzte Feind" (S. 294-297) beenden das Buch. Paulus, der Gespaltene, das Fragment (S. 298), dessen Weltverhältnis laut Biser mit einem Wort von Reinhard Johannes Sorge trefflich beschrieben ist (S. 293: "Ich will die Welt auf meine Schultern nehmen und sie mit Lobgesang zur Sonne tragen.") und der zum Entscheidungskampf gegen den Tod antritt und dabei "in den Endzustand des immer währenden Seins 'beim Herrn' (1 Thess 4, 17) vordringt" (S. 297), erweist sich letztlich als der Unbekannte, der "zum Dialog mit ihm herausfordert" (S. 297). Ihn gelte es besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat (S. 298): eine - wie bereits gesagt - kühne Aufgabe. Ob sie dem Autor gelungen ist, muss letztlich Paulus selbst überlassen werden.

Verschiedene Dinge bleiben anzumerken: Der Vorschlag, I Kor 13 als vorchristlichen, sogar als pubertären Text des Paulus zu werten (S. 21f.), ist ebenso abwegig, wie Röm 13, 1-6 als nachpaulinische Glosse anzusehen. Dass Barnabas (Apg 11, 25-26) ein Vetter des Paulus gewesen sei (S. 85), ist kaum zutreffend. Dass Jesus "durch seine im Massenabfall (Joh 6, 60-66) gipfelnde Verwerfung auf die Todeslinie" zurückgeworfen wurde, so dass ihm "nur der Entschluss (blieb), das letztlich Unannehmbare, den Tod, als göttliches Ansehen an- und auf sich zu nehmen" (S. 229), ist historisch zweifelhaft. Dringlicher erscheint aber die Frage, ob das Wesen des Christentums wirklich ganz als mystisch aufgefasst werden darf oder ob nicht doch das Kreuz mit der Vergebung von Schuld in Verbindung gebracht werden muss. Schließlich ist ob des eigenartigen Charakters des Buches, das weder historisch-kritische Exegese treibt, noch streng systematische Gedanken zu Paulus entwickelt, zu fragen, wen Biser als Leser in den Blick nimmt. Da es neben den sachlichen Problemen auch aufgrund des elaborierten Stils keine einfache Lektüre ist, wird es der theologisch interessierte Laie genauso nur bedingt zur Kenntnis nehmen wie der Fachkollege.

Anmerkungen:
1 Vgl. Schweitzer, A., Geschichte der Leben-Jesu Forschung, Tübingen 1984, S. 620.
2 Vgl. Sanders, E. P., Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995.
3 Vgl. Wilckens, U., Der Brief an die Römer (EKK VI/2), Neukirchen 1980, S. 89ff.

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