F. W. Graf u.a. (Hgg.): Troeltsch in Nachrufen

Cover
Titel
Ernst Troeltsch in Nachrufen.


Herausgeber
Graf, Friedrich W.; Nees, Christian
Reihe
Troeltsch-Studien 12
Erschienen
Anzahl Seiten
770 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Mikuteit, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder

Der überraschende Tod des Berliner Philosophen, Theologen, Historikers, Kultur- und Sozialwissenschaftlers, nicht zuletzt Politikers, Ernst Troeltsch am 1. Februar 1923 ließ eine ungewöhnlich große Zahl von Zeitgenossen öffentlich das Wort ergreifen, um sich in sehr verschiedener Form und Ausführlichkeit über den Verstorbenen zu äußern. Die vielfach bislang unbekannten Nekrologe erschienen größtenteils in der deutschen und ausländischen Tagespresse, in Kulturzeitschriften, theologischen und philosophischen Fachzeitschriften, politischen Journalen sowie der studentischen Presse. Friedrich Wilhelm Graf und Christian Nees haben es nun in einem wohl einmalig zu nennenden Vorhaben unternommen, diese teilweise sehr inhaltsreichen Zeugnisse in größtmöglicher Vollständigkeit zu sammeln und in einem Band der Troeltsch-Studien zum Druck zu bringen. Auf über 500 Seiten breiten sie die in ebenso mühevoller wie akribischer Recherche auch in abgelegenen Zeitungen und Journalen über viele Jahre ermittelten Texte aus.

Erstmals wird das als Manuskript erhaltene Konzept für die Leichenpredigt des Kollegen und Freundes Adolf von Harnack als Faksimile und in Transkription dokumentiert. Das Konzept dieser Rede war bislang unbekannt und weicht signifikant von einer in der Tagespresse veröffentlichten Fassung ab. Harnack sprach als erster Redner auf der Trauerfeier für Troeltsch am 3. Februar 1923 und rief mit seiner Rede bei der Trauergemeinde tiefen Eindruck hervor. Auch der nur als Manuskript erhaltene Nachruf von Hans Baron, des späteren Bearbeiters der „Spectator-Briefe“, wird hier erstmalig im Druck veröffentlicht. Baron sprach im Februar 1923 vor einer Studentenvereinigung über seinen akademischen Lehrer Troeltsch, ohne je für den Druck seiner Rede zu sorgen. In die Nekrologsammlung wurden auch einige erheblich später erschienene, inhaltsreiche Gedenkartikel aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen, die heute nur schwer greifbar sind, lange Zeit überhaupt nur teilweise bekannt waren.

Zu den Verfassern der insgesamt 137 Texte gehören zahlreiche Weggefährten, Freunde, Schüler und Fachkollegen Troeltschs, darunter führende Vertreter ihrer Disziplinen, sowie Journalisten und Publizisten unterschiedlicher Couleur. Eine Reihe von Autoren, die fachlich und politisch durchaus konträre Auffassungen zu Troeltsch vertraten, lassen dies auch in ihren Nachrufen deutlich werden. Auf diese Weise ist eine beeindruckend große Bandbreite teilweise gegensätzlicher politischer Positionen und religiöser Einstellungen in den Nekrologen vertreten. Unter den Autoren befinden sich junge Sozialdemokraten ebenso wie politische Intellektuelle aus konservativ-revolutionären Zirkeln, religiös liberale Modernisten, kulturliberale Bildungsprotestanten, katholisch-konservative Theologen, kulturkatholische Historiker und junge Intellektuelle deutschjüdischer Herkunft. Entsprechend vielseitig und anregend ist die Lektüre der Texte, in denen zahlreiche Aspekte des geistig-kulturellen und politischen Lebens der Zeit behandelt werden, teilweise über das Leben und Werk Troeltschs weit hinausreichend.

Die einzelnen Texte werden nicht kommentiert. Dafür hat Friedrich Wilhelm Graf eine in vierundzwanzig Abschnitte gegliederte, ausführliche Einleitung unter dem Titel „Polymorphes Gedächtnis. Zur Einführung in die Troeltsch-Nekrologie“ verfasst. Darin beleuchtet der profunde Kenner von Leben und Werk Troeltschs und geschäftsführende Herausgeber der „Kritischen Gesamtausgabe Ernst Troeltsch“ in fünf Kapiteln sämtliche Aspekte, die für den Leser dieser Nekrologsammlung bedeutsam sind und erschließt der Wissenschaftsgeschichte das altvertraute Genre des Gelehrtennachrufs geradezu als neues Quellenfeld. Er betont zu Recht, dass Wissenschaftshistoriker Nekrologe, speziell in der Tagespresse, bislang zu wenig oder keine Aufmerksamkeit gewidmet haben. Gerade das hier vorgelegte Quellencorpus führt aber in überzeugender Weise vor, welch wissenschaftlicher Wert einer solchen Sammlung zukommen kann. So macht Graf die entsprechende Quellengattung selbst zum Gegenstand der Erörterung in seinem ersten Kapitel „Literarischer Abschied: Der Intellektuellen-Nekrolog“. Darüber hinaus geht Graf ausführlich auf den Entstehungshintergrund der Nekrologe für Troeltsch ein, auf einzelne herausragende Nachrufe sowie die wichtigsten, nur grob systematisierbaren Gruppen von Autoren, die sich über den Verstorbenen äußerten.

In dem zweiten Kapitel der Einleitung werden eingehend die letzten Lebenswochen Troeltschs behandelt, der trotz offensichtlich tiefer Erschöpfung bis kurz vor seinem Tod daran festhielt, seinen umfangreichen Aufgaben nicht zuletzt als Dekan der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität nachzukommen. Besonders die Trauerfeier im Wilmersdorfer Krematorium am 3. Februar, und hier besonders die Leichenpredigt Adolf von Harnacks, unterzieht Graf einer genauen Untersuchung, die zu vielen interessanten Erkenntnissen über den engeren Kontext der Troeltsch-Forschung hinaus führt. Hingegen hätte eine gestrafftere Darstellung des Schicksals von Troeltschs Grab auf dem Berliner Invalidenfriedhof und der Fragen einer möglichen Urnenüberführung in den 1960er/1970er-Jahren aus der DDR in die Bundesrepublik kaum zu einem bedeutenden Erkenntnisverlust geführt.

In einem Kapitel über „Konkretes Gedächtnis: Verlust und Trauerarbeit“ geht Graf auf die teilweise sehr unterschiedlichen Formen des Gedenkens und der Memorialkultur für Ernst Troeltsch in den Jahren nach dessen Tod ein. Dabei beachtet er auch die höchst aufschlussreichen Reaktionen in Großbritannien, wohin der Gelehrte noch im Jahr seines Todes hatte reisen wollen, nicht ohne dort auf Widerstand gegen diese Pläne zu stoßen. Ausführlich widmet Graf sich der speziellen Erinnerungspflege, die die Dichterin Gertrud von Le Fort für Troeltsch entwickelte, in den sie wohl in ihren jüngeren Jahren verliebt war. Die trauernde Familie, speziell den Umgang der Witwe mit dem ihr anvertrauten Erbe ihres Mannes, macht Graf zum Gegenstand seines vierten Kapitels. Dabei wird deutlich, dass Marta Troeltsch demonstrativ den Anspruch erhob, in deutlich heroisierender Absicht die Gedächtnispolitik für ihren verstorbenen ersten Ehemann zu bestimmen. Bei aller Anerkenntnis der Akribie, mit der ihr weiterer Lebensweg und der ihres Sohnes aus der Ehe mit Ernst Troeltsch beleuchtet wird, hätte in diesem Kontext aber auf manch biografisches Detail, etwa zu ihrer zweiten Ehe mit dem DDP-Politiker Hermann Dietrich, auch verzichtet werden können.

Im letzten Kapitel wird sehr ausführlich die Suche nach dem Nachlass von Ernst Troeltsch dargestellt, die in ersten Ansätzen bereits in den 1950er-Jahren seitens des Bundesarchivs eingeleitet wurde, ohne zu einer endgültigen Klärung vieler Fragen gelangen zu können, bevor in den späten 1970er-Jahren mit Blick auf die Vorbereitungen der „Kritischen Gesamtausgabe Ernst Troeltsch“ eine umfassende Spurensicherung einsetzte. Im Zuge dessen konnten viele wichtige Quellen gefunden werden. Es bleiben aber hohe Verluste an primären Quellen und Nachlassbeständen zu beklagen. Um so verdienstvoller und nicht nur für die engere Forschung über Ernst Troeltsch bedeutsam ist jetzt die Veröffentlichung der vorliegenden Nekrologsammlung, die durch ein umfangreiches Namenverzeichnis erschlossen wird und der ebenso ausführliche wie hilfreiche „Biographische Notizen über die Nachruf-Autoren“ beigegeben sind.

Aber nicht nur biografische Detailinformationen, nicht zuletzt über Troeltschs großes Beziehungsnetz, Mitteilungen aus Briefen und Gesprächen, akademischer Klatsch und Tratsch sowie psychologisierende Charakterbilder des Verstorbenen sind in den vorgelegten Quellen enthalten. Vielmehr handelt es sich in der Tat, wie der Herausgeber in seinem Vorwort schreibt, um in verschiedenerlei Hinsicht intellektualgeschichtlich aufschlussreiche Texte von eigenem Reiz, die wichtige Quellen für die Geschichte der Intellektuellen als soziale Gruppe darstellen, Frontlinien in kulturellen Deutungskämpfen zwischen verschiedenen Generationen und konkurrierenden Wertideen markieren und nicht zuletzt als individuelle Texte der öffentlichen Selbstinszenierung der jeweils Jüngeren gelesen werden können. Zuerst und vor allem handelt es sich aber um Quellen von großer Wichtigkeit für die Erforschung von Leben und Werk Ernst Troeltschs, die nie anders als breit verankert im Kontext der Geistes-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte betrieben werden kann.

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