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Titel
Leben durch den Tod. Die zwei Seiten der Organtransplantation. Eine medizinethnologische Studie


Autor(en)
Kalitzkus, Vera
Reihe
Kultur der Medizin 6
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Campus Verlag
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Christine Holmberg, National Cancer Institute, Bethesda

In Deutschland wurde 1997 ein Transplantationsgesetz verabschiedet, in welchem sowohl Hirnversagen als Moment des Todes als auch die „erweitere Zustimmungslösung“ gesetzlich verankert wurden. Die erweiterte Zustimmungslösung besagt, dass Organe nur dann aus einem hirntoten Körper entnommen werden können, wenn der Verstorbene das vor seinem Tod verfügt hat oder aber Angehörige einer Organentnahme zustimmen.

Im Vorfeld der Gesetzesverabschiedung hatte es heftige Debatten darum gegeben, wer das Recht hat, diese Entscheidung zu treffen. Drei Varianten wurden diskutiert: 1. Eine Person muss während ihres Lebens entscheiden, ob ihr Organe entnommen werden dürfen (enge Zustimmungslösung); 2. Wenn der Verstorbene in seinem Leben keine entsprechende Entscheidung getroffen hat, können Angehörige das auch nach seinem Tod übernehmen (erweiterte Zustimmungslösung); 3. Jedem Hirntoten dürfen Organe entnommen werden, außer er hat dem ausdrücklich widersprochen (Widerspruchslösung). 1

Welche sozialen und persönlichen Konsequenzen die politisch durchgesetzte erweiterte Zustimmungslösung hat, beschreibt Vera Kalitzkus in ihrem Buch „Leben durch den Tod. Die zwei Seiten der Organtransplantation“.

Kalitzkus nutzt die Methode der teilnehmenden Beobachtung sowie qualitative Interviews, um ein Bild des komplexen Systems der Organtransplantation und der Menschen zu zeichnen, die durch diese Technik verbunden werden. Sie nahm an Treffen von Selbsthilfegruppen von Organempfängern teil, besuchte die World Transplant Games in Sidney und hospitierte auf einer Intensivstation eines Krankenhauses, das Transplantationen durchführt. Dabei stellte sich die Kontaktaufnahme zu Angehörigen von „Organspendern“ 2 als schwierig dar. Noch gibt es in Deutschland kaum institutionalisierte Austauschmöglichkeiten für diese Gruppe. Viele derer, die sich auf Anzeigen Kalitzkus’ meldeten, nutzten das Interview, um Öffentlichkeit für ihr Leiden und ihr Opfer herzustellen.

Kalitzkus macht auf die vielfältigen Probleme aufmerksam, die durch die Praxis Organtransplantation entstehen. Zum einen wissen die meisten der Angehörigen nicht, was die Einwilligung in eine Organtransplantation in ihrer praktischen Ausführung bedeutet. Daher können sie die Konsequenzen nicht einschätzen, die ihre Einwilligung auf den Verabschiedungsprozess von dem Sterbenden hat, was wiederum im weiteren Lebensverlauf der Angehörigen zum Teil zu Schwierigkeiten im Umgang mit dem erlebten Sterben führt. Dass der Abschied von dem Versterbenden sich durch die Organentnahme verändert, wird in den Interaktionen zwischen Ärzten und Angehörigen selten thematisiert. Zum anderen müssen aber auch diejenigen, die auf ein Organ „warten“, mit vielfältigen Widersprüchen umgehen. Müssen sie doch auf den plötzlichen Tod eines Anderen hoffen, um selbst weiterleben zu können.

Um zu zeigen, wie es zu den vielfachen Spannungen in der Praxis Organtransplantation kommt, nutzt Kalitzkus theoretische Konzepte des Leibes. Leib ist das „subjektive Wahrnehmungsorgan“ (S. 49), ein „vom Selbst durchdrungene(r)“ nicht „objektivierbare(r) Körper“. Es ist das, womit wir „in-der-Welt“ sind. Die medizinische Praxis Organtransplantation baut demgegenüber auf der Idee eines leblosen Körpers auf, der unabhängig vom Selbst existiert und darum objektiv betrachtet und bearbeitet werden kann. Wie Gesa Lindemann gezeigt hat, bildet dieser objektivierbare Körper das Organisationsprinzip moderner leiblicher Erfahrung. 3 Der Leib wird als kognitiv konstruierter Körper gespürt, womit sich Körperwissen und leibliche Erfahrung entsprechen. Eine Organtransplantation stellt diese Entsprechung in Frage, denn sie ist, so Kalitzkus, eine kulturelle Grenzüberschreitung von Selbst und Tod.

Vor diesem Hintergrund beschreibt Kalitzkus folgende Problemlagen. Bei einer Hirntod-Diagnose wird Tod an einem Menschen festgestellt, dessen Herz noch schlägt und der damit sinnlich wahrnehmbare Zeichen des Lebendigen zeigt. Das, was hier als Leiche betrachtet wird, widerspricht also traditionellen Vorstellungen vom Leichnam. Patienten mit irreversiblem Hirnversagen gehören zwar zu den Toten, Angehörige aber nehmen noch einen „lebendigen“ Körper sinnlich wahr, und so bleibt das Gefühl, sich von einem „lebendigen Leichnam“ verabschiedet zu haben. Dies verändert den Trauerprozess von Angehörigen. Wie Kalitzkus schreibt, entstehen zwei Todesmomente: Einmal der Abschied von dem lebendigen Leichnam und dann der Moment nach der Organentnahme, wenn dieser „endgültig“ gestorben ist. Die Diskrepanz zwischen dem intellektuellen Verstehen auf der Ebene des Körperwissens und der sinnlichen Erfahrung auf der Leibebene (S. 108) kann Schuldgefühle der Angehörigen gegenüber den Toten hervorrufen. Die Kongruenz von leiblicher Erfahrung und Körperwissen ist in Frage gestellt. Es findet eine Grenzverschiebung zwischen Leben und Tod statt.

Kalitzkus geht weiter der Frage nach, welche Bedeutung der Leiche im Umgang mit dem Tod zukommt. Eine Hirntod-Diagnose geht davon aus, dass der Mensch in dem Moment tot ist, in dem keine Hirntätigkeit mehr feststellbar ist. Vorstellungen über den „Ablöseprozess des Geistes oder der Seele vom Körper“ (S. 77) werden bei der Organtransplantation nicht berücksichtigt. Unter Heranziehung ethnologischer und historischer Beispiele argumentiert Kalitzkus, dass dieser Prozess auch heute nicht notwendigerweise im Gleichklang mit dem physischen Tod eines Menschen stattfindet. So berichtet sie von Leichenbestattern, die annahmen, dass der Ablöseprozess zwischen drei Tagen und mehreren Jahren dauern kann. Auch eine Leiche „hat“ damit in dem Sinne noch einen Leib, dass ein Selbst mit ihr verbunden ist (S. 77). Und weil die Leiche „[noch] in enger Verbindung zum Leib eines Menschen gedacht wird“ (S. 84), unterliegt der Umgang mit ihr besonderen Verhaltensregeln. Die Leiche des Hirntoten, dem Organe entnommen werden sollen, befindet sich somit „im Spannungsfeld zwischen dem individuellen und sozialen Körper“ (S. 89). Die Leichen sind so Subjekt der Trauer und der Fürsorge Angehöriger und gleichzeitig Objekt als Bioressource für die Medizin.

Als problematisch wurde von den Interviewten auch die Art und Weise der Frage nach einer Organentnahme in der Klinik erlebt. Oft finden die Todesmitteilung und die Frage nach einer Organentnahme innerhalb sehr kurzer Zeiträume statt, häufig sogar in ein und demselben Gespräch. Angehörige, die den plötzlichen Tod eines geliebten Menschen begreifen müssen, stehen unter Schock. Gleichzeitig wissen sie um die Bedeutung des Organs für einen potenziellen Empfänger. Das individuelle Leben konfligiert hier mit der moralischen Verpflichtung zur Solidarität (S. 117). Dieser Druck, der durch unser gesellschaftliches Wertesystem erzeugt wird, macht freie und informierte Entscheidungen nahezu unmöglich.

Wie Kaltizkus und andere zeigen, ist zugleich der öffentlich genutzte Begriff des „geschenkten Lebens“ irreführend. Denn das Leben von Organempfängern ist kein „unbeschwertes“, „normales“, oder „gesundes“ Leben. Es bleibt die ständige Gefahr, dass das Organ versagt oder doch noch abgestoßen wird. Der Transplantierte muss kontinuierlich Medikamente nehmen und unter Überwachung „seines“ Transplantationszentrums stehen. Kalitzkus beschreibt einfühlsam die vielfältigen neuen und anderen Ängste, die mit einer Organtransplantation bei den Organempfängern einhergehen.

Zusätzlich wird das Selbst der Transplantierten durch das Vorhandensein eines fremden Organs im eigenen Leib in Frage gestellt. „Die Integration und Aneignung des fremden Organs stellt demnach nicht nur eine physische, sondern auch eine psychische Herausforderung für die Organempfänger dar.“ (S. 217) Die Praxis Organtransplantation sorgt damit sowohl für eine Grenzverschiebung zwischen den Lebenden und den Toten als auch für eine Grenzverschiebung verkörperter Individuen (S. 256).

Letzlich, so argumentiert Kalitzkus, ist die gegenwärtige Praxis der Organtransplantation ein unvollständiger Gabentausch, in dem sich die Dimensionen des Staates und des Marktes mit denen des Gabentausches überschneiden. Es sind ökonomische Kriterien, die den Austausch zwischen gebender und nehmender Seite in der Transplantationsmedizin führen. Da die Transplantationsmedizin die Dimension des Leibes nicht berücksichtigt, erfährt die technische Praxis ihre Begrenzung durch die Menschen. Denn Angehörige, „Organspender“ und Organempfänger werden nicht als in komplexen Beziehungen miteinander verbunden betrachtet. In der Praxis führt das zu „mangelnder Aufmerksamkeit gegenüber den Angehörigen von Organspendern und ihren Problemen einerseits sowie [...] psychisch belastenden Aspekten für Organempfänger andererseits“ (S. 248).

Die biomedizinische Praxis Organtransplantation ist seit langem Forschungsgegenstand der Ethnologie. Dabei wurden Kommerzialisierungen von Körperteilen und seine ethischen Grundlagen, Fragen der Hirntod–Definition sowie soziale Ein- und Ausschließungspraxen im Umgang mit so genannten Hirntoten bearbeitet. Ebenso wurde der Aspekt der Gabe bei Organtransplantationen thematisiert. Angehörige von Hirntoten allerdings wurden bisher in der Forschung weitgehend vernachlässigt. So ist das Buch „Leben durch den Tod. Die zwei Seiten der Organtransplantation“ ein wichtiger Beitrag, um ein vollständigeres Bild der Praxis Organtransplantation zu erhalten. Gerade in Deutschland, wo das Rechtssystem Angehörige in die Pflicht nimmt, „im Sinne des Verstorbenen“ über Organtransplantation zu entscheiden, ist die Studie von großer Bedeutung. Weil das Buch den Abschiedsprozess und den Leichnam in den Mittelpunkt stellt, macht es explizit, was hintergründig in den Debatten um Hirntod und Organtransplantation mitschwingt: die unterschiedlichen Vorstellungen davon, was Tod ist, was nach dem Tod kommt und welche Rolle darin einer physischen Leiche zukommt.

Entsprechend versteht Kalitzkus ihr Buch nicht nur als eine wissenschaftliche Analyse, sondern nimmt am Ende des Buches Stellung zur Praxis Organtransplantation. Zu Beginn des Buches verweist sie auf die Rolle der Feldforscherin im Forschungsprozess und reflektiert ihre Subjektivität. Leider übertritt sie die Schwelle der Beobachterin nur an diesen beiden Stellen des Buches explizit. Ein Feld, das Existenzielles behandelt, ist immer auch ein zutiefst subjektives und emotionales Feld, weshalb Kalitzkus, um einer Verzerrung ihrer Daten entgegenzuwirken, während der Forschung eine Supervision machte. Es hätte Analyse und Buch gut getan, diese tiefe Emotionalität grundsätzlicher zu thematisieren. Tod ist ein schreckliches Ereignis, welches unter den Hinterbliebenen größtes Leid hervorruft, egal wie der Sterbeprozess aussieht. Auch diejenigen, die auf ein Organ warten, leben „im Angesicht des Todes“. Kalitzkus weiß um diese Existenzialität und thematisiert die Zerrissenheit in ihrem eigenen Erleben, überträgt dies dann aber nicht auf die Analyse und kehrt am Ende des Buchs nicht dazu zurück. Vielmehr scheint es fast, als ob es ein „gutes“ Sterben gäbe. Wenn dies aber so ist, hätte die Studie noch auf andere Formen des Sterbens und das Sprechen von Angehörigen darüber eingehen müssen. Gerade auch wenn sie die Schwierigkeiten, die ihre Interviewpartner mit dem Tod ihres Angehörigen haben, damit erklärt, dass der „traditionelle“ Leichnam fehlt. Sie schreibt: „Denn um den Tod tatsächlich zu begreifen, sind Leichen unabdingbar.“ (S. 252) In der heutigen deutschen Gesellschaft kann man sich oft entscheiden, ob man den Leichnam eines Verstorbenen sehen will oder nicht. Manche entscheiden sich dagegen. Hier wären Vergleiche notwendig gewesen, auch um das Plädoyer am Ende des Buches für eine enge Zustimmungslösung zu rechtfertigen.

Ebenso knüpft Kalitzkus am Ende des Buches nicht an die zu Beginn geführte Debatte über die Auswahl ihrer Untersuchungssubjekte an. Wie sie selbst schreibt, ist es wahrscheinlich, dass es sich bei denjenigen, die sich zu einem Interview bereit erklärten, um eine „besondere“ Gruppe handelt. Ich hätte mir mehr Diskussion gewünscht, warum sie trotzdem, und zu Recht, Änderungen in der gängigen Praxis vorschlägt. Dies betrifft eine grundsätzliche Frage der ethnologischen Wissensgenerierung. Gerade die Medizinethnologie muss sich der Frage stellen, warum sie trotz kleiner und meist auch „besonderer“ Untersuchungsgruppen, Vorschläge zur Veränderungen ganzer Systeme machen kann und soll.

Die Stärke des Buches ist die Darstellung der Einzelschicksale, die in theoretische Zusammenhänge gebracht, die Welt der Organtransplantation ausmachen und die Grenzen und Probleme dieser Welt aufzeigen. Dadurch wird die Komplexität dieser Praxis deutlich. Die plastischen Beschreibungen und die gute Gliederung machen das Buch zu einer spannenden Lektüre und einem breiten Publikum zugänglich. Es ist ein gesellschaftspolitisch wichtiges Buch, das einen Zugang zur Welt der Organtransplantation bietet, auch mit dem Ziel, „informierte“ Entscheidungen zu ermöglichen.

Anmerkungen:
1 Für eine Sammlung damaliger Reden und Zeitungsartikel siehe http://www.selbsthilfe-online.de/sonstiges/dokutr.shtml.
2 Kalitzkus verwendet den Begriff Organspender in Anführungszeichen. Damit verweist sie auf die Problematik des Begriffs, da die meisten Personen, deren Organe verwendet werden, nicht selbst die Einwilligung zur Organentnahme gegeben haben, sondern Angehörige nach dem Hirnversagen die Einwilligung geben.
3 Lindemann, Gesa, Das soziale Geschlecht unter der Haut, in: Kea – Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7(1994), S. 1-12.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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