Titel
Zrod velkoměsta. Urbanizace českých zemí a Evropa [Die Geburt der Großstadt. Die Urbanisierung der böhmischen Länder und Europa]


Autor(en)
Horská, Pavla; Maur, Eduard; Musil, Jiř í
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
263 Kč
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas R. Hofmann, GWZO Leipzig

Wer sich mit der Stadtentwicklung der böhmischen Länder beschäftigt, weiß, dass sich die einschlägige Forschung in Tschechien vor allem um Prag dreht. Umso willkommener ist ein Band, der sich vornimmt, die Urbanisierung der böhmischen Länder in einer Überschau vom ausgehenden Mittelalter bis zur Gegenwart darzustellen und der keineswegs so praglastig ausgefallen ist, wie man angesichts der Forschungslage hätte annehmen können. Das Untersuchungsgebiet ist im Wesentlichen auf das Territorium der heutigen Tschechischen Republik beschränkt, bezieht also die in der Vergangenheit zur Böhmischen Krone zählenden Gebiete wie die Lausitzen (bis 1635) und den Mitte des 18. Jahrhunderts von Preußen annektierten größeren Teil Schlesiens nicht mit ein. Der Vergleich mit anderen europäischen Ländern, wie ihn der Titel des Werks andeutet, wird zwar nicht systematisch durchgeführt, jedoch gelegentlich hinzugezogen, wenn Besonderheiten der tschechischen Entwicklung herausgestellt werden sollen; dies ist sicher ein sinnvolles Verfahren.

Die Arbeitsteilung zwischen dem Stadtsoziologen Jirí Musil, dem Frühneuzeithistoriker Eduard Maur und der Wirtschaftshistorikerin Pavla Horská hat nicht zu einer interdisziplinären Studie im eigentlichen Sinne geführt. Vielmehr bleiben die konzeptionellen Unterschiede des von Musil vertretenen soziologischen Ansatzes und der von den beiden Historikern in ihren theoretischen Grundlagen nicht explizierten Zugangsweisen unvermittelt nebeneinander stehen. Das Ergebnis ist ein an unausgesprochenen theoretischen und methodologischen Widersprüchen reiches, darum aber nicht minder anregendes und interessantes Buch.

Musil möchte den Begriff der Urbanisierung strikt an die Zeit seit der einsetzenden Industrialisierung gebunden wissen. Demnach könne von Urbanisierung in England etwa seit der Mitte des 18., in den böhmischen Ländern gar erst seit Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Rede sein. Dem allgemeineren Urbanisierungsbegriff, der in der älteren historischen Forschung mit Stadtentstehung und –wachstum gleichgesetzt wurde, hält Musil in seiner theoretischen Einleitung die Auffassung entgegen, dass von Urbanisierung nur dann gesprochen werden könne, wenn spezifisch städtische Lebensweisen auf die Gesamtgesellschaft übergreifen und den historischen Stadt-Land-Kontrast zum Verschwinden bringen. Nicht die Erhöhung des relativen Anteils der Stadt- an der Gesamtbevölkerung sei demnach ausschlaggebend für die fortschreitende Urbanisierung, sondern die Durchsetzung der Modernisierung im Sinne des industrietechnischen Fortschritts und seiner Anwendung im Alltagsleben mit allen dazugehörigen Konsequenzen für die soziokulturelle Gesamtverfassung der Gesellschaft.

Horská und Maur scheuen vor einer expliziten Auseinandersetzung mit dieser Konzeption zurück, machen aber deutlich, dass sich ihre Ansätze nicht ohne weiteres mit Musils Auffassung vereinbaren lassen. Bezeichnenderweise überschreibt Maur sein Kapitel über die Stadtentwicklung der böhmischen Länder bis zum 18. Jahrhundert mit der paradoxen Formulierung „Urbanisierung vor der Urbanisierung“, und Horská spricht von der „klassischen Urbanisierung“, die sie für die böhmischen Länder auf die Zeit von 1830-1930 datiert, womit sie vorangegangene, „nichtklassische“ Phasen der Urbanisierung impliziert. Explizit könnte ein Historiker u.a. Folgendes gegen Musil einwenden: Musils Ansatz ist insofern unhistorisch-präsentistisch, als er lediglich die moderne Städtischkeit auf ihre Ursprünge in der jüngeren Vergangenheit zurückverfolgt. Damit kann jedoch keine Antwort auf die historisch doch nicht uninteressante Frage gegeben werden, was Städtischkeit oder Urbanität etwa im ausgehenden Mittelalter oder im 18. Jahrhundert bedeuteten. Denn ein besonderes städtisches Lebensgefühl existierte selbstverständlich längst vor der Entstehung einer von der Industrie geprägten Umwelt, unterlag selbst aber langfristigen Veränderungsprozessen und sollte deshalb nicht als unhistorische Konstante aufgefasst werden. Die Bindung des Urbanisierungsbegriffs an die industrietechnische Moderne kann – zumindest aus historischer Sicht – nicht überzeugen. Auch bleibt Musil eine Antwort auf die Frage schuldig, an welchem Punkt im Urbanisierungsprozess eine kritische Masse erreicht ist, bei der städtische Lebensweisen und soziokulturelle Haltungen für die Gesamtbevölkerung eines Gebiets relevant werden. Der Historiker muss dagegen von der Annahme ausgehen, dass bereits mittelalterliche und frühneuzeitliche Verstädterungsprozesse mit entsprechenden soziokulturellen Veränderungen einhergingen, die zwar langsamer und unauffälliger voranschritten als während der Industrialisierung, gleichwohl aber einen wachsenden Sektor der Gesellschaft einschließlich der nach wie vor in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerungsgruppen erfassten.

Wie Eduard Maur ausführt, war die Lage der böhmischen Länder jenseits des römischen Limes eine Grundvoraussetzung der dortigen Stadtwerdung. Anders als im direkten Einzugsbereich des Imperium Romanum, entwickelten sich zunächst keine größeren Städte. Eine Ausnahme von dieser Regel bildete Prag, das um 1400 bereits etwa 40.000 Einwohner zählte. Bei stagnierender Gesamtbevölkerung der Städte wuchs vom 13. bis 15. Jahrhundert deren Anzahl. Die Kleinstadt mit nur wenigen tausend Einwohnern (oppidum, mestecko) blieb lange Zeit charakteristisch für die Städtelandschaft der böhmischen Länder, die indessen früh eine ähnliche Dichte wie im westlichen Mitteleuropa erreichte (S. 61-66). Die Silbergewinnung im Erzgebirge förderte einerseits die Entstehung neuer Bergbaustädte und der für ihre Versorgung notwendigen Getreidehandelszentren, führte andererseits aber auch zur Vernachlässigung weiterer Gewerbezweige. Maur charakterisiert die tschechischen Städte der frühen Neuzeit wirtschaftlich als typische „Semiperipherie“: Sie hingen zwar nicht, wie manche Regionen des östlichen Europa, allein vom Handel mit Rohstoffen ab, produzierten und exportierten aber ausschließlich preiswertere Massenprodukte, während ausgesprochene Luxusartikel aus dem Ausland bezogen wurden (S. 72). Zur Zeit der Protoindustrialisierung war besonders der adelige Großgrundbesitz wirtschaftlich aktiv; dadurch gerieten die Königsstädte gegenüber den Adelsstädten ökonomisch ins Hintertreffen. In Abkehr von älteren Interpretationen der tschechischen Historiografie deutet Maur die Zeit nach der Niederschlagung des böhmischen Ständeaufstandes 1620 nicht nur als eine Phase des ökonomischen, kulturellen und politischen Niedergangs: Zwar verloren die Städte ihre administrative Autonomie, die Durchsetzung der absolutistischen Herrschaft brachte andererseits aber auch eine Professionalisierung von Justiz und Verwaltung auf städtischer Ebene mit sich (S. 111f.).

Leider schließt Pavla Horskás Kapitel über die „klassische Urbanisierung“ der böhmischen Länder nicht direkt an die von Maur ausgeführten Besonderheiten der böhmischen, mährischen und schlesischen Protoindustrialisierung an, um von diesem Ausgangspunkt aus die Entwicklungsbedingungen der böhmischen Städte während der ersten und zweiten Industrialisierung zu erklären. Überhaupt ist gut die erste Hälfte ihres Beitrags der schwächste Teil des Buches, denn die Autorin kompiliert hier eine große Anzahl von im Einzelnen hochinteressanten, aber konzeptionell nur schwach miteinander verknüpften Fakten aus der Wirtschaftsgeschichte der böhmischen Länder, wobei sie das Thema des Bandes ein wenig aus dem Blick verliert. Die so interessante wie provokative These, die böhmische Urbanisierung habe eigentlich in der Reichshauptstadt Wien begonnen (S. 154), die während der Hochindustrialisierung eine massive Zuwanderung tschechischer Migranten erlebte, wird von Horská vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz Prag – Wien diskutiert. Durch die Rückverlegung der Kaiserresidenz von Prag nach Wien war erstere Stadt zu einem bloßen Provinzzentrum heruntergestuft worden, das durch die tschechische Nationalbewegung seit Anfang des 19. Jahrhunderts in den Rang einer nationalen, politischen und kulturellen Metropole erhoben wurde. An dieser Stelle könnte darüber hinaus gefragt werden, ob durch die wirtschaftliche und kulturelle Anziehungskraft Wiens die Urbanisierung der böhmischen Länder eher verzögert worden ist, oder ob sie – so wäre in Anlehnung an Musils Ansatz zu argumentieren – umgekehrt Impulse für die Verbreitung (groß-)städtischen Lebens und den Anschluss an westeuropäische infrastrukturelle, städtetechnische und kulturelle Standards erhalten hat. Einen Schritt in die Richtung einer historisch-empirischen Umsetzung von Musils Ansatz geht Horskás These, dass die Beleuchtungsgewohnheiten wie die Verwendung technischer Lichtquellen nicht mehr ausschließlich zu Zwecken der Arbeit, sondern ebenso zur Erhöhung des Wohnkomforts ein Indikator für die fortschreitende Urbanisierung einer Gesellschaft sein können (S. 218); es bleibt jedoch bei dieser vereinzelten Überlegung.

Ähnlich wie in Deutschland, markiert das Jahr 1890 in den böhmischen Ländern ungefähr die Grenze zwischen der Landflucht durch die Emigration nach Übersee und dem Fortzug in die größeren Städte der Region (S. 201). Die demografische Entwicklung wäre hier besser tabellarisch oder noch anschaulicher in Grafiken darzustellen gewesen. In der gewählten Aufzählungsform entsteht leicht der Eindruck einer nicht ganz bewältigten Stoffülle. Schließlich bricht Horskás Darstellung mit dem Ende der Habsburgermonarchie ziemlich unvermittelt hab, so als habe nicht die Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik eine Fülle von Impulsen für den Städtebau in den böhmischen Ländern und die Umsetzung von teilweise aus der Zeit von vor 1914 stammenden Konzeptionen des neuen Wohnens gebracht.1

So lässt der Band eine chronologische Lücke für die Zeit zwischen 1918 und 1938/45, die umso spürbarer ist, als Jirí Musil in seinem Kapitel über die tschechischen Städte im Sozialismus unterstreicht, dass viele der nach 1945/48 umgesetzten Konzeptionen auf Ideen der häufig linksorientierten Architekten und Städtebauer der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit zurückgingen (S. 281f.). Während im konzeptionell durchaus verwandten Siedlungsbau im nichtsozialistischen Westen Fehlentwicklungen erkannt, öffentlich kritisiert und wenigstens teilweise korrigiert werden konnten, scheiterten solche Korrekturen in der Tschechoslowakei an der systembedingten Unterschätzung sozialer Faktoren, der Trägheit der Planungsapparate und dem notorischen Kapazitätsmangel der industrialisierten Bauwirtschaft. Interessant ist Musils Hinweis, dass im Unterschied zu den siedlungspolitischen Konzeptionen der UdSSR und teilweise auch Polens und der DDR sich die Wirtschaftsplaner in der Tschechoslowakei zumindest in der ersten Phase des Sozialismus noch auf das gut ausgebaute Wegenetz und die bei der Siedlungsdichte und geringen Größe des Landes relativ kurzen Entfernungen verließen (S. 255f.). Die in den Städten benötigten Arbeitskräfte blieben vielfach auf dem Lande ansässig und waren zum Pendeln gezwungen, da keine Wohnungen in unmittelbarer Arbeitsplatznähe zu finden waren.

Die tristen und sozialstrukturell benachteiligten Wohnsilos sind das dauerhafte Erbe des in den 1960er und besonders den 1970er-Jahren mit Macht betriebenen Siedlungsbaus in den Vorstädten, dessen Absicht weitgehend fehlschlug, Wohnsiedlungen (sidlište), Infrastruktureinrichtungen und Arbeitsplätze zusammenzuführen und der erwerbstätigen Bevölkerung in ausreichender Menge zur Verfügung zu stellen. In Anbetracht andauernder Knappheit an bezahlbaren Wohnungen kann in Tschechien dem Missstand nicht einfach durch Abriss oder Rückbau dieser Stadtteile abgeholfen werden.2 Dennoch eröffnet Musil in seinem Ausblick auf die mögliche Entwicklung der tschechischen Städte in den nächsten Jahrzehnten ein durchaus optimistisches Szenario, das auch die Wiederbelebung der historischen Innenstädte und die Aufhebung der Fehlentwicklungen der Sub- und Deurbanisierung nicht ausschließt. Spätestens an dieser Stelle drängen sich dem Leser die Parallelen zur gegenwärtigen Situation der Städte in Mittel- und Westeuropa förmlich auf: Die Entwicklungschancen und –risiken der tschechischen Städte ordnen sich unter den Vorzeichen der Globalisierung nahtlos in die internationalen Trends ein.

Trotz der genannten Einschränkungen bietet der Band eine lesenswerte Synthese des Forschungsstandes zur Stadtentwicklung in den böhmischen Ländern. Ein Desiderat für zukünftige Versuche dieser Art sei abschließend genannt: Der Aspekt der für alle ostmitteleuropäischen Städte charakteristischen Multinationalität, die zwischen 1938 und 1945 abrupt beendet wurde, wird von den drei Autoren gelegentlich angeschnitten – besonders Musil verweist auf die siedlungspolitische Problematik, die in den Randgebieten Böhmens durch die Vertreibung der Deutschen entstand – aber nirgends systematisch in die Darstellung eingebunden. In einer zukünftigen Urbanisierungsgeschichte der böhmischen Länder verdiente es die Frage nach der historischen Segregation und Integration der Nationalitäten und ihrer Bedeutung für die soziologische Struktur der Städte, in den Rang eines zentralen Analyseaspekts erhoben zu werden.3

Anmerkungen:
1 Hinweise hierzu demnächst: Janatková, Alená, Die Bauaufgabe Kleinwohnung in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit, In: dies.; Kozinska-Witt, Hanna (Hgg.), Wohnen in der Großstadt 1900-1939. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich, Stuttgart [in Vorbereitung, erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2004].
2 Exemplarisch auch in der vergleichenden Studie von: Steinführer, Annett, Wohnstandortentscheidungen unter den Bedingungen städtischer Transformation. Untersuchungen in Leipzig und Brünn (Brno), Phil. Diss. Chemnitz 2002.
3 Aus der neueren Literatur hierzu beispielsweise Carter, Francis C., Ethnic Residential Patterns in the City, In: Engman, Max (Hg.), Ethnic Identity in Urban Europe (Comparative Studies on Governments and Non-Dominant Ethnic Groups in Europe 1850-1940 8), Aldershot 1992, S. 375-389; Erdentug, Aygen; Colombijn, Freek, Urban Ethnic Encounters. The Spatial Consequences, London 2002.

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