J. Neuheiser: Paraden des Oranierordens in Irland

Titel
Erinnerung von unten. Die Paraden des Oranierordens in Irland (1796-1846) aus kulturgeschichtlicher Sicht


Autor(en)
Neuheiser, Jörg
Reihe
Studien zur Englischen Literatur- und Kulturwissenschaft 4
Anzahl Seiten
124 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Müller, Historisches Seminar Grabengasse, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Im Zuge wachsender Bedeutung von kulturgeschichtlichen Fragestellungen beschäftigen sich Historiker seit den 1980er-Jahren mit Formen und Praktiken kollektiver Erinnerung, mit deren zeitgenössischer Einbettung in soziokulturelle Spannungsfelder und mit der Vermittlung und Bewahrung von identitätserhaltendem Wissen in sozialen Gruppen. Die irische Geschichte bietet für diese Fragen ein breites Betätigungsfeld, da durch soziale und konfessionelle Spannungen von der Frühen Neuzeit bis heute hier verschiedene Gruppen ihre Werte und Forderungen immer wieder durch wandelnde und umkämpfte Repräsentationen der Vergangenheit ausdrücken. 1 Die von Jörg Neuheiser im Jahre 2000 an der Universität zu Köln eingereichte Staatsarbeit leistet hierzu zwei Beiträge: Zum einen werden die Paraden des Oranierordens am 12. Juli - dem schon während des gesamten 18. Jahrhunderts begangenen Erinnerungstag an den Sieg Wilhelms III. von Oranien bei Aughrim im Jahre 1691 im Norden Irlands als Rituale in ihrem politischen und sozialen Kontext für den Zeitraum zwischen 1796 und 1846 untersucht. Zum anderen versucht der Autor, auf Grundlage dieser Studie soziale und politische Spannungslinien in den Prozess der Formierung protestantischer „kollektiver Identitäten“ zu integrieren (S. 10, 14).

Neuheiser weist das Desiderat einer empirischen Studie zur politischen Symbolik der Paraden des Oranierordens auf, da die Forschung zum Orden diesen bislang vorwiegend als politisches Instrument der protestantischen „Gentry“ in Irland untersucht hat und die Paraden als soziale Praxis weitgehend außer Acht ließ (S. 15-23). 2 Er stellt die These auf, dass der Prozess ritueller Erinnerung in Abgrenzung zu Jan Assmanns Konzept der Konstruktion kollektiver Identitäten als Übertragung von Spezialistenwissen auf eine größere soziale Gruppe 3 viel komplexer sei, als bislang zumeist angenommen, und postuliert, dass die Paraden gerade durch ihre Trägerschaft, die ländlichen Unterschichten, in der Frühzeit das entgegen gesetzte Modell einer „Erinnerung von unten“ darstellten (S. 25). Mit diesem Ansatz sieht Neuheiser die Paraden nicht nur als kampfbereite Manifestationen protestantischer Dominanz über die irischen Katholiken, als einen von der protestantischen „Gentry“ gelenkten konfessionellen Kampf an, sondern interpretiert sie darüber hinaus als „symbolischen Kristallisationspunkt sozialer Gegensätze und politischer Unterschiede innerhalb der nordirischen Protestanten“ (S. 25).

Probleme bereitet bei dieser Fragestellung die Quellenbasis, denn die meisten Berichte über die Ordensparaden - für die Frühzeit vor allem die Aussagen herausragender Ordensleute vor der parlamentarischen Untersuchungskommission von 1835 4 - blendeten die Unterschichten als Akteure fast völlig aus. Neuheiser wählt daher den Ansatz, die soziale Praxis der Paraden selbst und die politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen des Handelns der Akteure zu untersuchen, um seine Analyse aus Sicht der Unterschichten stützen zu können (S. 27). Für die Rekonstruktion der Handlungen der Teilnehmer und der Abläufe der Paraden wurden vor allem die Berichte in zeitgenössischen Zeitungen (im protestantischen „Belfast News-Letter“ und im katholischen „Freeman’s Journal“) herangezogen.

Neuheiser ordnet zunächst die Paraden und die Spannungen innerhalb des Ordens in seiner Frühzeit in den sozio-politischen Kontext der irischen Geschichte und in die Fest- und Erinnerungskultur Irlands ein. Hierbei beschreibt er die Spannungen innerhalb der Grafschaft Armagh bei der Gründung des Oranierordens in den 1780er und 1790er-Jahren (S. 29-49). Er legt dar, dass die Gründung des Ordens in den Jahren 1795 und 1796 als Reaktion der ländlichen protestantischen Unterschichten auf die Verunsicherung durch die katholischen „Defenders“, die wirtschaftliche Konkurrenz katholischer Kleinbauern und Leinenweber und die zunehmend auf Einbeziehung der Katholiken in die irische Gesellschaft gerichtete Politik der Regierung und die Zurückhaltung der örtlichen „Gentry“ gegenüber dieser Politik anzusehen ist. Daher verfolgte die Gründung des Ordens „von unten“ in der unmittelbaren Auseinandersetzung zwischen Protestanten und Katholiken in Armagh 1795/96 zwei Zielrichtungen: zum einen die Stärkung der Stellung gegenüber den „Defenders“, zum anderen die symbolische Erneuerung einer protestantischen Einheit über soziale Schranken hinweg. Damit sei in den Paraden neben dem symbolischen Anspruch auf die irisch-protestantische Dominanz sowohl eine Kampfansage an die Katholiken als auch ein Appell an die protestantische Führungsschicht zu sehen (S. 48f.).

Neuheiser hebt im zweiten Kapitel hervor, dass der Oranierorden verschiedene Festelemente des im 18. Jahrhundert bestehenden Kults um Wilhelm III. übernahm, diese aber durch Anpassung an seine Bedürfnisse zum protestantischen Gruppenzusammenhalt grundlegend wandelte (S. 54-57, S. 69). Durch die Übertragung vormals städtischer, vor allem durch Regierung und städtische Mittelschichten getragener Erinnerung an Wilhelm III. in die sich wandelnde ländliche Gesellschaft und durch die ländlichen Unterschichten als Trägerschaft des Rituals veränderte sich die bis dahin in Teilen konfessionsoffene Erinnerung in eine protestantische. Zudem eröffnete die neue Form der Erinnerung den ländlichen Unterschichten neben Aufruhren eine andere, dauerhaftere Gemeinsamkeit stiftende, Möglichkeit zum sozialen Protest (S. 67). Die Oberschichten gerieten in das Dilemma, dass sie zwar die aggressiver werdende Stimmung der Unterschichtparaden ablehnten und sich fast vollständig von den Feiern zurückzogen, aber gleichzeitig den Forderungen der Oranier nach symbolischer Unterstützung ihrer Feiern und ihrer dadurch dargestellten sozialen Stellung ausgesetzt waren (S. 68). Dieses Verlangen der Unterschichten nach symbolischer Bekräftigung und offener Zurschaustellung ihrer privilegierten sozialen Stellung wird überzeugend als Inszenierung einer protestantischen Gemeinschaft und als Spiegelbild sozialer Spannungen innerhalb der irischen Protestanten interpretiert (S. 69).

In einem dritten Kapitel wird der Wandel des sozialen Rituals der Paraden zwischen 1800 und 1846 aufgezeigt. Die Paraden erhielten ihre konfessionelle wie soziale Sprengkraft durch zwei Entwicklungen, die erst ab 1815 verstärkt zum Tragen kamen: zum einen die von Daniel O’Connell geführte Emanzipationsbewegung, die 1829 im „Catholic Relief Act“ einen gewissen Abschluss fand, und die zeitgleich im protestantischen Ulster zunehmend bemühte „Zweite Reformation“, zum anderen der wirtschaftliche Abschwung in Irland nach den Napoleonischen Kriegen (S. 75f.). Während die protestantischen ländlichen Unterschichten jährlich am 12. Juli in Loyalität zur englischen Krone die in Frage gestellte protestantische Dominanz zelebrierten, versuchten konservative wie liberale Regierungen in der Folgezeit, die Paraden zu unterbinden. Die örtliche „Gentry“ als Träger konservativ-protestantischen Einflusses in Irland versuchte zwar, über die Oranier-Logen die Pächter zu mobilisieren und zu kontrollieren, gleichzeitig aber die Paraden, welche lokale Konflikte und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen katholischer und protestantischer Landbevölkerung schürten, strikt zu unterbinden. Diese Ausschreitungen führten zu einer Schwächung der traditionellen Stellung und zur grundsätzlichen Gefährdung des Ordens als möglichem Einflusskanal der „Gentry“ auf die ländliche Bevölkerung (S. 83f.). Grundsätzlich, so betont Neuheiser, stand die „Gentry“ an der Ordensspitze vor dem Problem, dass die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ihre traditionell patriarchalische Stellung gegenüber den ländlichen Unterschichten geschwächt hatten, und die ländliche Bevölkerung sich angesichts der materiellen Armut über die Konfessionsgrenzen hinweg zusammenschloss. Solche Bündnisse manifestierten sich zum Beispiel 1830 als Reaktion auf die hohen Pachtgebühren, so dass die Ordensspitze im Gegenzug neben dem Versprechen besserer Pachtbedingungen zugleich an eine intensive Betreuung und Abschottung der protestantischen Ordensmitglieder ging. Die politische Einschwörung des Ordens auf die Dominanz der protestantischen Sonderstellung in den 1830er-Jahren interpretiert Neuheiser als Reaktion der „Gentry“ auf die sozialen Forderungen der Unterschichten. Die häufig vertretene These, der Orden sei ein politisches Instrument der Gentry zur Austragung der Konfessionspolitik gewesen 5, kann mithin für die Frühzeit des Ordens nicht überzeugen (S. 88).

In seiner Einleitung zu „The Invention of Tradition“ definiert Eric Hobsbawm die „Erfindung“ von Traditionen als Prozess der Ritualisierung von Elementen mit Bezug zur Vergangenheit, um in Zeiten sozialen Wandels symbolische Praktiken herbeizuführen, die sinnstiftend und gruppenintegrativ wirken können. 6 Neuheiser zeigt in seiner Arbeit überzeugend, wie die Paraden der Oranier seit 1796 in Zeiten sozialen wie politischen Wandels durch die Adaption und Umdeutung etablierter Formen und Symbole der Erinnerungsfeiern an Wilhelm III. traditionsstiftend wirkten. In Abwandlung der These von Hobsbawm argumentiert Neuheiser jedoch, die Paraden hätten gerade nicht Formen gesellschaftlicher Integration gefördert, sondern als ein konsequent gegen jede gesamtgesellschaftliche Integration gerichtetes Ritual gewirkt, mit dem sich die seit langem bestehenden konfessionellen Gegensätze und die darauf beruhenden Machtstrukturen hätten konservieren lassen. Indem Neuheiser die Rolle der Unterschichten in diesem Prozess in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellt, modifiziert er zugleich das Paradigma der Vermittlung von Gruppenidentität durch kleine Führungsschichten und hebt die Mehrdimensionalität dieses Vorgangs und die eigene Bedeutung einer „Erinnerung von unten“ hervor.

Die Arbeit, die klar und verständlich geschrieben ist und am Ende jeden Kapitels hilfreiche Zwischenresümees enthält, schließt mit einem anschaulichen Ausblick auf die Geschichte der Paraden zwischen 1846 und der unmittelbaren Gegenwart. Insgesamt bietet diese Studie auf breiter Quellengrundlage unter Einschluss gedruckter wie ungedruckter Materialien einen gelungenen deutschen Beitrag zur historischen Verortung der Auseinandersetzungen in Nordirland.

Anmerkungen:
1 Vgl. McBride, Ian, Memory and national identity in modern Ireland, in: Ders. (Hg.), History and Memory in Modern Ireland, Cambridge 2001, S. 1-42, hier S. 3f.
2 Für die Zeit ab 1870 Jarman, Neil, Material Conflicts: Parades and Visual Displays in Northern Ireland, Oxford 1997. Zu ähnlichen Ergebnissen wie Neuheiser kommt Farrell, Sean, Rituals and Riots. Sectarian Violence and Political Culture in Ulster, 1784-1886, Kentucky 2000. Die Arbeit ist im Text nicht berücksichtigt worden, aber Neuheiser kommentiert sie kurz in seinem Vorwort, vgl. S. 10.
3 Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, München 1999, S. 57.
4 Vgl. Reports from the Select Committee on Orange Lodges in Ireland with Minutes of Evidence and Appendices, London 1835.
5 Vgl. Jarman (wie Anm. 2), S. 62f.; McBride (wie Anm. 1), S. 9.
6 Hobsbawm, Eric, Inventing Traditions, in: Ders., Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 1-14, bes. S. 4-7.

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