M. König (Hg.): Handwerker u.a. in Paris

Titel
Deutsche Handwerker, Arbeiter und Dienstmädchen in Paris. Eine vergessene Migration im 19. Jahrhundert


Herausgeber
König, Mareike
Reihe
Pariser Historische Studien 66
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
204 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinrich Hartmann, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Als vor 15 Jahren die Grundthesen einer postmodernen historischen Transferforschung formuliert wurden, war die Messlatte für das künftige Fach recht hochgelegt. Die eigentlichen „Spiralbewegungen“ hinter der jeweils „national uminterpretierten Kulturrezeption“ sollten aufgedeckt und damit eine scheinbare kulturelle Differenzierung der europäischen Völker widerlegt werden.1 Und welche beiden Länder hätten sich hierfür besser geeignet als Deutschland und Frankreich, deren gegenseitige Beziehung so komplex ist. Inzwischen tritt eine gewisse Ernüchterung ein. Oft genug hat sich die kulturhistorische Transferforschung damit begnügt, die Aufnahme der miteinander konkurrierenden europäischen Deutungsmuster im jeweils anderen Land zu beschreiben. Ihr eigentlich transnationaler Anspruch hatte darunter zu leiden, dass es oft nur die jeweiligen nationalen Geistesgrößen waren, die sie in den Blick genommen hat.

Um eine kultur- und sozialhistorische Transferforschung neu zu beleben, muss die Perspektive gewechselt werden. Unterschichten und ihre wechselseitigen Einflüsse müssen stärker in den Blick genommen werden. Für den deutsch-französischen „Klassiker“ beginnt der nun vorliegende Sammelband von Mareike König diese Lücke zu schließen. Die Referentin des Deutschen Historischen Instituts in Paris vereinigt in acht Beiträgen die aktuellen Forschungsprojekte zum Thema der deutschen Unterschichten im Paris des 19. Jahrhunderts. Die Beiträge, zum Großteil Berichte von noch nicht abgeschlossenen Forschungsvorhaben aus Deutschland oder Frankreich, zentrieren sich bei aller methodischen Vielfalt sehr einmütig auf das gemeinsame Thema. Wie bei den Sammelbänden des Deutschen Historischen Instituts üblich, sind die Artikel teils in deutsch, teils in französisch abgedruckt.

Die Herausgeberin gibt in der verhältnismäßig knappen Einleitung einen sehr soliden Überblick über die Forschungen zur deutschen Minderheit in Paris. Dabei unterstreicht sie, wie bei aller kontinuierlichen mikrohistorischen Dynamik dieser Minderheit doch die außenpolitischen Entwicklungen und Spannungen immer wieder zu deutlichen Brüchen geführt haben (S. 10). Waren in den 40er und 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts knapp 100.000 Deutsche in der französischen Hauptstadt und stellten sie damit die mit Abstand größte Migrantengruppe, so schrumpfte ihre Zahl nach der Revolution von 1848 und erst recht nach dem deutsch-französischen Krieg auf jeweils wenige Tausend (S. 12). Diese Zahlen unterstreichen die außergewöhnliche Bedeutung der französischen Metropole für die Alltags- und Fremdheitserfahrungen deutscher Arbeiter. Ist diese Möglichkeit der Quantifizierung eine erste große Stärke des Beitrages, wirft sie doch auch erste wichtige Fragen auf: wer Deutscher ist und wer nicht, wird von der Autorin nicht näher erörtert, auch eine Diskrepanz zwischen „Deutscher sein“ und „deutsch sein“ wird nicht reflektiert. Trotz der in jedem Fall erheblichen Bedeutung von Paris als Erfahrungs- und Berührungsort deutscher und französischer Arbeiter weist Mareike König auf die erheblichen Forschungslücken zu dem Thema hin. Gerade zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so erfahren wir, ist die deutsche Gemeinde nahezu unerforscht geblieben (S. 25f.).

Nicht nur für ungelernte Hilfsarbeiter sondern auch für Handwerker auf Wanderschaft war Paris ein Anziehungspunkt. Ihre Selbstzeugnisse bilden die Quellenbasis für die beiden anschließenden Beiträge. Sven Steffens versucht in einer sehr direkten Lesart herauszuarbeiten, aus welchen Gründen deutsche Handwerker sich nach Paris begaben und dies, trotz einschneidender Lohnminderung, bis hin zu Lohnverzicht oder sogar der Verpflichtung Lehrgeld zu zahlen. So heterogen wie die 37 Quellentexte, auf die er sich stützt und die sich über das gesamte 19. Jahrhundert strecken, so unpräzise bleibt allerdings auch seine Fragestellung. Es geht ihm um die „Modalitäten des Erwerbs beruflicher Kenntnis“ (S. 32). Wie eine solche Vermittlung aber durch interkulturelle Problematik und soziale Differenzierung erschwert wurde, bleibt von Steffens unreflektiert. So kommt er im Wesentlichen nur zum Ergebnis, dass die Anziehungskraft der Stadt nicht nur auf den „Nimbus von Paris als einem Ort hochentwickelten Handwerks und Kunsthandwerks“ zurückzuführen ist, sondern auch auf ein „reges touristisches Interesse seitens der Gesellen“ (S. 36).

Deutlich kritischer fällt die Quellenlektüre von Sigrid Wadauer aus. Sie versucht mit einer „multiplen Korrespondenzanalyse“ ähnliche, teilweise genau die gleichen Quelltexte in ein Raster von Repräsentationsoptionen der Reise nach Frankreich zu bringen (S. 56ff.). Durch diese Repräsentationsformen des Aufenthaltes weist sie auf deren Funktion in der Selbst-Konstruktion und deren sozialer Vermittlung hin. Neben anderen Formen macht sie dabei die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg durch Repräsentation des Frankreich-Wanderns als „Hochschule des Handwerks“ aus (S. 55). So nahm der Aufenthalt der Handwerker in Frankreich eine sozial und kulturell vermittelte Funktion in der Biografie der Handwerker ein, die weit jenseits der bloßen Vermittlung fachlicher Qualifikation lag.

Die außergewöhnliche Attraktivität und Anziehungskraft der französischen Hauptstadt wird auch im zweiten Beitrag der Herausgeberin unterstrichen. Mareike König unterstreicht die Bedeutung der deutschen Dienstmädchen für die Migration nach Paris. Nicht nur die in Paris gezahlten Löhne, die fast doppelt so hoch waren wie in Deutschland, sondern auch das „Image der Mode, der Liebe, der Freiheit und der Kultur“ (S. 74) zog junge Frauen aus der Enge der deutschen Provinz in die französische Hauptstadt. Dieser Zustrom war so stark, dass um die Jahrhundertwende 7600 deutsche Dienstmädchen in Paris angestellt waren. Das war der mit Abstand größte Teil (43%) des ausländischen Dienstpersonals (S. 72). Doch es ist nicht die „Normalkarriere“, die Mareike König interessiert und die aus Quellenmangel auch kaum nachzuzeichnen ist, es sind die zahlreichen Gefahren des Scheiterns und der biografischen Krise, die ein solcher Aufenthalt mit sich brachte. Krankheit, Schwangerschaft, persönliche Isolierung und Prostitution bedeuteten für viele das Ende ihrer Erfahrung im Ausland. Am Ende des Jahrhunderts erreichte dieses Elend der deutschen Mädchen in Frankreich ein Ausmaß, dass deutsche, kirchliche Organisationen zum Eingreifen veranlasste. Sie boten eine Vielzahl von Unterstützungsmöglichkeiten an. Der außerordentlich anschauliche Beitrag von Mareike König beschreitet Neuland und setzt einen Aspekt der Migrationsgeschichte von Deutschland nach Frankreich ins Licht, der zu Unrecht von der Forschung vergessen wurde.

Um einen methodischen Aspekt erweitert Michael G. Esch die Migrationsforschung zu den Ausländern in Paris. Mit einem Konzept der Netzwerkanalyse will er den Begriff der durch die nationale Zugehörigkeit determinierten Community kritisch hinterfragen. Vor diesem methodischen Hintergrund ist der Beitrag, der als einziger nicht die Deutschen in Paris im engeren Sinne im Blick hat, sondern die osteuropäische Einwanderung verfolgt, sehr befruchtend für den Band. Durch eine umfassende Analyse der Wohnorte der Ausländer in Paris kann er feststellen, dass nicht nur bei Immigrationsgruppen wie den Polen, von denen man annahm, dass sie sich weit weniger in Communities sammelten, sehr wohl auch soziale Netzwerkbildungen nachzuweisen sind (S. 98f.). Andererseits sieht der Autor auch in den altbekannten Communities, wie der jüdischen Gemeinschaft im Marais, wesentlich weniger abgeschlossene Zentren. Vielmehr handelte es sich auch hier um ein Netz, dass in seinem Inneren durch eine starke Durchmischung des Wohnviertels durch nichtjüdische und nichtimmigrierte Bewohner gekennzeichnet ist und an der Peripherie durch eine wesentlich weitreichendere Ausstrahlung als dies klassische Untersuchungen vermuten lassen.2 Doch trotz aller alternativen Konzeptionen findet der Autor selber wieder zu den Nationalitätskriterien zurück und beendet sein Unterfangen, soziale Zugehörigkeiten in ihrer Komplexität zu veranschaulichen leider nur unvollständig.

Pierre-Jacques Derainne unternimmt es, die sozialen Konflikte vorzuführen, die die deutsche Immigration mit der aufnehmenden Gesellschaft, dem Frankreich der Julimonarchie, ausgelöst hat. In einem Parforceritt zeigt er auf, wie häufig die deutschen Arbeiter im Mittelpunkt der Kritik ihrer französischen Kollegen standen, die den Immigranten vorwarfen, ihre Arbeit zu billig zu verkaufen und so die Preise zu verderben. Dies führte zu ersten nationalpopulistischen Strömungen innerhalb der Berufsgruppen, die ihren Höhepunkt mit zahlreichen Dekreten und Verboten von Migrationsarbeit während der Revolution von 1848 hatte. Solche Strömungen führten nach Derainne dazu, dass sich die deutschen Arbeiter häufig eben nicht über ein sozioprofessionelles Netzwerk identifizierten. Statt Kontakt zu ihren Berufskollegen zu suchen bildeten sie ihr soziales Netz eher über nachbarschaftliche Beziehungen (der Autor nennt Wein- und Lebensmittelhändler oder Frisöre) S. 134.

Wie interessant und differenziert sich das Geflecht von sozialer und kultureller Abgrenzung und Öffnung in Paris entwickelte zeigen auch die beiden letzten Beiträge. Gaël Cheptou zeichnet den langen Weg der deutschen Arbeiter in Paris bis zu ihrer eigenen gewerkschaftlichen Organisation nach. Seit den 1880er-Jahren war sie im Gespräch. Doch zu einer eigenen deutschen Organisation kam es erst in den Jahren zwischen 1900 und dem Ersten Weltkrieg. Cheptou unterstreicht, dass sich diese Gemeinschaft nicht durch eine Abgrenzung von den französischen Arbeitern auszeichnete, sondern im Gegenteil ihren Zweck in der Solidarisierung der unterschiedlichen sozialistischen Strömungen in Deutschland und Frankreich sah. Basierend auf einer beeindruckenden Anzahl von Quellen kann der Autor aber auch belegen, mit welchem Sendungsbewusstsein die deutsche Gewerkschaft in Paris ihren französischen Genossen die deutsche Art der Arbeiterbewegung vermitteln wollte.

Nahtlos schließt sich hieran der Beitrag von Marie-Louise Goergen an, die in ihrer Betrachtung von Paris - als Begegnungsort von deutschen und französischen Sozialisten - herausarbeiten kann, welche immense Bedeutung die französische Hauptstadt auch für die deutsche sozialistische Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg gehabt hat. Dabei arbeitet sie zunächst anhand von anschaulichem Quellenmaterial das von tiefen, kulturellen Stereotypen geprägte Bild heraus, dass sich die französischen Sozialisten von ihren deutschen Genossen machten und dass sich einer Zusammenarbeit häufig entgegenstellte (S. 170). Trotz dieser Gegensätze beschreibt Goergen aber auch deutlich die Rolle, die Paris und Frankreich als Rückzugsgebiet für die deutschen Linken in der Zeit der Sozialistengesetze gehabt haben.

Alle Beiträge zeigen Wege, die Forschungslücken zu den deutschen Unterschichten im Paris des 19. Jahrhunderts zu schließen. Der deutsche Immigrant, der häufig als billige Arbeitskraft in Frankreich den französischen Arbeitern Konkurrenz machte, passte lange Zeit nicht in das Bild intellektuellen Austausches zwischen den beiden konkurrierenden Kulturnationen des 19. Jahrhunderts. Doch ohne ihn ist die Entwicklung vieler Transferströme über den Rhein nur unvollständig zu verstehen. Es ist zu wünschen, dass die zum Großteil noch nicht beendeten Projekte, auf denen die Beiträge beruhen, diese Forschungslücke bald zu schließen helfen.

Anmerkungen
1 Espagne, Michel; Werner, Michael, Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze, in: Dies. (Hgg.), Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (18e et 19e siècle), Paris 1988, S. 11-34, S. 14, 34.
2 Green, Nancy L., The Pletzl of Paris. Jewhish Immigrant Workers in the Belle Epoque, New York 1986.