M. Schäfer: Mittelklassen Edinburgh und Leipzig

Titel
Bürgertum in der Krise. Städtische Mittelklassen in Edinburgh und Leipzig 1890 bis 1930


Autor(en)
Schäfer, Michael
Reihe
Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 23
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Schmidt, Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin

1921 fragte die DVP auf einem Flugblatt „Wer gehört zum Bürgertum“? und lieferte dazu die Antwort: Alle vom Unternehmer bis zum Handarbeiter seien hinzuzurechnen, „alle diejenigen, die unter sozialistischem Terror [...] sowie dem alles zerstörenden Klassenhass leiden“. Der Leipziger Bürgerausschuss beteuerte 1919 zwar, dass auch der Arbeiter Bürger sein könne und im Ausschuss „die Interessen weitester Berufskreise und Stände“ zusammengeschlossen seien; gleichzeitig bemühte man jedoch bei der Umschreibung und Beschreibung des Bürgertumsbegriffs einen Sittlichkeits- und Wertekanon, der das Bürgertum in den „gehobenen Sphären der gesellschaftlichen Statushierarchie“ verortete (S. 233). Exklusion und Binnenhomogenisierung als zentrale Merkmale und beinahe hundertjährige Kontinuitätslinie in der Selbstwahrnehmung und Beschreibung des Bürgertums zeichneten sich hier ab.

So eindeutig war jedoch die Entwicklung nicht und so einfach macht es sich auch Michael Schäfer in seinem Buch „Bürgertum in der Krise“ nicht. Ihm geht es vielmehr darum, mit Hilfe des Vergleichs, auf mikrohistorischer Ebene und unter Einbeziehung der Analyseebenen Politik, Wirtschaft und Kultur zu erörtern, „was mit dem Bürgertum nach dem plötzlichen Zusammenbruch der bürgerlichen Welt“ (S. 11) nach 1918 geschah. Schäfers Studie, die aus einer Habilitationsschrift an der Universität Bielefeld hervorgegangen ist, ordnet sich dabei in die Bürgertumsforschung ein, bezieht aber darüber hinaus mit der Verwendung des Begriffs der Zivilgesellschaft, bzw. civil society, neue Entwicklungslinien ein. Jedoch wird dieser Begriff nicht in seiner Vielfalt, Differenziertheit und auch Vagheit kritisch hinterfragt und eingesetzt, sondern auf pragmatische Weise als eine Gesellschaft definiert, die sich durch „staatsfreie Selbsthilfe und Selbstorganisation, freiwilliges soziales und kulturelles Engagement, Subsidiarität und Eigenverantwortung“ auszeichnet (S. 15). Dies hat den Vorteil, dass Schäfer für die kommunale Ebene eine wichtige Analyseebene für die Gestaltungsmacht des Bürgertums in der Kommune einbeziehen kann. 1

Neben den methodischen Überlegungen findet sich bei Schäfer in der Einleitung eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Problem des Vergleichs; darin verweist er unter anderem darauf, dass die unterschiedliche Quellenüberlieferung ein gleichgewichtiges Vorgehen unmöglich macht und umschifft die deutsch-englischen begrifflichen Klippen von „Bürgertum“ – „citizens“ – „middle class“ durch De-Agreggierung des Bürgertums-Begriffs in einzelne Berufsklassen. Außerdem werden in der Einleitung die beiden Städte Edinburgh und Leipzig sowie ihre Bewohner knapp charakterisiert.

Um seine zentrale Frage beantworten zu können, blickt Schäfer im ersten Hauptteil, der ein Drittel des Textes umfasst, auf die Entwicklung in den beiden Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Es ist die Zeit „vor der Krise“, in der auf der kommunalen politischen Ebene die bürgerlichen Gruppen in beiden Städten die Fäden noch fest in der Hand hielten – in Leipzig, indem die Arbeiterschaft durch das Kommunalwahlrecht zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber vor allzu viel Einfluss ferngehalten wurde; in Edinburgh, indem in den einzelnen kommunalen Wahlbezirken fest verankerte, angesehene bürgerliche Lokalmatadoren selbst in den Arbeitervierteln überzeugend behaupten konnten, für das Wohl aller einzutreten. In Leipzig sollte durch einen fadenscheinigen Gerechtigkeitsdiskurs Legitimität wiederhergestellt werden: In den städtischen Gremien müssten alle Einwohnergruppen Leipzigs vertreten sein und dürften nicht durch die Mehrheit der Einwohner, die Arbeiter, majorisiert werden. Dagegen wurde in Edinburgh über die Gerechtigkeit des kommunalen Wahlrechts, das an Steuerzahlungen geknüpft war und auch Frauen offen stand, kaum diskutiert.

Waren die Unterschiede im politischen Bereich deutlich, gab es auf der zivilgesellschaftlichen Ebene in beiden Städten durchaus Ähnlichkeiten. Das ehrenamtliche Engagement war allen Professionalisierungstendenzen zum Trotz in den städtischen Gremien nach wie vor hoch, das Bürgertum in Edinburgh wie in Leipzig nahm sich zahlreicher Aufgaben im karitativen Bereich an, in beiden Städten verknüpft mit erzieherischem Impetus. Dagegen kontrastierten im Bereich der institutionalisierten Kultur wieder beide Städte. Dem Leipziger Bürgertum gelang es, die von ihm für die ‚Allgemeinheit’ initiierten Museen und Theater allmählich in städtische Hand zu überführen. Vor 1914 musste die Stadt vier Fünftel der Kosten des Gewandhausorchesters tragen. Das Edinburgher Bürgertum dagegen konnte nicht mit Subventionen der Stadt rechnen, um seinen kulturellen Vorlieben zu frönen. Das schottische Nationalmuseum etwa war auf private Mäzene angewiesen.

Im Sozialen verdichtete sich in beiden Städten ein Großbürgertum, das sich durch Reisen, Anstellung von Dienstpersonal, privilegierte Ausbildungsmöglichkeiten, politischen Einfluss, distinguierte Verhaltenscodes und Lebensstile von anderen Mittelklassen klar abhob und abgrenzte. Vor allem der Zugang zur (Schul-)Bildung wurde in beiden Städten über gestaffelte Schulgeldsätze geregelt und „auf die Bedürfnisse und die Geldbeutel der gehobenen bürgerlichen Schichten zugeschnitten“ (S. 150). Dieser Kern des Bürgertums war dabei in Edinburgh sowohl von Wirtschafts- als auch Bildungsbürgern besetzt, während sich in Leipzig die großbürgerliche Oberschicht fast ausschließlich aus Kaufmanns- und Unternehmerfamilien konstituierte.

Im zweiten Teil untersucht Schäfer den Weg dieser recht fest gefügten Sozialgruppen „in der Krise“. Dieser über zweihundert Seiten umfassende Hauptteil behandelt in jeweils eigenen Kapiteln die Bedingungen des Bürgertums während des Krieges, die Veränderungen in der Lokalpolitik, die bürgerlichen Gestaltungsräume sowie die Situation des Bürgertums in der Inflations- und Deflationszeit. Dieses letzte Kapitel schließt nicht – wie es der Untertitel des Buches nahe legen würde – die Weltwirtschaftskrise 1929 ein, sondern beschäftigt sich lediglich mit den Krisenjahren bis 1924. Überhaupt geht das Buch kaum in seiner zeitlichen Dimension über die Mitte der zwanziger Jahr hinaus. Von daher erklärt sich auch, dass der Aufstieg des Nationalsozialismus und das Verhältnis des Bürgertums zur nationalsozialistischen Bewegung nicht vorkommen. Hier hätte eine präzisere Titelangabe vor nicht einlösbaren Erwartungen seitens der Leser schützen können.

Dennoch schmälert diese Einschränkung nicht die Ergebnisse dieses empirisch gesättigten Hauptteils der Studie. Während des Krieges und in der Inflationszeit ging in weiten Teilen der Mittelklassen die Fähigkeit verloren, einen bürgerlichen Lebensstil zu pflegen. Nicht Kultur und geistige Nahrung, sondern die alltägliche Nahrungsmittelbeschaffung standen im Mittelpunkt. Der Anteil der Haushalte, die sich Dienstpersonal leisten konnten, ging in beiden Städten deutlich zurück. Wie unterschiedlich insgesamt gesehen die Verhältnisse in beiden Städten dennoch waren, lässt sich ebenfalls an diesem Indikator zeigen: In Edinburgh stieg nämlich ab 1922 wieder die Zahl der Dienstboten, während sie in Leipzig kontinuierlich rückläufig blieb. Ein Prozess der Entbürgerlichung setzte sich in der privaten Lebensführung demnach im Leipziger Bürgertum wesentlich stärker durch als in Schottland. Angesichts der völlig unterschiedlichen wirtschaftlichen Ausgangslagen war eine derartige Entwicklung wohl auch kaum anders zu erwarten.

Durch die Inflation wurde in Leipzig auch die karitative Ader des Bürgertums zunächst abgeklemmt, dann umgelenkt. Hatte das Bürgertum einerseits einen Teil seines Vermögens verloren, war es andererseits in Leipzig angesichts der Revolution, des Aufstiegs der Sozialdemokratie und der Kommunisten, gar nicht mehr bereit, Geld an die Unterschichten zu transferieren. Das Geld wurde lieber zur Unterstützung „’würdiger notleidender Mittelstandsloser’“ ausgegeben: „Stadtbürgerliche Wohltätigkeit war mehr denn je zu einem Akt bürgerlicher Standessolidarität, zur Selbsthilfe des Bürgertums geworden“ (S. 305). Dagegen blieb in Edinburgh eine Sinnkrise stadtbürgerlicher Philanthropie aus.

Diese gegenläufigen Entwicklungen in Schottland und Sachsen hingen natürlich damit zusammen, dass in Deutschland eine Revolution stattgefunden hatte und in Großbritannien nicht. Entsprechend unterschiedlich sahen die Entwicklungen auf der politischen Ebene aus. In Edinburgh eroberte zwar die Arbeiterbewegung in den 1920er Jahren die ersten Mandate im Town Council, die Liberalen beklagen das Vordringen der Parteipolitik in die Kommune und während des Bergarbeiterstreiks 1926 konstruieren die Stadtoberen sogar einen Gegensatz zwischen den Allgemeininteressen der „nation“ oder „community“ und den Partikularinteressen der Arbeiterbewegung – aber dies waren Scharmützel am Rande einer relativ ruhigen Entwicklung. Die Krisenerfahrungen des Leipziger Bürgertums dagegen stellten sich wesentlich handfester dar. In der Stadtverordnetenversammlung kam es zu einem Elitenwechsel. Das ehemals einflussreiche Leipziger Wirtschaftsbürgertum wurde im Stadtparlament in eine Minderheitenrolle gedrängt, die früher unter völliger bürgerlicher Oberhoheit stehende Armenpflege ging zunehmend an die Arbeiterschaft und ihre Organisationen über, das zivilgesellschaftliche Engagement diente mehr denn je der Exklusion statt der Inklusion breiter Bevölkerungskreise, der Zugang zu höheren Schulen wurde für klein- und unterbürgerliche Gruppen durchlässiger, Exklusivität drohte verloren zu gehen.

Von einer generellen Tendenz zur Auflösung des Bürgertums will Schäfer in seinem mit einem Fragezeichen versehenen Schlussteil „Bürgertum in der Krise?“ dennoch nicht sprechen. Am ehesten traf dies noch auf die unteren Mitteklassen zu, die Standards bürgerlichen Lebensstils nicht mehr in gewohnter Weise halten konnten. Das Großbürgertum von Bildung und Besitz zeichnete sich dagegen durch eine hohe Kontinuität aus und blieb intakt. Verloren ging ihm jedoch auf kommunaler Ebene ein gehöriges Stück an Macht und Einflussvermögen. Damit verbunden waren Vorbehalte und Angriffe gegen den Parlamentarismus und die Demokratie, so dass Schäfer hier ein „Defizit an politischer Bürgerlichkeit“ (S. 409) konstatiert. Der zivilgesellschaftliche Charakter des Leipziger Bürgertums war daher keineswegs auf Partizipation ausgerichtet, sondern diente – forciert durch die Krise – mehr und mehr der Exklusion nichtbürgerlicher Gruppen. In Edinburgh dagegen verlief die „’Entbürgerlichung’ des Handlungsfeldes der Stadt“ zwischen 1900 und den 1920er Jahren wesentlich „weniger radikal und weniger konfliktreich“ (S. 414).

Schäfer hat eine empirisch fundierte, abwägend vergleichende Studie vorgelegt, die – bis auf die bereits angesprochenen Punkte – voll überzeugen kann. Weil Schäfer seine Studie über die Zäsur von Weltkrieg und Revolution zieht, werden die unterschiedlichen Entwicklungen des Stadtbürgertums von Leipzig und Edinburgh überdeutlich. Zu fragen bleibt, ob er, allein bedingt schon durch den Begriff der „Mittelklassen“ im Untertitel seines Buches, noch stärker auf die randbürgerlichen Gruppen des Bürgertums hätte blicken sollen. Gerade die festgestellten Kontinuitätslinien im Großbürgertum deuten stark auf eine Elitenkonstanz hin und lassen für sich alleine noch keine Aussagen über die Krise ‚des Bürgertums’ zu.

Anmerkung:
1 Da die Habil-Schrift bereits 2000 abgeschlossen war, konnte die neueste Literatur wohl nicht eingearbeitet werden. Allerdings ist auch die inzwischen ausufernde sozialwissenschaftliche, englischsprachige Literatur zur „civil society“ von vor 2000 kaum erfasst. Siehe etwa Bermeo, Nancy; Nord, Philip (Hgg.), Civil Society Before Democracy. Lessons from Nineteenth-Century Europe, Lanham 2000; Berman, Sheri, Civil Society and the Collapse of the Weimar Republic, in: World Politics 49 (1997), S. 401-429. Zur neuesten Entwicklung im deutschsprachigen Raum jetzt Bauerkämper, Arnd (Hg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt am Main 2003.

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