G. Herbstritt u.a. (Hgg.): Das Gesicht dem Westen zu ...

Titel
Das Gesicht dem Westen zu .... DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland


Herausgeber
Herbstritt, Georg; Müller-Enbergs, Helmut
Erschienen
Bremen 2003: Edition Temmen
Anzahl Seiten
458 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Die nach der Vereinigung Deutschlands freigegebenen Akten der früheren DDR haben zu zahlreichen Forschungen und Publikationen Anlass geboten, die tiefe Einblicke in Struktur und Verhalten des SED-Regimes geben. Dazu gehören wesentlich die Erkenntnisse, die auf Grund der riesigen Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sowohl über den Herrschaftsapparat als auch die Unterdrückungspraxis gewonnen wurden. Das Bemühen, die Penetration und Bespitzelung von Staat und Gesellschaft durch ein Riesenheer "informeller Mitarbeiter" (IM) aufzudecken, erstreckte sich freilich weithin nur auf die DDR. Die - mit großer Energie vorangetriebene - Unterwanderung, Ausspähung und Beeinflussung des "Operationsgebietes West" wurde nur in vergleichsweise wenigen Werken behandelt.1 Einen Teil der Lücken schließt das vorliegende, aus einer Fachtagung der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen im November 2001 hervorgegangene Sammelwerk mit Beiträgen sowohl von Wissenschaftlern als auch Experten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundesnachrichtendienstes, des Militärischen Abschirmdienstes, des Bundeskriminalamtes, der Bundesanwaltschaft und der Hauptverwaltung [West-]Aufklärung (HV A) des MfS. In den verschiedenartigen Sichten, die sich aus dieser Zusammensetzung der Autoren (wie auch der mitdiskutierenden Zuhörer) ergeben, liegt der besondere Reiz des Buches.

Den allgemeinen politischen Hintergrund umreißen einleitende Ausführungen von Manfred Görtemaker über die Rolle Deutschlands im Ost-West-Konflikt. Danach äußert sich Helmut Müller-Enbergs über die Informationen, die mittlerweile über Umfang und Art der ostdeutschen Agententätigkeit in der Bundesrepublik während des Kalten Krieges vorliegen. Dem stellt Dirk Dörrenberg gegenüber, was der Verfassungsschutz damals über die Westarbeit des MfS in Erfahrung brachte. Den wissenschaftlichen und polizeilichen Erkenntnisgewinn, den - nach Vernichtung der Akten der HV A - die SIRA-Datenbanken und "Rosenholz" I und II erlauben, beleuchten Stephan Konopatzky und Rainer O.M. Engberding. Der Beitrag von Roger Engelmann über die Westarbeit der Stasi in den fünfziger Jahren lässt die offene Brutalität des Vorgehens in dieser Zeit deutlich werden. Philipp-Christian Wachs zeigt in seiner Darstellung der Kampagne gegen Bundesminister Oberländer, wie die SED-Führung nicht nur ein zur Polemik einladendes Ziel zur Diskreditierung der Bundesrepublik insgesamt propagandistisch nutzte, sondern auch durch Fälschungen und Inszenierungen des MfS Anschuldigungen in den westdeutschen Medien zu platzieren und glaubhaft zu machen vermochte, die mit den Realitäten nichts mehr zu tun hatten. Damit mobilisierte sie politische Kräfte, nicht zuletzt auch die sozialdemokratische Opposition und einflussreiche Kreise in der CDU/CSU, die Adenauer dazu veranlassten, den ihm völlig ergebenen und als Integrator der Heimatvertriebenen wichtigen Minister fallen zu lassen, der sich, durch ein Münchener Gerichtsurteil mit dem Vorwurf des Massenmords belastet, fortan um juristische Rehabilitation bemühte, die er jedoch nicht mehr erlebte. Thomas Auerbach fasst Darlegungen seines Buches über die Sabotage-, Mord- und Terrorkommandos zusammen, die das MfS im Kriegsfall auf die Bundesrepublik loslassen wollte, um deren Widerstandsfähigkeit von innen heraus zu zerstören.2

Joachim Zöller und Bodo Wegmann befassen sich mit der militärischen Spionage. Diese war außerordentlich erfolgreich: Es gab keine wichtigen Sachverhalte auf der Bonner Hardthöhe und bei der NATO, über welche die ostdeutsche Seite - und mit ihr die Sowjetmacht - nicht orientiert gewesen wären. Die daraus gewonnene Erkenntnis, dass die atlantische Allianz nur auf Defensive eingestellt war, hätte den Anspruch der HV A, "Kundschafter des Friedens" auszusenden, in gewisser Weise rechtfertigen können - wenn nämlich das Eindringen in die westlichen Militärgeheimnisse die Übermittlung dieser Einsicht an Führung und Öffentlichkeit der DDR und des Warschauer Paktes nach sich gezogen hätte, so dass dadurch eine Basis für Entspannung und Verständigung entstanden wäre. Genau das aber lag nicht im Sinne der HV A, der Oberbehörde MfS und ihrer Auftraggeber. Deshalb pflegten die Berichterstatter wider besseres Wissen die These von der "aggressiven NATO" und formulierten entsprechende Schlüsse. Im Laufe der Zeit blieb die ständige Falschdarstellung nicht ohne Auswirkung. Als die UdSSR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ihre offensiv ausgerichtete Militärdoktrin auf Defensive umstellte, sahen die Leiter der Sicherheitsorgane die DDR im Kriegsfalle dem feindlichen Vordringen von vornherein schutzlos preisgegeben - und das war, wie Heinz Busch aufgrund der Erinnerung an ihre damalige Stimmung vermutet, neben Gorbatschows offenem Abrücken von der Breshnew-Doktrin (die bis dahin dem SED-Regime eine innenpolitische Bestandsgarantie gegeben hatte) ein entscheidender Grund dafür, dass die Sicherheitskräfte der DDR 1989/90 passiv blieben.

Nach den Feststellungen von Kristie Macrakis, Reinhard Buthmann und Jörg Roesler war auch die Wirtschaftsspionage sehr erfolgreich. Die Aufträge, die geradezu den Charakter von Beschaffungsplänen hatten, wurden wesentlich erfüllt. Das ersparte, wie das MfS immer wieder intern betonte, der DDR Hunderte Millionen Mark für Forschung und Entwicklung. Trotzdem waren die - keineswegs unerheblichen - Kosten weithin schlecht angelegt. Das war vor allem anderen deswegen der Fall, weil - aus Gründen, die bisher noch ziemlich im Dunkeln liegen - der SED-Staat es in entscheidenden Bereichen nicht schaffte, sich die Blaupausen zu Eigen zu machen und illegal beschaffte Technik nachzubauen. Die behaupteten Einsparungen waren daher weithin Milchmädchenrechnungen; die zentrale Frage, inwieweit das erlangte R&D-Äquivalent sinnvoll genutzt wurde, blieb ungestellt. Besonders auffällig ist das Scheitern bei der Mikroelektronik, die Honecker in den siebziger Jahren zum Entwicklungsschwerpunkt erklärt hatte und die trotz aller Spionageerfolge und Eigeninvestitionen immer weit hinter den Errungenschaften im Westen hinterherhinkte. Anders scheint es um die Verwendung der illegal erworbenen militärtechnischen Kenntnisse gestanden haben, die an die UdSSR weitergereicht wurden.

Der ostdeutsche Staatssicherheitsdienst blieb auch nach Lockerungen des Zugriffs in der ersten und nochmals in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre von sowjetischen Kadern penetriert. Die auch sonst sehr enge Verflechtung und Zusammenarbeit kam wesentlich darin zum Ausdruck, dass das MfS einen sehr großen Teil der beschafften politischen, militärischen und wirtschaftlich-technischen Informationen dem KGB zur Verfügung stellte und auch sich von diesem Aufgaben zuweisen ließ. Diese betrafen nicht die Aufklärung von Tatbeständen, Planungen und die Beschaffung von Blaupausen in der Bundesrepublik und anderen westlichen Ländern, sondern auch die Durchführung "aktiver Maßnahmen", das heißt von Kampagnen zur Beeinflussung oder Diskreditierung von Personen, Gruppen und Institutionen im Westen, Aktivitäten zur Desinformation westlicher Akteure und andere Eingriffe (wie die Entführung oder Beseitigung ausgewählter Gegner). Die Relation war asymmetrisch: Die UdSSR nahm von der DDR ungleich mehr, als sie ihrerseits dieser gab. Besonders deutlich wird das an dem großen zahlenmäßigen Missverhältnis der jeweils dem anderen übergebenen Erkenntnisse. Es ist zu vermuten, dass die Sowjetunion vom ostdeutschen Verbündeten alles erhielt, was sie wünschte (was etwa auch für die Überstellung von Agenten an den KGB galt).

Ulrich Wössner stellt dar, in welch großem Umfang sich die Stasi Kenntnis über Struktur, Aktionen und Agenten des Bundesnachrichtendienstes verschaffen konnte. Hubertus Knabe untersucht Art und Ausmaß der Einflussnahme des MfS auf westdeutsche Parteien, Organisationen und Gruppen am Beispiel der Grünen. Jochen Staadt, der in einem früheren Buch die subversiven Einflussnahmen der SED-Führung auf die Bundesrepublik der sechziger Jahre behandelt hat 3, beleuchtet, wie sich dieses Bemühen in den Jahren der Bonner sozial-liberalen Koalition fortsetzte. Karl-Rudolf Korte, der zuvor auf der Basis zentralen Aktenmaterials ein Standardwerk über die Ostpolitik von Bundeskanzler Kohl geschrieben und dabei ein spezifisches Muster der Durchsetzung politischer Ziele konstatiert hatte 4, kommt zu dem Schluss, dass dieses "System Kohl" die Möglichkeiten einer Beeinflussung amtlicher westdeutscher Entscheidungen von vornherein begrenzte. Das MfS und andere DDR-Akteure konnten zwar im Vorfeld des politischen Zentrums viele Kontakte knüpfen und diese zur Einflussnahme nutzen, aber nicht bis zu diesem unmittelbar vordringen. Das erklärt zumindest teilweise, wieso die Ost-Berliner Machthaber während des Umbruchs von 1989/90 ohne wesentlichen Einfluss in Bonn waren.

Die Beiträge von Georg Herbstritt und Joachim Lampe befassen sich mit der juristischen Beurteilung und "strafrechtlichen Aufarbeitung" der Westarbeit des MfS. Nicht nur hatten dessen DDR-Mitarbeiter, soweit ihnen kein Verbrechen in der Bundesrepublik vorzuwerfen war, aufgrund des Einigungsvertrags von vornherein keine Anklage zu gewärtigen. Ebenso ließ man gegenüber Westdeutschen, die sich nach den für sie seit jeher geltenden Gesetzen des Landesverrats schuldig gemacht hatten, im Allgemeinen ganz erstaunliche Milde walten: Sie wurden weithin entweder auf Grund von Verfahrensregeln (wie etwa Verjährung, wenn ihre Enttarnung erst zu einem späten Zeitpunkt erfolgte) gar nicht vor Gericht gestellt, oder das Verfahren wurde niedergeschlagen. Nur in vergleichsweise wenigen Fällen wurden Strafen verhängt, die wegen ausgiebiger Zubilligung mildernder Umstände meist gering ausfielen oder gar nur auf Bewährung ausgesprochen wurden. Von einer "Siegerjustiz", wie sie in den Äußerungen von Altkadern der DDR gerne beschworen wird, kann keine Rede sein.

Insgesamt bietet der von Georg Herbstritt und Helmut Müller-Enbergs herausgegebene Sammelband einen hervorragenden, aus verschiedenen Perspektiven gewonnenen Einblick in viele wichtige Aspekte des geheimdienstlichen Wirkens des MfS in der Bundesrepublik und in dagegen getroffene Abwehrmaßnahmen. Die Beiträge sind auch für ein breites Leserpublikum verständlich geschrieben. Ein Abkürzungsverzeichnis, ein Namensregister und biografische Notizen zu den Autoren schließen das Buch ab.

Anmerkungen
1 Neben verstreuten Aufsätzen siehe vor allem Holzweißig, Gunter, Klassenfeinde und "Entspannungsfreunde". West-Medien im Fadenkreuz von SED und Stasi, Berlin 1995; Knabe, Hubertus, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999; Ders., West-Arbeit des MfS. Das Zusammenspiel von "Aufklärung" und "Abwehr", Berlin 1999; Ders., Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien, Berlin 2001; Neubert, Ehrhart, Ein politischer Zweikampf in Deutschland. Die CDU im Visier der Stasi, Freiburg im Breisgau 2002; Baron, Udo, Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei "Die Grünen", Münster 2003.
2 Auerbach, Thomas, Einsatzkommandos an der unsichtbaren Front. Terror- und Sabotagevorbereitungen des MfS gegen die Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1999.
3 Staadt, Jochen, Die geheime Westpolitik der SED 1960-1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation, Berlin 1993.
4 Korte, Karl-Rudolf, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982-1989, Stuttgart 1998.

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