Titel
Rival Enlightenments. Civil and Metaphysical Philosophy in Early Modern Germany


Autor(en)
Hunter, Ian
Reihe
Ideas in Context 60
Erschienen
Anzahl Seiten
425 S.
Preis
$70.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Zurbuchen, Département de Philosophie, Université de Fribourg

Dieses Buch stellt für alle, die sich mit der Deutschen Aufklärung beschäftigen, eine Herausforderung dar. Denn Ian Hunter vertritt darin die starke These, dass sich im 18. Jahrhundert in Deutschland zwei rivalisierende Arten von Philosophie gegenüberstanden, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Die Erste, die von Leibniz, Wolff und Kant repräsentiert wird, bezeichnet er als "metaphysisch"; die Zweite, als deren Protagonisten Pufendorf und Thomasius gelten, wird mit dem Etikett "bürgerlich" versehen. Es ist allerdings fraglich, ob damit das Englische "civil" richtig übersetzt ist. Auf jeden Fall ist kein Bezug auf den bürgerlichen Stand oder die bürgerliche Gesellschaft im Gegensatz zum Staat intendiert. Unter dem Begriff "civil philosophy" fasst Hunter jene Wissenschaften zusammen, die der "Schulmetaphysik" gegenüberstanden und bei der Säkularisierung des konfessionellen Staates eine zentrale Rolle spielten. Im Mittelpunkt steht das moderne (säkulare) Naturrecht; dazu gehören aber auch das (positive) Staatsrecht, die Lehre von der Staatsräson oder die Souveränitätstheorie (S. 7, 316). Bei den "rival enlightenments" handelt es sich um zwei diametral unterschiedene Begründungen von Staat und Politik, die Hunter im Ausgang vom Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Theologie und der Gefahr des religiösen Bürgerkriegs deutet. Während die "metaphysische" Philosophie an der Einheit von Philosophie und Theologie, von Religion und Politik festhält, zielt die "bürgerliche" Philosophie auf deren radikale Trennung.

Dem Leser wird rasch deutlich, dass Hunter auf eine Kritik an der metaphysischen Philosophie zielt, die entweder die „Entsakralisierung“ von Recht und Politik verhinderte (Leibniz) oder durch die Unterordnung von Recht und Politik unter die Moral eine unpolitische Resakralisierung des Staates postulierte (Kant). Im Gegensatz zur verbreiteten Auffassung, wonach Kants Philosophie einen radikalen Bruch mit der traditionellen Metaphysik bedeutet, interpretiert Hunter diese als Fortsetzung der protestantischen Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts. Diese Kontinuität gilt allerdings nicht für die theoretische, sondern lediglich für die praktische Philosophie. Am Anfang von Hunters Kant-Interpretation steht eine faszinierende Analyse der Grundlegung der Metaphysik der Sitten (S. 293-311), in deren dreistufiger Argumentationsstruktur er jenes Grundmuster einer metaphysischen Anthropologie wieder findet, das er in den vorangehenden Kapiteln am Beispiel von Leibniz bereits ausführlich darlegte (S. 102-115). Diese beschreibt Hunter als selbst-transformierende kontemplative Praxis, in welcher der Aufstieg zu höherer, d.h. vernünftiger Erkenntnis a priori mit einem Prozess der moralischen Selbstreinigung verbunden ist. Daran schließt sich eine geraffte Analyse von Kants Rechtslehre an, die dem Nachweis dient, dass Kant das Recht ganz im Gegensatz zu Pufendorf und Thomasius moralphilosophisch begründet habe (S. 316f.). Dabei habe er zwar den Rechtsstaat von der in der Grundlegung dargestellten moralischen Regeneration des Menschen getrennt, dabei jedoch nicht auf die Idee einer ethischen Gemeinschaft verzichtet, in der das moralische Gesetz regiert (S. 317-337). Diese Idee verfolgt Hunter anschließend in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (S. 337-363). Erst diese erlaubt es ihm, nicht nur von einer Remoralisierung, sondern von einer Resakralisierung des Staates zu sprechen (S. 355).

Hunters Kritik an der "metaphysischen" Philosophie lebt vom Gegensatz zur "bürgerlichen" Philosophie eines Pufendorf oder Thomasius, die Staat und Politik von ihrer moralphilosophischen Begründung befreit. Dadurch, dass der Zweck des Staates hier auf die Sicherung des Friedens beschränkt ist, werde zugleich eine „liberale“ Sphäre von Rechten und Freiheiten geschaffen. Der politische und der moralische bzw. religiöse Bereich werden also voneinander getrennt, die Politik wird „entkonfessionalisiert“ bzw. „entsakralisiert“. Die „liberalen“ Züge sind im Ansatz schon bei Pufendorf greifbar, werden dann aber erst in der Theorie der Toleranz und im Staatskirchenrecht des Thomasius ganz deutlich. So fordert Thomasius weitgehende Religionsfreiheit für das Individuum (wobei hier auch Atheisten eingeschlossen sind), verteidigt die Freiheit des Denkens und postuliert die Kontrolle der Kirche durch den Staat (S. 251-265). Dass die Religionsfreiheit nicht in einem dem Staat vorausliegenden moralischen Recht des Individuums begründet ist, sondern sich der Beschränkung des Staatszwecks auf die Sicherung des gesellschaftlichen Friedens verdankt und deshalb der Verfügungsgewalt des absolut gesetzten Souveräns untersteht, bezeichnet nach Hunter keine Schwäche, sondern macht gerade die Stärke der "bürgerlichen" Philosophie aus. Denn damit werde dem Bestreben der metaphysischen Philosophie, den Staat moralisch in Dienst zu nehmen, ein Riegel vorgeschoben (S. 195f.).

Ohne Hunter auf Details behaften zu wollen, die hier nicht ausdiskutiert werden könnten, komme ich direkt auf zwei Interpretationsdefizite zu sprechen, welche die Hauptthese des Buches betreffen:

1. Hunters Konzept der "bürgerlichen" Philosophie bleibt unterbestimmt. An manchen Stellen klingt es so, also ob er rechtspositivistische Positionen im Auge habe (z.B. S. 317, 331). Dies hat jedoch keine Grundlage in Pufendorfs Naturrechtstheorie. Diese wird derart stark in den Dienst jener postulierten Trennung von Staat und Religion bzw. Moral genommen, dass Hunter nicht mehr zureichend zwischen Naturrecht und positivem Recht, zwischen moralischer und politischer Verpflichtung unterscheidet. So sieht es mehrfach so aus, also ob Pufendorf die verpflichtende Kraft der naturrechtlichen Normen nicht im göttlichen Willen, sondern im Willen des Souveräns verankert hätte (z.B. S. 130, 160, 317). Dies ist aber keineswegs der Fall. Wie Hunter an anderer Stelle anerkennt (S. 192), ist der Mensch nach Pufendorf auch im Naturzustand zur Einhaltung der naturrechtlichen Gebote verpflichtet. Um dies zu erklären, bringt er nicht nur den göttlichen Willen, sondern die göttliche Sanktionsgewalt ins Spiel. Genau deshalb ist die natürliche Religion zur Begründung des Naturrechts unabdingbar (De jure naturae et gentium, II, 3, §20-21). Dass zwischen Naturrecht und positivem Recht zu unterscheiden ist, wird weiter am Umfang der beiden Arten von Gesetzgebung deutlich. Nur das positive Recht ist auf die Sicherung des gesellschaftlichen Friedens beschränkt. Das Naturrecht umfasst dagegen eine größere Zahl von Normen, die unter dem Prinzip der „Geselligkeit“ (socialitas) befasst werden. Man denke an die Pflichten gegen sich selbst (ING II, 4) sowie an die Pflichten der Menschlichkeit und Liebe (ING III, 3). Pufendorf bezeichnet sie als „unvollkommene Pflichten“, weil sie nicht erzwungen, d.h. nicht in positives Recht überführt werden können. Diese zwei Gruppen von Pflichten betreffen die Moral bzw. den moralischen Charakter des Menschen. Insofern passen sie nicht in Hunters Schema. Sie bilden aber einen integralen Bestandteil von Pufendorfs Naturrecht.

Obwohl Hunter nur unzureichend zwischen moralischer und politischer Verpflichtung unterscheidet, bleibt seine Feststellung richtig, dass Pufendorf zumindest in De jure und in De officio jedes Recht der Individuen bestreitet, die Gesetze des staatlichen Souveräns moralisch zu beurteilen. Ob der Souverän in Übereinstimmung mit dem natürlichen Gesetz handelt, entscheidet allein er selbst. Aus diesem Grund lehnt Pufendorf mit Hobbes jedes Widerstandsrecht ab (S. 192). Diese Privilegierung der moralischen Autorität des Souveräns bildet einen integralen Bestandteil von Pufendorfs absolutistischer Staatstheorie, auf die ich noch zurückkomme.

2. Das Hauptproblem des Buches wird allerdings erst im Kant-Kapitel sichtbar. Mein Einwand richtet sich dabei nicht gegen die Rückbindung von Kants praktischer Philosophie an die Tradition der protestantischen Metaphysik, die mir in den meisten Punkten überzeugend scheint. Dieser zielt vielmehr auf den Vorwurf, Kant habe mit seiner Moral- und Religionsphilosophie einer gefährlichen Remoralisierung oder Resakralisierung der Politik Vorschub geleistet, zu der die "bürgerliche" Philosophie eines Pufendorf und Thomasius die Alternative darstelle. Hunter weist zwar in seiner Schlussbemerkung darauf hin, dass die Tradition des Naturrechts bis in die Zeit Kants lebendig blieb. Ob man daraus allerdings schließen kann, dass Kants Moral- und Rechtsphilosophie an der "bürgerlichen" Philosophie der frühen Aufklärung gemessen werden darf, scheint mir fraglich. Wie Hunter selbst erwähnt, enthält Kants Staatstheorie Elemente, die der deutschen Staatstheorie der frühen Aufklärung völlig fremd waren (S. 332-335). Es sind dies die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung sowie ein politischer Begriff des Bürgers, der durch seine Teilhabe an der Souveränität charakterisiert ist. Diese Elemente wurden von Pufendorf und Thomasius systematisch aus der Staatstheorie ausgeschlossen, weshalb sie als Begründer des Absolutismus zu gelten haben, der gerade in der Deutschen Aufklärung nachhaltige Wirkung zeitigte. Diese war sogar so nachhaltig, dass Kant trotz seines republikanischen Verfassungsentwurfs jedes Recht auf Widerstand ablehnte und stattdessen auf die Reformfähigkeit des „aufgeklärten“ Souveräns vertraute.

Hunter vertritt die These, Kants Ablehnung des Widerstandsrechts sei weit von einer Konzession an den Absolutismus entfernt; sie stelle vielmehr einen integralen Bestandteil seiner metaphysischen Begründung des Rechts dar (S. 336). Wenn man außer der Rechtslehre auch die Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung? und die Schrift Vom Gemeinspruch heranzieht, wo "aufgeklärte Monarchie" und "Republik" einander gegenübergestellt werden, sieht das jedoch anders aus. Im Unterschied zu Hunter halte ich Kants Bezugnahme auf Rousseau insofern für zentral, als damit die Tradition des europäischen Republikanismus, die in Deutschland relativ spät rezipiert wurde, Einzug hielt. Dies zeugt davon, dass ab 1760 auch in Deutschland nicht mehr Friede und Sicherheit, sondern Freiheit das Losungswort der politischen Philosophie war. Zur Frage, wie die Sicherung der Freiheit in einem Staat zu garantieren war, trug Kant mit seiner moralischen Begründung des Rechts weit mehr bei als die "bürgerliche" Philosophie der frühen Aufklärung, die keine Bürger, sondern nur Untertanen kannte. Hunter ist gewiss darin zuzustimmen, dass diese einen wesentlichen, oft unterschätzten Beitrag zur Entflechtung von Politik und Religion geleistet hat. Von einer Staatstheorie, die an den Ideen von Gleichheit und Freiheit orientiert ist, blieb sie jedoch weit entfernt. Dazu trug sie höchstens insofern bei, als sich gerade im Naturrecht Pufendorfs produktive Ansätze zur Unterscheidung zwischen vorstaatlichen moralischen Rechten und Pflichten und dem positiven Recht des Staates finden.

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