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Titel
Die Bewahrer des Erbes. Das Schicksal deutscher Kulturgüter am Ende des Zweiten Weltkrieges


Autor(en)
Farmer, Walter
Reihe
Schriften zur Kulturgüterschutz / Cultural Property Studies
Erschienen
Berlin 2003: de Gruyter
Anzahl Seiten
XIV, 250 S., 54 Abb., Foto
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winter Petra, Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin - Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Als im Frühjahr 2003 die schon beschlossene Rückkehr der Zeichnungen der Bremer Kunsthalle, die so genannte "Baldin-Sammlung", aus Russland plötzlich gestoppt und schließlich auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, war das Thema der "Beutekunst" wieder für kurze Zeit in den Medien präsent. Sonst ist es eher ruhig geworden um die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegermächten beschlagnahmten deutschen Kulturgüter und nach wie vor meint die in der deutschen Öffentlichkeit geführte "Beutekunst"-Diskussion fast ausschließlich die russische Seite.

Einen nahezu vergessenen Aspekt der deutschen Nachkriegsgeschichte beleuchten deshalb die jetzt in deutsch erschienenen Erinnerungen von Walter I. Farmer "Die Bewahrer des Erbes. Das Schicksal deutscher Kulturgüter am Ende des Zweiten Weltkrieges". Farmer berichtet als prominenter Augenzeuge vom Schicksal der während des Krieges in Bergwerke ausgelagerten Kunstwerke aus deutschen Museen und ihrer Bergung durch die amerikanischen Truppen. Als junger Kunstschutzoffizier der US-Armee übernahm er im Sommer 1945 die Leitung einer von den Amerikanern eingerichteten Sammelstelle für geborgene Kunstwerke in Wiesbaden und trug von nun an die Verantwortung für die umfangreichen und hochkarätigen Bestände der Berliner Staatlichen Museen sowie zahlreicher anderer Eigentümer.

Walter Farmer, 1911 in Ohio geboren, studierte Architektur, trat 1942 in die US-Armee ein und kam im Mai 1945 als Angehöriger eines Pionierregiments nach Deutschland. Kurz vor der Rückkehr seiner Einheit in die USA erfuhr er von der Arbeit der Abteilung "Monuments, Fine Arts and Archives" (MFA & A) in der US-Armee und bat um seine Versetzung. Im Juni 1945 wurde Farmer zum Kunstschutzoffizier bei der Amerikanischen Militärregierung in Deutschland. Aufgrund seiner als Regimentsadjutant erworbenen organisatorischen Fähigkeiten war er für die Offiziere der MFA & A – gestandene amerikanische Museumsdirektoren und Kunsthistoriker, die mit der Sprache der Armee nur wenig vertraut waren - der geeignete Mann, um trotz des geringen militärischen Stellenwertes, den die Aufgaben der MFA & A einnahmen, die richtigen Mittel und Wege in der Armeebürokratie zur Erfüllung ihrer Mission zu finden. Sein erster Auftrag war die Errichtung der Zentralen Sammelstelle für Kunstwerke im Gebäude des ehemaligen Landesmuseums in Wiesbaden (Central Collecting Point Wiesbaden), die v.a. die wertvollen Bestände aus den Berliner Museen aufnehmen sollte, welche nach ihrer Bergung aus den thüringischen Bergwerken noch im Gebäude der Reichsbank in Frankfurt lagerten. In seinem spannenden Bericht schildert Farmer, wie es ihm im Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit in nur zwei Monaten gelang, das beschädigte Gebäude des Landesmuseums so herzurichten und militärisch absichern zu lassen, dass es auf unbestimmte Zeit umfangreiche Kunstsammlungen aufnehmen konnte. Die ersten Transporte mit den Berliner Museumsschätzen trafen am 20. August 1945 in Wiesbaden ein.

Dieses Kapitel über die Anfänge in Wiesbaden zählt nach zwei Einleitungskapiteln, in denen Farmer ausführlich seine Jugend, Ausbildung und die Zeit bei der US-Army schildert, zu den interessantesten des Buches. Farmer berichtet über die alltäglichen Probleme, mit denen er durch seine deutschen Mitarbeiter konfrontiert wurde und auf die die US-Militärverwaltung genauso wenig vorbereitet war wie die sich neu formierende deutsche Verwaltung. Er organisierte für seine Mitarbeiter zusätzliche Nahrungsrationen und Brennholz, damit sie überhaupt in der körperlichen Verfassung waren, den Berg von Arbeit in der Sammelstelle zu bewältigen.

Den Höhepunkt des Erinnerungsberichts markiert das Kapitel unter der Überschrift "Westwärts, Watteau!" Unter diesem bzw. dem verkürzten Titel "Westwärts" stand eine Operation der US-Militärregierung in Deutschland, die 200 erstklassige Gemälde aus dem Bestand der Berliner Gemäldegalerie sowie zwei Gemälde aus der Nationalgalerie Berlin, die sich in der Obhut des Collecting Points Wiesbaden befanden, in die Vereinigten Staaten überführen sollte. Farmer und seine Kollegen fügten den Namen des Malers Antoine Watteau hinzu, da sich unter den angeforderten Werken drei seiner Gemälde fanden. Den Befehl zur Vorbereitung der Werke auf den Abtransport erhielt Farmer per Telegramm am 6. November 1945, in bewegenden Worten beschreibt er seine Reaktion, sein Unverständnis und die ehrliche Verärgerung über den Befehl zur "systematischen Plünderung" (S. 60): "Wir sind nicht besser und nicht schlechter als die Deutschen – in der Tat haben wir viel von ihnen gelernt -, wenn es um Unehrenhaftigkeit geht." (S. 72) Er initiierte für den folgenden Tag ein Treffen der in Deutschland stationierten amerikanischen Kunstschutzoffiziere, auf dem das "Wiesbadener Manifest", eine Protestnote der MFA & A-Offiziere gegen den Abtransport deutschen Eigentums verabschiedet wurde. Der Protest hatte jedoch keine unmittelbare Wirkung. Die 202 Werke wurden verpackt und mit dem Schiff nach Amerika gebracht, im Dezember 1945 trafen sie in der National Gallery in Washington D.C. ein.

Die Geschichte des "Wiesbadener Manifests" und der nach Amerika verbrachten deutschen Kunstschätze verliert sich an dieser Stelle des Buches in einem umfangreichen Exkurs zu den politischen Hintergründen. Im Kern ging es um die Frage, ob die Kunstgüter zur Reparation herangezogen werden sollten oder treuhänderisch bis zu einer eventuellen Rückgabe an das deutsche Volk in Gewahrsam genommen würden. Zwar lesen sich die zahlreichen Augenzeugenberichte der beteiligten Kunstschutzoffiziere, Kunsthistoriker, Museumsleute und Politiker durchaus interessant, sie erhellen allerdings wenig die komplizierte Situation, in der sich die MFA & A-Einheiten sowie die amerikanische Militärregierung in Deutschland nach Kriegsende befanden. In diesem Zusammenhang muss auf den umfangreichen Dokumenten-Anhang hingewiesen werden, der den Erinnerungen von Farmer beigegeben wurde. Anhang I und IV liefern fundierte und klar strukturierte Hintergrundinformationen zur angesprochenen Problematik. Der Beitrag von Ruth K. Meyer über die "Roberts Commission" (Anhang I, S.133-155) erläutert ausführlich das Ringen der Alliierten um die Lösung der Reparationsfrage und beleuchtet die schwierige Arbeit der MFA & A-Einheiten, die zwischen allen Stühlen der komplexen Struktur der amerikanischen Militärbehörden in Deutschland saßen. Der Beitrag von William Whobrey "Die Siegespflichten: Walter Farmer und das Wiesbadener Manifest" (Anhang IV, S.223-229) liefert eine objektive und zusammenfassende Darstellung der Ereignisse und stellt so eine gute Ergänzung zu Farmers sehr persönlichem Bericht dar.

Das "Wiesbadener Manifest" entfaltete schließlich doch noch seine beabsichtigte Wirkung: Im Januar und Februar 1946 wurde es in verschiedenen amerikanischen Zeitschriften veröffentlicht und zitiert, weitere Protestschreiben von amerikanischen Museumsangestellten an Präsident Truman folgten. Nach langen Kontroversen über die Rückführung der Bilder nach Deutschland und einer Ausstellungstournee durch 13 amerikanische Städte 1948 kehrten die 202 Gemälde schließlich im April 1949 in die Sammelstelle nach Wiesbaden zurück.

Im Collecting Point in Wiesbaden ging nach dem Abtransport der Bilder das "Tagesgeschäft" weiter. Farmer berichtet von weiteren Übernahmen von Kunstschätzen in die Obhut der Sammelstelle und von der ersten Ausstellung im Februar 1946, die er aus den Schätzen des Collecting Points zusammenstellte. Ein Highlight der Ausstellung war die Büste der Nofrete aus dem Berliner Ägyptischen Museum, die schon zu Weihnachten 1945 im Collecting Point für Aufregung gesorgt hatte, als sie in Farmers Abwesenheit von einem Kunstschutzoffizier zur bloßen Unterhaltung der Anwesenden ausgepackt wurde. Es folgten eine Reihe weiterer Ausstellungen, die vor allem dazu dienten, die umfangreichen und wertvollen Bestände des Collecting Points in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die breite Anteilnahme der deutschen bzw. internationalen Öffentlichkeit am Schicksal der hier vorläufig beheimateten Kunstwerke würde eine weitere heimliche Verschickung nach Amerika zumindest erschweren, so die berechtigte Hoffnung Walter Farmers.

Das letzte Kapitel schlägt eine Brücke von der Nachkriegsgeschichte zur Gegenwart und widmet sich ausführlich der bis heute andauernden Suche nach den verschollenen Kunstwerken der Berliner Museen. Dabei stehen die verdienstvollen Forschungen von Klaus Goldmann, ehemals Kustos am Museum für Vor- und Frühgeschichte, der 1987 den Kontakt zu Farmer suchte, im Mittelpunkt. Gleichzeitig wird auf weiterführende Literatur zur Thematik hingewiesen, da die Autoren einschlägiger Werke der 1980er und 1990er Jahre ebenfalls mit Farmer in Kontakt traten, so z.B. Cay Friemuth und Lynn H. Nicholas. 1

Es bleibt festzustellen, dass neue Fakten zum Schicksal deutscher Kulturgüter am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht geliefert werden, wie es der Titel des Buches vielleicht erwarten lässt. Farmer selbst reflektiert die bereits vorliegende Literatur zur Geschichte des Wiesbadener Collecting Points. 2 Der Ablauf der Ereignisse in Wiesbaden bis hin zum "Wiesbadener Manifest" sowie die komplexe Geschichte der MFA & A–Einheiten ist bereits bei Friemuth anschaulich dargestellt worden. Auch Irene Kühnel-Kunze schildert in ihrem Standardwerk zur Nachkriegsgeschichte der Berliner Museen die Überführung der 202 Gemälde nach Amerika – erstaunlicherweise ohne den Namen Farmers im Zusammenhang mit dem Wiesbadener Collecting Point zu erwähnen! – und liefert als Augenzeugin einen ausführlichen Bericht über das weitere Schicksal der Kunstwerke: von der Ausstellungstournee durch die USA über die Rückkehr nach Deutschland 1948/49 bis zu ihrer endgültigen Rückkehr nach Berlin Ende der 1950er Jahre. 3

Der bereits erwähnte Dokumenten-Anhang, der fast die Hälfte des Buches ausmacht, ist nach Meinung der Rezensentin zu umfangreich ausgefallen. Neben den oben skizzierten Beiträgen in Anhang I und IV wird erwartungsgemäß das Wiesbadener Manifest in deutsch und englisch abgedruckt. Die verschiedenen faksimilierten Listen der Kunstwerke und andere Dokumente als Zeugnisse des politischen Hintergrunds der Überführung der 202 Werke nach Amerika sind teilweise nur schwer lesbar und hätten als transkribierte Dokumente ihrem Quellenwert sicher mehr Rechnung getragen. Die abschließende Fotodokumentation aus Farmers privatem Fotoalbum, die den Bericht Farmers wunderbar illustriert, hätte man sich beim stolzen Buchpreis von 49,95 Euro allerdings auf Hochglanzpapier und in besserer Qualität gewünscht.

Trotzdem ist der Quellenwert des Buches für die Forschung unbestritten. Neben dem von Friemuth bereits 1989 publizierten Tagebuch des britischen Kunstschutzoffiziers Robert Lonsdale Charles, der im Kunstgutlager Celle in der britischen Besatzungszone tätig war 4, liegt mit dem Bericht von Walter Farmer nun auch für die ungleich brisantere Geschichte des Wiesbadener Collecting Points ein Augenzeugenbericht als gedruckte Quelle vor. Die detailreiche Beschreibung seiner Tätigkeit in Wiesbaden, seine alltäglichen Sorgen um die ihm anvertrauten Kunstwerke und schließlich die spannende Schilderung der Ereignisse, die zur Entstehung des "Wiesbadener Manifests" führten vermitteln dem Leser einen sehr unmittelbaren Eindruck vom schweren und chaotischen Neuanfang im zerstörten Deutschland im Sommer 1945 sowie von der ambivalenten Tätigkeit des Kunstschutzoffiziers zwischen Pflichterfüllung als Angehöriger der US-Armee und der gleichzeitigen Verantwortung gegenüber den Kunstwerken. Farmers Erinnerungen stellen ein zeitgeschichtliches Dokument dar, das die zum Thema vorliegende Forschungsliteratur um eine sehr persönliche Note ergänzen wird und darüber hinaus einen sehr wichtigen Beitrag zur Diskussion um die seit Kriegsende verschollenen deutschen Kulturgüter leistet. Insbesondere das engagierte Vorwort von Klaus Goldmann, der das Buch für die deutsche Fassung überarbeitete, eröffnet neue bzw. bisher zu wenig verfolgte Spuren, die neue Akzente in der "Beutekunst"-Diskussion setzen können.

Anmerkungen:
1 Friemuth, Cay, Die geraubte Kunst. Der dramatische Wettlauf um die Rettung der Kulturschätze nach dem Zweiten Weltkrieg, Braunschweig 1989 sowie Nicholas, Lynn H., Der Raub der Europa. Das Schicksal europäischer Kunstwerke im Dritten Reich, München 1995.
2 z.B. Herbst, Arnulf, Zur Geschichte des Wiesbadener Collecting Points, in: Kunst in Hessen und am Mittelrhein 25 (1985), S.11-19.
3 Kühnel-Kunze, Irene, Bergung – Evakuierung – Rückführung. Die Berliner Museen in den Jahren 1939-1959, Berlin 1984.
4 In: Friemuth, Cay, (wie Anm. 1), S. 179-291.

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