B. Althammer: Aachen und Barcelona 1830-1870

Titel
Herrschaft, Fürsorge, Protest. Eliten und Unterschichten in den Textilgewerbestädten Aachen und Barcelona 1830-1870


Autor(en)
Althammer, Beate
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte e.V. Braunschweig/Bonn
Erschienen
Anzahl Seiten
660 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hedwig Schmidt-Herold, München

In den letzten Jahren wurde in der Geschichtswissenschaft verstärkt die transnationale, komparatistische Perspektive eingefordert; die methodische Auseinandersetzung damit hat inzwischen zu nicht wenigen einschlägigen Publikationen geführt, die zwar theoretische Handreichungen bieten, dem Forscher aber bei der konkreten Arbeit mitunter nicht unbedingt viel weiterhelfen. Daher sind Arbeiten, die ihre Untersuchungsgegenstände gleichgewichtig und systematisch analysieren, nach wie vor eher selten. Die vorliegende klar gegliederte und gut lesbare Studie zählt dazu. Der Vergleich wird nicht, wie häufig zu beobachten, in ein abschließendes Kapitel verbannt, sondern die komparatistische Perspektive erfreulicherweise in allen Abschnitten der Studie konsequent durchgehalten.

Lassen sich Aachen und Barcelona in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts überhaupt sinnvoll und Nutzen bringend vergleichen? So mag man fragen, wenn man den Titel der Trierer Dissertation von Beate Althammer liest, in der sie das Verhältnis von Eliten und Unterschichten in diesen beiden vom Textilgewerbe geprägten Zentren der Frühindustrialisierung einer gründlichen Untersuchung unterzieht. Ausgehend vom Aachener Aufruhr 1830 und den Unruhen in Barcelona 1835 – beides gewaltsame Revolten städtischer Unterschichten mit erheblicher Fernwirkung im kollektiven Gedächtnis, die sich im Kontext tief greifender politischer Erschütterungen der jeweiligen Staaten ereigneten (in Aachen die Fernwirkungen der Julirevolution, in Barcelona der konfliktträchtige Übergang vom spätabsolutistischen zum liberal-konstitutionellen System mit dem 1. Karlistenkrieg), - präpariert Beate Althammer zentrale Konfliktlinien beider Gesellschaften im Übergang zur fabrikindustriellen Produktion im Textilgewerbe heraus. Sie fokussiert dabei unter den Schlagworten „Herrschaft, Fürsorge, Protest“ das Zusammenspiel von staatlichem Apparat (Verwaltung, Militär), städtischen Führungsgruppen (Behörden bzw. Eliten) und der überwiegend lohnabhängigen Masse der Unterschichten. Sie fragt „nach den Hintergründen für Konflikte und Krisen respektive für deren erfolgreiche Vermeidung oder Bewältigung“ (S. 14), nach Beziehungen, Konzepten, Aktionsformen und Handlungsspielräumen der beteiligten Gruppen. „Die gegenseitigen Bedingtheiten des Verhaltens von Eliten und Unterschichten“, zu erklären, steht im Zentrum ihres Erkenntnisinteresses. Dass „trotz analoger sozioökonomischer Strukturen und Lagen sehr unterschiedliche Verhaltensdispositionen“ zu beobachten sind, dafür habe „der politisch-kulturelle Kontext, der sich unter anderem in den Herrschafts- und Fürsorgepraktiken der Eliten niederschlug“ (S. 30) eine entscheidende Rolle gespielt. Und diese wiederum wurden nicht nur dann besonders deutlich, wenn es um die Bewältigung bzw. die Vermeidung gewaltsamer Unterschichtenproteste ging. Auch in gesellschaftlichen Krisenlagen, wie etwa den Choleraepidemien, die Europa im 19. Jahrhundert in mehreren Wellen heimsuchten, offenbarten sich schlaglichtartig Einstellungen, Aktionsmuster und Handlungsspielräume der Beteiligten, die auf komplexe Weise miteinander verflochten waren.

Zur „Legitimierung“ des Vergleichs werden einführend die Gemeinsamkeiten hervorgehoben – und in verschiedenen Aspekten vielleicht doch etwas überbetont: a. frühindustrielle, textilgewerbliche Zentren, b. parallel verlaufendes demographisches Wachstum mit daraus resultierenden ähnlichen Problemlagen (aber: Barcelona hatte mehr als doppelt so viele Einwohner und war das mit Abstand wichtigste wirtschaftliche Zentrum des Landes!), c. selbstbewusste städtische Eliten durch die Tradition alter, weitgehend autonomer Gewerbezentren, d. Konfessionsgleichheit, e. Randlage in jeweiligen Staaten (aber: Barcelonas herausragende Rolle im Überseehandel relativiert den Faktor Randlage). „Die analoge sozioökonomische Struktur, Bevölkerungsentwicklung, urbane Tradition und Konfession und die gewissermaßen symmetrische Konstellation von Stadt, Region und Staat bilden die Grundlagen, die Aachen und Barcelona vergleichbar macht“ (S. 29). Als wesentlichen Unterschied – dies sei hier bereits vorweggenommen – konnten sehr unterschiedliche Formen der Konfliktaustragung bzw. -vermeidung herausgearbeitet werden: Aachen blieb nach 1830 weitestgehend ruhig, während sich Barcelona bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu einem permanenten Herd sozialer Unruhe entwickelte. Der Frage nach den Ursachen hierfür soll in erster Linie nachgegangen werden.

In einer minutiösen Auswertung und facettenreichen Kontrastierung von Hintergründen, Ablauf und Folgen der Unruhen von 1830 und 1835 werden auch übliche Deutungsschemata der Protestforschung in Teilen relativiert. Gemeinsam war beiden Revolten eine politisch unruhige Großwetterlage sowie eine sich abzeichnende (1830) respektive voll ausgeprägte (1835) wirtschaftliche Krisensituation. Die Ausschreitungen richteten sich jeweils gegen Protagonisten des wirtschaftlichen Strukturwandels, aber auch gegen Repräsentanten der staatlichen Herrschaft; die Akteure setzten sich aus einem Querschnitt der städtischen Unterschichten zusammen, die auf weitgehend noch vormoderne Aktionsformen zurückgriffen, auch die Fabrikarbeiter. Die wesentlichsten Unterschiede bestanden in der größeren Gewalttätigkeit sowie der ausgeprägt antiklerikalen Stoßrichtung in Barcelona. Akribisch spürt Beate Althammer Aktionen und Reaktionen, Handlungsbedingungen und Handlungsspielräumen aller Beteiligten nach. Frappierend waren vor allen Dingen die unterschiedlichen Reaktionen der Behörden: während es in Aachen zu langwierigen Gerichtsverfahren mit drakonischen Strafen kam, die viele Beteiligte erfassten, griff man in Barcelona zum Mittel militärischer Schnellgerichtsverfahren mit nur wenigen, dafür aber sofort vollstreckten Todesurteilen.

Nach diesen Ereignissen der frühen dreißiger Jahre entwickelten sich die Konfliktivität und die Formen ihrer Bewältigung in beiden Industriestädten zunehmend auseinander. Dies drückte sich darin aus, dass Aachen in der Folgezeit relativ ruhig blieb, während in Barcelona die Konflikte endemische Ausmaße annahmen, Entwicklungen, denen in Kap. IV nachgespürt wird. Zu Revolutionen kam es in Aachen nur noch 1848, während die katalanische Metropole durch eine ganze Reihe von Aufständen erschüttert wurde. Sehr häufig waren auch Auseinandersetzungen auf dem Feld der Arbeitsbeziehungen; eine zunehmend selbstbewusste und sich vergleichsweise früh organisierende Arbeiterschaft (seit den 1840er Jahren) entwickelte ein ganzes Arsenal abgestufter Protestformen, während sich die rheinischen Textilarbeiter auf Petitionen und allenfalls Drohbriefe beschränkten. In Barcelona war der „organisierte Arbeitskonflikt bereits um die Jahrhundertmitte zur dominierenden, routiniert praktizierten Protestform geworden“ (S. 605), doch Gewalt blieb ein keineswegs marginalisiertes Instrument der Auseinandersetzung – wie in anderen Bereichen von Politik und Gesellschaft auch. Auf der anderen Seite war in Aachen die Nahrungssicherung in Notzeiten, nota bene das Armenwesen, vergleichsweise besser ausgebaut als die einschlägigen, meist nur punktuellen Aktivitäten der Kommune am Mittelmeer. Dementsprechend zeigten sich erste Ansätze zu einer neuen Sozialpolitik – gegen den Widerstand der Aachener Honoratioren übrigens – früher in Preußen (Versicherungsobligatorium) – als im weiterhin stark paternalistisch-karitativ orientierten Katalonien.

Immer wieder wird dabei offenbar, dass die Rahmenbedingungen für beide Kommunen „gleichen Stadttyps“ doch sehr voneinander abwichen. Die autoritäre Herrschaftsstruktur Preußens „mit ausgebauter Bürokratie und gefestigtem Gewaltmonopol“ (S. 18) stand in deutlichem Kontrast zu dem formal liberal-konstitutionellen, aber chronisch instabilen Regime in Spanien; die systematische Umsetzung gesetzlicher Normen, der flächendeckende staatliche Zugriff auf den Feldern von Verwaltung, Steuern und Militär gelang nur ansatzweise. Dies habe zu auffallend anderen Herrschaftspraktiken vor Ort geführt, was sich einerseits in erheblichen Implementationsdefiziten, andererseits aber auch in weniger „moralisierenden und disziplinierenden Eingriffen in die Lebensgewohnheiten der Unterschichten“ ausgedrückt habe (S. 600); fraglich bleibt allerdings, ob dies nur den „Mängeln“ der inneren Staatsbildung anzulasten ist, und nicht auch Aspekte von Mentalität und Kultur im weitesten Sinne eine erhebliche Rolle spielten. Gewiss identifizierte sich ein Teil der kleinen Leute – zumindest zeitweise - mit gewissen Forderungen, Ritualen und Symbolen der progressistisch-radikalen und später der föderalistisch-republikanischen Kräfte, auch mag dies zu einem stärkeren Zugehörigkeitsgefühl zur städtischen Gemeinschaft geführt haben, aber ob die „sozialen Distanzen“ in Aachen wirklich größer waren als in Barcelona (S. 604), oder ob sie sich vielleicht nur in anderen Formen äußerten, wäre näher zu untersuchen.

Auf der Ebene der kommunalen Behörden war in Aachen die Dominanz der tonangebenden Textilfabrikanten unübersehbar, während in Barcelona infolge des geringeren Konzentrationsprozesses in der Branche die großen Namen seltener führende kommunale Ämter innehatten (S. 602). Für eine starke Fluktuation sorgte zudem die politische Instabilität mit ihren ständigen Regierungswechseln der gemäßigten bzw. der fortschrittlicheren Liberalen. Dadurch, - so die These - dass sich die lohnabhängigen Unterschichten somit - neben der Schwäche der Behörden - einer viel weniger kompakten Elitenfront als in Aachen gegenüber sahen, hätten sich für jene größere Handlungsspielräume eröffnet. Allerdings hat vor allem die neuere Klientelismusforschung das Funktionieren einschlägiger Netzwerke dahingehend offengelegt, dass sich nicht unbedingt die renommiertesten Namen selbst an vorderster Stelle in Ämtern und Funktionen exponieren mussten, um Einfluss zu nehmen. Im Gegensatz zu Aachen haben weiterhin ausgeprägtere, politisch motivierte Innerelitenkonflikte zur Herausbildung einer selbstbewussten Arbeiter- und Unterschichtenbevölkerung beigetragen, wobei wiederholt die progressistische Fraktion Teile davon für ihre Zwecke mobilisieren konnte. Die Stichworte „Religion und Kirche“ verweisen auf einen weiteren markanten Unterschied. Während der rheinische Katholizismus in Aachen auf das Protestpotential der Unterschichten dämpfend wirkte, übte das Thema „Religion und Kirche“ in Spanien - und besonders im Nordosten - stark polarisierend (Karlistenkriege, Säkularisation, Antiklerikalismus) und keineswegs gesellschaftsstabilisierend.

Der letzte Abschnitt widmet sich den Choleraepidemien. Die Reaktionen darauf und der Umgang mit diesen spiegele „die unterschiedliche Stabilität der Gesellschaften Aachens und Barcelonas wider“ (S. 41); jene prägten die Vorstellungen der Bevölkerungen „von der Ordnungssicherungskapazität der Behörden, der Fürsorgebereitschaft der Wohlhabenden und dem Protestpotenzial der Unterschichten“ (S. 41) - also mit anderen Worten das kollektive Gedächtnis. Wie meist überzeugend herausgearbeitet wird, zogen diese in der katalanischen Metropole Wirtschaft und Verwaltung weit mehr in Mitleidenschaft und destabilisierten die städtische Gesellschaft daher viel stärker, als dies in Aachen zu beobachten war.

Beate Althammer hat hier eine überaus anregende, perspektivenreiche und fundierte Analyse zu einem höchst komplexen Thema vorgelegt, die vor allem durch die sorgfältige Auslotung von Querverbindungen und Vernetzungen, dem Abwägen und Bewerten von vermeintlichen Analogien und Widersprüchlichkeiten besticht, auch wenn die eine oder andere Schlussfolgerung nicht ganz zu überzeugen vermag. Dabei verdient die enorme Kraftanstrengung hervorgehoben zu werden, die nötig ist, um sich in zwei historiographischen Kontexten souverän zu bewegen. Kleinere Schwächen können dabei das positive Gesamtbild wenig trüben. So wird, wenn vor Militarisierung der Politik die Rede ist, nicht hinreichend deutlich, dass die Militärs in Parteien und Faktionen des liberalen Spanien nicht als korporative Interessenvertreter der Streitkräfte handelten, sondern als charismatische Führer „ziviler“ Parteien. Werden auch die Interaktionen von staatlichen und städtischen Eliten sowie der verschiedenen Teile der Unterschichten und deren – mutmaßliche – Motive detailliert herausgearbeitet, so werden neuere Erkenntnisse der Klientelismusforschung nur am Rande einbezogen. Gewiss ist hier zu Barcelona noch viel an Basisarbeit zu leisten, doch scheint in diesem Bereich des Vergleichs doch stärker die (preußisch)-deutsche Perspektive durch. Einige Aspekte hätte man klarer konturieren können, wenn der „Fall Barcelona“ – wie dies insgesamt ausgeprägter für Aachen in Region (Rheinland) und Staat (Preußen) geschieht – intensiver im gesamtspanischen Kontext beleuchtet worden wäre. Welche Problemlagen, Interaktionsmuster, Handlungsspielräume und Lösungsstrategien waren barcelona- bzw. katalonienspezifisch und welche galten für das gesamte Spanien? Das Verdikt über den praktisch inexistenten Vergleich in der spanischen Geschichtswissenschaft ist in dieser Schärfe nicht gerechtfertigt (S. 25), und gilt allenfalls, wenn damit Deutschland und Spanien als Untersuchungsgegenstände gemeint sind. Nicht nur der am Detail interessierte Leser wäre an manchen Stellen für ein genaueres Belegen dankbar gewesen. Sehr ärgerlich, aber wohl vor allem dem Verlag und nicht der Autorin anzulasten, ist die überaus schlechte Qualität der Grafiken.

Aber: Wenn als Ergebnis eines so gründlichen und tief schürfenden Kraftaktes herauskommt, dass vieles einfach nicht „vergleichbar“, vielmehr sehr unterschiedlich gewesen ist, so sind die gewonnenen neuen Einsichten doch überaus vielschichtig und erhellend. Der Blick wird geschärft, und man vermeidet die Nichtbeachtung von vermeintlich Selbstverständlichem der eigenen Kultur, in der fast immer einer der Vergleichsgegenstände verankert ist.

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