W. Stelbrink: Die Kreisleiter der NSDAP

Cover
Titel
Die Kreisleiter der NSDAP in Westfalen und Lippe. Versuch einer Kollektivbiographie mit biographischem Anhang


Autor(en)
Stelbrink, Wolfgang
Reihe
Veröfftlichungen der staatlichen Archive des Landes NRW C 48
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Nolzen, Redaktionsmitglied der Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus

Unser Wissen um die Kreisleiter der NSDAP hat in den letzten mittlerweile zehn Jahren einen bedeutenden quantitativen und qualitativen Sprung gemacht. In ihren beiden grundlegenden Dissertationen haben Claudia Roth und Christine Arbogast die Herrschaftspraxis der bayrischen beziehungsweise der württembergischen Kreisleiter untersucht.1 Hansjörg Riechert und Andreas Ruppert haben die erste Gesamtgeschichte eines Parteikreises vorgelegt und dieser einen äußerst gehaltvollen Dokumentenanhang beigefügt.2 Kaum eine Regional- oder Lokalgeschichte zur NS-Zeit kommt mehr ohne ein Porträt der jeweils zuständigen NSDAP-Kreisleiter aus.3 Selbst eine erste Kreisleiter-Biografie ist inzwischen erschienen. 4 Nicht zu vergessen die von Felicitas Glade vorgelegte Doppelbiographie einer einzigartigen Freundschaft zwischen einem hohen NSDAP-Funktionär und einem Arzt, der als Jude verfolgt und in den Selbstmord getrieben wurde.5 Weitere Studien zu den Kreisleitern der NSDAP sind zu erwarten.6

Es kann inzwischen als erwiesen gelten, dass die Kreisleiter der NSDAP für die alltägliche Herrschaftspraxis des NS-Regimes von immenser Bedeutung waren. Der Parteikreis war die Gebietseinheit unterhalb der Gaue und entsprach territorial einem Stadt- oder Landkreis. Auf Reichsebene gab es nach 1933 - je nach Zeitpunkt der Datenerhebung - zwischen 780 und 850 Kreise der NSDAP. Als “Hoheitsträger” war der Kreisleiter der oberste Repräsentant der NSDAP in seinem “Hoheitsbereich” und hatte die von der Gauleitung ausgegebenen Richtlinien umzusetzen. Zu diesem Zweck stand ihm mit der Kreisleitung ein umfangreicher bürokratischer Apparat zur Verfügung, der 20-40 Funktionäre umfasste. Außerdem unterstanden dem Kreisleiter etwa 20-40 Ortsgruppenleiter, deren Amtsführung er kontrollierte und denen er Anweisungen erteilen durfte.7 Daneben war der Kreisleiter für die “Menschenführung” der NSDAP zuständig. Darunter wurde gemeinhin die soziale “Betreuung”, ideologische Indoktrination und propagandistische Mobilisierung der Bevölkerung verstanden. Je nach Größe des Parteikreises waren von diesen Tätigkeiten 50 000-100.000 “Volksgenossen” betroffen.

Unter den eingangs genannten Autoren ist es bisher üblich gewesen, die Biografien der Kreisleiter mit deren Herrschaftspraxis zu verzahnen. Auf diese Art und Weise wurden die Tätigkeiten der Kreisleiter analytisch an deren gesellschaftliches Umfeld rückgebunden. Der Soester Historiker Wolfgang Stelbrink, ausgewiesen durch eine wichtige Dissertation zur Geschichte des preußischen Landrats im Nationalsozialismus 8, geht dagegen einen anderen Weg. Er interessiert sich nicht für die regional differierende Herrschaftspraxis der westfälischen Kreisleiter, sondern für deren soziale Mobilität. Seine Untersuchungsgruppe besteht aus 142 Kreisleitern der Gaue Westfalen-Süd und Westfalen-Nord beziehungsweise der beiden lippischen Parteikreise.9 Diese Zahl ist erklärungsbedürftig, gab es zum 1. Januar 1935 innerhalb dieses Gebietes lediglich 56 Kreise der NSDAP, seit einer Organisationsreform 1938/39 nur noch 37. Der Autor bezieht in seine Untersuchungsgruppe jedoch alle Personen ein, die irgendwann einmal als Kreisleiter amtierten. Die kürzeste Amtsdauer eines westfälischen Kreisleiters betrug, soweit ich sehe, vier Monate (S. 191f., 295), die längste zwölf Jahre (S. 147f., 292).

Die vorliegende Monografie beginnt mit der Kollektivbiografie der westfälischen und lippischen Kreisleiter, dem eigentlichen analytischen Teil (S. 17-125). Es folgt ein umfänglicher Anhang, in dem die Biografien aller 142 Kreisleiter nach den Stichpunkten “Schule, Ausbildung, Beruf bis ca. 1933”, “Mitgliedschaften bis 1945”, “Posten in der NSDAP” und “Entnazifizierung” zusammengefasst sind (S. 126-302). Den Abschluss bildet ein ausführlicher sozialstatistischer Anhang mit 44 Tabellen zur Untersuchungsgruppe (S. 304-324). Stelbrink hat die NSDAP-Personalakten im Bundesarchiv Berlin, die Akten der Spruchgerichte der Britischen Zone und alle einschlägigen regionalen und städtischen Archive in Nordrhein-Westfalen ausgewertet. Ihm ist eine empirische Kärrnerarbeit ersten Ranges zu attestieren.

Auf der Basis seiner stupenden Quellenkenntnis gelingt es dem Autor, einige Urteile der bisherigen Forschung zu korrigieren. So zeigt er, dass die Kreisleiter in ihrer überwiegenden Mehrzahl keine “marginal men” waren, also eben keine erfolglosen Randexistenzen, wie oftmals gemutmaßt wurde. 59 Prozent der Kreisleiter, für die diese Daten überliefert waren (N= 126) hatten eine höhere Schule besucht. 1929/30 war jedes fünfte Mitglied der Untersuchungsgruppe der oberen Mittelschicht zuzurechnen. Knapp die Hälfte der Kreisleiter gehörten zu den sozial Immobilen, das heißt, sowohl intra- als auch intergenerationell waren weder soziale Aufstiegs- noch Abstiegstendenzen nachweisbar. Nur während der Weltwirtschaftskrise zwischen 1930 und 1932 gab es erste Einbrüche, als 30 dieser immobilen Kreisleiter einen vorübergehenden sozialen Abstieg erlitten. Dies änderte sich nach dem 30. Januar 1933 schlagartig. Von den 91 bis Ende 1937 eingesetzten Kreisleitern der NSDAP erlebten 58 einen teils immensen Karriereschub. Sie nahmen leitende Positionen im öffentlichen Dienst wahr, errangen Mandate des Preußischen Landtags oder des Reichstags oder konnten sonstige Versorgungsposten für sich verbuchen.

Stelbrinks Ergebnisse zu den Parteikarrieren der westfälischen Kreisleiter entsprechen im großen und ganzen Roths und Arbogasts Befunden für Bayern und Württemberg. Die NSDAP war für die allermeisten Kreisleiter die erste politische Organisation, der sie beitraten. Das Datum des Parteieintritts lag bis auf zwei Fälle vor dem 30. Januar 1933. Mehr als 57 Prozent zählten zu den so genannten Alten Kämpfern, waren also schon vor dem 14. September 1930 zur NSDAP gestoßen. Das Durchschnittsalter bei Parteieintritt betrug 30,2 Jahre, worin sich der jugendliche Charakter der NSDAP zeigt. 75 Prozent der Kreisleiter übernahmen bereits vor 1933 ein Parteiamt. Die Fluktuation unter den westfälischen Kreisleitern war, wie im Deutschen Reich generell, äußerst hoch. Am 31. Dezember 1938 waren überhaupt nur noch vierzehn Prozent der bei Hitlers “Machtergreifung” amtierenden westfälischen Kreisleiter im Amt (S. 56 sowie die Tabellen 21-24, S. 315f.). Das lag, wie Stelbrink nachweist, in erster Linie an ihren häufigen Wechseln in ein finanziell lukrativeres Staatsamt und an der innerparteilichen Aufwärtsmobilität der Kreisleiter.

Abschließend behandelt Stelbink den Lebensweg der westfälischen Kreisleiter nach dem Zusammenbruch des “Dritten Reiches” (S. 80-125). Er schildert die Aburteilung durch die Spruchgerichte in der Britischen Zone, die in 60 erstinstanzlichen Verfahren in 45 Fällen Haftstrafen aussprachen (S. 94). Dabei bleibt vergleichsweise unklar, wer für welches Delikt welche Strafe erhielt. Eine historische Bewertung der Spruchgerichtsverfahren gegen die westfälischen Kreisleiter ist auf der Basis von Stelbrinks Ausführungen kaum möglich. Ähnliches gilt für das Entnazifizierungs-Verfahren, bei dem die meisten Kreisleiter, anders als in Bayern und Württemberg, in die Stufe III = “Minderbelastete” eingeordnet wurden. Für die 1950er Jahre konstatiert Stelbrink eine schnelle berufliche Reintegration der Kreisleiter bei gleichzeitiger (durch die Entnazifizierung erzwungener) politischer Abstinenz. Die Strafverfahren vor deutschen Schwurgerichten, denen sich immerhin 32 westfälische Kreisleiter stellen mussten, verzögerten den Prozess der Reintegration nachdrücklich.

Der Wert der vorliegenden Monografie liegt vor allen Dingen darin, dass sie zu weiterführenden Forschungen über die Funktionäre der NSDAP anregt. Sie wird für eine Sozialgeschichte der NSDAP nach 1933, die immer noch aussteht, unverzichtbar sein. Es ist ungemein hilfreich, dass Stelbrink die bisher in der NSDAP-Forschung gängigen soziographischen Kategorien übernimmt, denn dies ermöglicht einen Vergleich mit anderen Gruppen von Parteifunktionären. Er selbst ordnet seine Befunde zu den westfälischen und lippischen Kreisleitern immer vergleichend ein. Stelbrinks Darstellung ist insofern mehr als ein Hilfsmittel für Regional- und Lokalhistoriker, als das sie im Vorwort etwas unter Wert angekündigt wird. Sie erbringt auch viel neues Detailwissen über die westfälische NSDAP-Elite als solche. Wer jedoch mehr über die Herrschaftspraxis der Kreisleiter im NS-Staat erfahren will, sollte zu den eingangs erwähnten Studien greifen.

Anmerkungen:
1 Roth, Claudia, Parteikreis und Kreisleiter der NSDAP unter besonderer Berücksichtigung Bayerns, München 1997; Arbogast, Christine, Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP. Funktion, Sozialprofil und Lebenswege einer regionalen NS-Elite, 1920-1960, München 1998.
2 Ruppert, Andreas; Riechert, Hansjörg, Herrschaft und Akzeptanz. Der Nationalsozialismus in Lippe während der Kriegsjahre. Analyse und Dokumentation, Opladen 1998.
3 Dazu - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - Stegmann, Dirk (Hg.), Der Landkreis Harburg 1918-1949. Gesellschaft und Politik in nationalsozialistischer Diktatur, Hamburg 1994, S. 403-420; die Beiträge von Susanne Schlösser, Sabine Schmidt, Hubert Roser und Manfred Koch, in: Kißener, Michael; Scholtyseck, Joachim (Hgg.), Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1998, S. 143-159; S. 361-403; S. 655-681; S. 805-826, sowie Meyer, Beate, “Goldfasane” und “Nazissen”. Die NSDAP im ehemals “roten” Stadtteil Hamburg-Eimsbüttel, Hamburg 2002, S. 53-72. Zum Sammelband von Kißener und Scholtyseck meine Rezension unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensio/buecher/2000/noar1100.htm>.
4 Königstein, Rolf, Alfred Dirr. NSDAP-Kreisleiter in Backnang. Ein Nationalsozialist und die bürgerliche Gesellschaft, Backnang 1999.
5 Glade, Felicitas, Ernst Bamberger - Wilhelm Hamkens. Eine Freundschaft in Mittelholstein unter dem NS-Regime, Rendsburg 2000. Hamkens war von 1933-1935 Landrat und Kreisleiter der NSDAP in Rendsburg, von 1938-1943 dann Regierungspräsident von Schleswig.
6 Sebastian Lehmann (Kiel) bereitet eine Kollektivbiografie der schleswig-holsteinischen Kreisleiter vor. Erste Ergebnisse seines Projektes finden sich in: Lehmann, Sebastian, Kreisleiter der NSDAP in Schleswig-Holstein. Möglichkeiten eines sammelbiografischen Ansatzes, in: Pohl, Karl-Heinrich; Ruck, Michael (Hgg.), Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 147-156.
7 Zu den Ortsgruppen jetzt die grundlegende Studie von Reibel, Carl-Wilhelm, Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen 1932-1945, Paderborn 2002.
8 Stelbrink, Wolfgang, Der preußische Landrat im Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Personal- und Verwaltungspolitik auf Landkreisebene, Münster 1998.
9 Er knüpft damit an die Studie von Klefisch, Peter (Bearb.), Die Kreisleiter der NSDAP in den Gauen Köln-Aachen, Düsseldorf und Essen, Düsseldorf 2000, an, einem Hilfsmittel für die Archivarbeit.

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