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Titel
Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten


Autor(en)
Diner, Dan
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Pelger, Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, Gerhard-Mercator-Universität-Gesamthochschule Duisburg

Der Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs ist zu einer zentralen Themenstellung in den Kultur- und Geisteswissenschaften avanciert. Vor allem durch die Wiederentdeckung und Weiterführung der Theorien und Thesen des Soziologen Maurice Halbwachs hielten ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘ als Ausdruck kollektiver Erfahrung in den letzten zwei Jahrzehnten auch in den Geschichtswissenschaften zunehmend Einzug. Kollektives, kulturelles, kommunikatives und soziales Gedächtnis sind, mit mehr oder weniger gelungenen Definitionsversuchen, mittlerweile fester Bestandteil historischer Forschung. Dabei steht die Dissoziierung von Geschichtsschreibung und kollektivem Gedenken im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – sei es, dass an Erinnerungsorten der Grenzbereich der sich eigentlich ausschließenden Opponenten ‚Histoire‘ und ‚Mémoire‘ historisch erforscht wird; sei es, dass Versuche unternommen werden, ‚Gedächtnis‘ und ‚Geschichte’ in historischer Erzählung zusammenzuführen.1 Beide Varianten verbindet eine berechtigte Überlegung: „Die Geschichte beginnt im allgemeinen erst an dem Punkt, wo die Tradition aufhört und sich das soziale Gedächtnis auflöst.“2

Dan Diner stellt hingegen dem vorliegenden Sammelband von fünfzehn – zuvor einzeln veröffentlichten – Beiträgen eine metatheoretische, inhärent historiographiegeschichtliche Beobachtung voran. „In den Geschichtswissenschaften“ selbst „scheint gegenwärtig ein Paradigmenwechsel anzustehen – der Wechsel von ‚Gesellschaft‘ zu ‚Gedächtnis‘“ (S. 7), der den Wandel von ‚Staat‘ zu ‚Gesellschaft‘ seit dem 19. Jahrhundert ablöst. Diese tiefgreifende Veränderung sei Ausdruck und zugleich Beleg für eine grundlegende Erkenntnisverschiebung in der Wahrnehmung von Vergangenheit(en). Denn mit ‚Gesellschaft‘ verabschiede sich auch der mit ihr verbundene Entwicklungsparameter eines linearen Zeit- und Geschichtsbegriffs. Stattdessen trete durch ‚Gedächtnis‘ eine „Vielfalt von Vergangenheiten“, eine „Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Zeiten“ (S. 8) zutage, die die modernen europäischen Erfahrungswelten zunächst als Kaleidoskop von Geschichten erscheinen lasse. Diese Fragmentierung könne allerdings durch „eine methodisch angeregte Rehabilitierung der Vormoderne“ mit ihrer „ethnischen wie korporatistisch-institutionellen Vielfalt“ (S. 14), jenseits separierender Nationalstaatlichkeiten, zu einer „dringlich werdenden integrierten europäischen Geschichte“ (S. 12) beitragen. Der Geschichte der Juden misst Dan Diner beim Paradigmenwechsel von ‚Gesellschaft‘ zu ‚Gedächtnis‘ insofern eine seismographische Bedeutung bei, als durch ihren transnationalen, transterritorialen und mobilen Charakter proto- und postmoderne Elemente wegweisend zum Tragen kommen und sie dadurch zugleich aus ihrem „Nischendasein einer Spezialgeschichte mit geringem Erkenntniswert“ (S. 12) befreit würde. Er ‚konzentriert‘ die Perspektiven seiner verschiedenen und vielseitigen Betrachtungen über jüdische und andere Geschichten um zwei parallele Achsen. Der Holocaust erhält eine zentrale temporale Bedeutung hinsichtlich der „Zerstörung von als anthropologisch erachteten gesellschaftlichen Grundannahmen“ (S. 14) und der Infragestellung des historischen Fortschrittgedankens. Die zweite, geografische Achse verankert Diner im Übergang von ‚Okzident‘ und ‚Orient‘.

Diner, Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig und Professor für Geschichte an der Hebrew University Jerusalem, scheint, wie sein imaginärer Erzähler im ersten Beitrag, im Transitraum zwischen ‚West’ und ‚Ost’ auf der traditionsreichen Treppe von Odessa zu stehen. Von dort aus gelingt es ihm, die angrenzenden Räume zu überblicken und mit archäologischem Geschick historische Zeitschichten zu ergründen. Den Schwerpunkt seiner Reflexionen legt Diner auf die historischen Lebenswelten Mittel- und Osteuropas und des Vorderen Orients innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte. Wenn er sich über diese topografischen und zeitlichen Grenzen in einigen Beiträgen hinausbewegt, geschieht dies zugunsten einer Untermauerung, Erklärung und Weiterführung der jeweiligen zeitgenössischen Perspektiven. Mit einem geschärften Blick für die umfassende Bedeutung nationalstaatlicher Transformation und ihrer weitreichenden ethnisierenden Auswirkungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert erzählt Diner seine Geschichte(n) Europas konzentrisch von der Peripherie her.

Der ‚Orientalischen Frage‘ schenkt Diner besondere Aufmerksamkeit. Was als regionaler Konflikt zwischen Osmanischem Reich und Russland begann, sollte vom Krimkrieg (1853–1856) über den Frieden von Lausanne (1923) zu einem Messen der Weltmächte im „Entlastungsraum“ (S. 33) Balkan und Vorderer Orient werden – ein Dauerkonflikt, der sich schließlich im amerikanisch-sowjetischen Dualismus entlud und zugleich den „Verfall der multiethnisch und multinational komponierten sowie dynastisch legitimierten imperialen Gemeinwesen der Vielvölkerreiche für den ethnographischen Status quo nach sich zog“ (S. 35). Dem Jahr 1989 kam innerhalb dieser tradierten Konfliktmuster besondere Bedeutung zu, da spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges national-ethnische Tendenzen zur Wiederkehr von Konflikten aus längst vergangenen Zeiten führten.

Diner blickt zunächst aus politikhistorischer Perspektive auf „Räume und Zeiten“ der europäischen Moderne und wendet sich in den folgenden Beiträgen über „Ethnos und Demos“ und „Jüdische Geschichten“ der „Neutralisierung der Religion als Konfession“ (S. 67) zu. Erschwere bis heute die „dem Islam eingeschriebene Einheit von Religion und Staat“ eine „Protestantisierung“ der Muslime „im Sinne einer Angleichung an die konfessionellen Formen des Westens“ (S. 68f.), so brachte das Streben nach Gleichstellung und Bürgerrechten eine „jüdische Diplomatie“ zutage, die „jüdische Gemeinschaften unterschiedlichen Grades von Emanzipation, kulturellem Selbstverständnis wie religiösem Ritus überhaupt erst“ in ‚West‘ und ‚Ost‘ zusammenführte (S. 113). Die Verpflichtung westeuropäischer Juden, sich gegen die Unterdrückung und Verfolgung ihrer Glaubensgenossen in Damaskus (1840) und in Rumänien (seit 1866) einzusetzen, habe nicht nur vom Zusammenbruch der Vielvölkerreiche und dem Mächtespiel internationaler Politik abgehangen, sondern konstituierte bereits in der zeitgenössischen Wahrnehmung ein neues jüdisches Kollektiv und die Renaissance des „jüdischen Volkes“. Doch während sich für westliche Juden unter Berücksichtigung verschiedener staatsbürgerlicher Zugehörigkeiten mit dem Kollektivbegriff ‚Judentum‘ ein national-kulturelles Selbstverständnis verband, verstärkte sich in Osteuropa andererseits „das Bewusstsein einer jüdischen Nationalität als einer Nationalität unter anderen Nationalitäten“. Bereits vor dem Holocaust postulierte der „jüdische Nationalhistoriker“ Simon Dubnow aus Weißrussland in seiner „Weltgeschichte des jüdischen Volkes“ ein jüdisches Volksbewusstsein „jenseits aller Staatlichkeit und Territorialität“, das „die Geschichte von Juden [...] zu einer jüdischen Geschichte“ verwandeln sollte (S. 127).

In den beiden letzten Themenabschnitten „Gestaute Zeit“ und „Zeitmetaphern“ widmet sich Diner historischen Konstellationen und Handlungsmustern während und nach der Shoa. Am Beispiel der „Judenräte“ und ihrer Strategie der „widerständigen Anpassung“ ergründet er eine ethische Notlage, die nur ein System wie der Nationalsozialismus erzwingen konnte. Das Fatale dieser Grenzsituation lag schließlich darin, dass die „Judenräte“ in ihrer Strategie „weiterhin auf die Geltung des Selbsterhaltungsinteresses der Nazis sannen“, um damit „auf ein von ihnen vorausgesetztes traditionelles Böses wie schrankenlosen materiellen Egoismus und Triebbefriedigung“ reagieren zu können. Aber selbst diese äußerste Grenze utilitaristischen Handelns sei von den Nazis durchbrochen worden, indem ihr Morden „gegenrational“ motiviert war und jenseits des Vorstellbaren lag (S. 150f.). Begründete der Faschismus sein Handeln zunächst auf einer „zwecksetzenden Vernunft“ absoluter „Selbsterhaltung“, so dominierte im Nationalsozialismus letztendlich eine „Vernunft, in der Vernunft selber als Unvernunft sich enthüllt“ (Max Horkheimer).

Die europäischen Erfahrungen der Nationalisierung des jüdischen Volkes und die Katastrophe der Vernichtung spiegeln sich im „Hiatus“ des kollektiven Selbstverständnisses Israels – „zwar von Europa, nicht aber in Europa zu sein“ – bis heute wieder. Am Beispiel der ‚Neuen Historiker’ in der israelischen Geschichtsschreibung erläutert Diner den „Dualismus innerjüdischer Emanzipations- und Identifikationsgeschichte“ (S. 216). Die jungen Historiker seien weniger „Pioniere einer neuen Historiographie“ (S. 227), sondern „die eigentliche Differenz zwischen alter und neuer Geschichtsschreibung dürfte methodisch jedenfalls dort auszumachen sein, wo sich die teleologisch zionisierende Erzählstruktur über die eher kontingent zu erzählende Historie ideologisch aufspreizt“ (S. 212). Die zionistische Geschichtsschreibung versuche in einem negativ-teleologischen Geschichtsdenken die Gründung des Staates Israel ideologisch zu legitimieren und dabei in der Tradition der Juden Osteuropas eine ‚jüdische Geschichte’ des nationalen Kollektivs zu betrachten. Dem gegenüber setze die neue Historiographie mit einem „eher offenen Geschichtsbild kumulativer Kontingenz“ (S. 205) und „shoazentrischer“ Interpretation das Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung und finde dabei Anschluss an die ursprünglich westeuropäische „Geschichte von Juden“. Die (neue) kontingente Geschichtsdeutung könne das israelische kollektive Gedächtnis insofern entlasten, als „die Nachgeborenen aus einem kognitiven Zwangsgehäuse auf der Suche nach einer scheinbar konsistent begründeten Legitimität kollektiver Existenz“ befreit würden (S. 226).

In diesem geistreichen Sammelband finden sich Themen und Deutungen, die Bekanntes aufgreifen und Neues hinzufügen. Beachtenswert ist vor allem die den Aufsätzen vorangestellte These des Paradigmenwechsels von ‚Gesellschaft‘ zu ‚Gedächtnis‘ innerhalb der Geschichtsschreibung. Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs sowie Zeit- und Geschichtsbewusstsein spielen in den Einzelbeiträgen durchgehend eine zentrale Rolle, doch das Paradigmatische des postulierten Wandels bleibt in den Einzelbeiträgen leider unbestimmt. Gerade in Bezug auf die Vereinigten Staaten, „als das Land der Zukunft“ (S. 75ff.), werden im Buch vereinzelt teleologische Interpretationen transportiert, die mit der eingangs formulierten Absage an einen historischen Fortschrittsgedanken manchmal schwer in Einklang zu bringen sind. Daher bleibt zu diskutieren, inwieweit Geschichtsschreibung überhaupt in ‚Erinnerung’ transformiert werden kann, d.h. ob es sich bei ‚Historie’ und ‚Gedächtnis’ nicht eher um zwei verschiedene Konzepte handelt, die erst durch die Person des Historikers synthetisiert werden. Dem Geschichtsschreiber würde dabei – zwischen ‚Historiographie’ und ‚Gedächtnis‘ – zentrale Bedeutung zukommen, insofern er biografisch durch kollektive Erinnerung beeinflusst ist und mit seinen historischen Deutungsmustern zugleich auf das Kollektiv wirkt. Im Rahmen solcher Überlegungen wäre eine Ansicht nahe liegender, die Diner selbst noch vor wenigen Jahren formuliert hat: „Der Konstruktion von Historie gehen Geschichtsbilder voraus, die auf unterschiedlichen Konstellationen von Erfahrung beruhen. Die Erfahrungskontexte wiederum führen ganz ohne Absicht in eine Vorauswahl dessen, was sich mittels Gedächtnis in Geschichte verwandelt – vom thematischen Gegenstand bis hin zur historischen Methode. Auch einer universellen Ansprüchen verpflichteten Historie bleiben jene partikularen Anteile kollektiven Gedächtnisses meist verstellt.“3

Anmerkungen:
1 Gute Einblicke in diese Thematik bietet Welzer, Harald (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001.
2 Halbwachs, Maurice, Das kollektive Gedächtnis [1950], Frankfurt am Main 1985, S. 103.
3 Diner, Dan, Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin 1995, S. 9.

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