Titel
Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena


Autor(en)
Werner, Meike G.
Erschienen
Göttingen 2003: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Neumann, Ditzingen

Nach einigen Arbeiten zur Verlagsgeschichte Jenas im Allgemeinen und zu Eugen Diederichs im Besonderen legt Meike Werner nun eine umfassende Darstellung der regionalen Besonderheit von „Moderne in der Provinz“ vor. Allerdings handelt es sich nicht um eine Gesamtdarstellung, sondern, wie der Untertitel „Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena“ beschreibt, um einen Blick auf das Flair der Moderne in einer thüringischen Provinzstadt um das Jahr 1900. Einleitend das Grundsätzliche: Was bedeuten Moderne und Provinz und wie verhält sich beides in Jena um das Jahr 1900 zueinander. Werner negiert bzw. relativiert die These, dass die Moderne in der Großstadt beheimatet war, und versucht anhand ausgewählter Personen und Themen die These von der „Moderne in der Provinz“ zu stützen. Der Inhalt ist kurz skizziert:

„Im Zentrum der Arbeit stehen drei Aspekte des ‚Modernen Jena’. Der Kulturverlag von Eugen Diederichs, der 1904 mit Bedacht seinen acht Jahre zuvor in Florenz und Leipzig gegründeten Verlag an den Ursprungsort des deutschen Idealismus und der Frühromantik verlegte, der freistudentische Serakreis, mit dessen Konzept und experimenteller Praxis moderner Lebensführung sich die Namen junger Intellektueller wie Rudolf Carnap, Wilhelm Flitner, Hans Freyer, Karl Korsch und Franz Roh verbinden, sowie Leben und literarisches Schaffen der Dichterin Helene Voigt-Diederichs, deren heimatbezogene Dichtung sich mit dem literarischen Programm der ‚Los von Berlin’-Bewegung in Verbindung bringen läßt. Zentrale Themen der Moderne werden aus Jenaer Perspektive in den Blick genommen: die Emanzipation der Frauen, der Aufbruch der Jugend und das unter den Intellektuellen heftig debattierte, facettenreiche ‚Problem der Kultur’.“ (S. 20)

Das Buch ist den „Cultural Studies“ verpflichtet im Sinne „der Überschreitung eng gezogener disziplinärer Grenzen“ (S. 21). Es werden die Ansätze fortgeführt, die die These von der „Moderne in der Provinz“ stützen. Dabei wird vor allem darauf Wert gelegt, dass keine voreilige Bewertung und Klassifizierung vorgenommen wird, die die Entscheidung, ob Moderne nun in der Provinz wirklich stattgefunden hat, vorwegnähme. Damit gehört die Studie von Werner zu einer Reihe jüngerer Veröffentlichungen, die sich nicht mit der Polarisation von Stadt und Provinz, Moderne und Antimoderne, Regression und Reform zufrieden geben. Der Blick ruht eher auf den Ambivalenzen, Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten. Das Interesse gilt den Verschiebungen und Brüchen. Hier unterscheidet sich die Perspektive maßgeblich von den schon in den letzten Jahren zur ‚Kulturgeschichte’ Jenas vorgelegten Arbeiten.1 Denn es ist vor allem die Differenziertheit, die die Reform- und Kulturbewegungen um 1900 auszeichnete - und dies nicht nur in der thüringischen Provinzstadt Jena.

Nach einem rahmensetzenden Prolog („Moderne in der Provinz“, S. 9-25) liefert Meike Werner eine treffende Skizze, die das kulturelle Spannungsfeld „Jena“ um das Jahr 1900 beschreibt („Die Bühne: oder der Genius loci“, S. 27-62). Danach bettet sie die nicht in der Monografie weitergeführten Entwicklungslinien (Universität, Arbeitsreformen von Ernst Abbe, Zeiss-Werke, Philosophie usw.) in den Rahmen der Darstellung ein. Und gerade dort wünscht man sich, dass Werner vielleicht doch eine Kulturgeschichte von Jena um 1900 in Angriff genommen hätte. Material, Kenntnisse und Methode sind vorhanden und würden sich wohl aufs Beste zusammenfügen.

Die Einschränkung des Untersuchungszeitraums, der mit dem Jahr 1914 endet, gereicht der Studie durchaus zum Nutzen. Zwar gibt es Modernisierungsschübe nach 1914 natürlich auch noch in der Provinz, nur sind sie allzu oft mit antimodernistischen Elementen verbunden. Nach 1913/14 bzw. 1918 liefert Jena bzw. Thüringen nicht unbedingt das, was man ein Experimentierfeld der Moderne nennen könnte. Gerade Thüringen war eher den antimodernen Entwicklungslinien der Republik verpflichtet.2

Es ist vor allem das fünfte Kapitel „Tanz auf dem Vulkan: das ‚Junge Jena’“, das für den Leser und die Wissenschaft eine Vielzahl von interessantem und neuem Quellenmaterial präsentiert. Der „Aufbruch der (akademischen) Jugend“, ihre Organisationsformen (Jenaer Freistudentenschaft), ihre Programme, der „Kulturkampf“ bis hin zur „nationalen Frage“ - wie verhält es sich mit „Juden und Ausländern“, wie stellt man sich zur „Frauenfrage“ - werden im Kontext reformerischer Lebensentwürfe auf ihre Relevanz für die „Moderne in der Provinz“ untersucht. Und gerade hier wird dann auch der Bezug zu der im „Quellen- und Literaturverzeichnis“ wiedergegebenen Liste der „Ungedruckten Quellen“ (S. 327f.) deutlich. Viele Nachlässe und Quellensammlungen zu und von den involvierten Personen und Institutionen konnten ausgewertet werden. Dokumente wurden zu Tage befördert, die an anderer Stelle offensichtlich übersehen oder vernachlässigt wurden und hier neue, differenziertere Blicke auf schon bekannte und unbekannte Sachverhalte erlauben.

Besonders hervorzuheben ist der letzte Abschnitt der Monografie. In dem Epilog gibt Werner darüber Auskunft, was aus den vorgestellten Programmen, Ideen und Plänen nach 1914 wurde und wie die Entwicklung der Protagonisten der Monografie sich fortsetzte nach dem eigentlichen Untersuchungszeitraum. Wie es bei all den innovativen Kräften, die sich in dem Spannungsfeld Eugen Diederich, Helene Voigt-Diederichs und Serakreis sammelten trotzdem zu einer letztendlich antimodernen, in den Zwanziger- und Dreißigerjahren immer mehr rechtskonservativen Haltung kommen konnte, darauf verweist die Zusammenfassung des Programms des Eugen Diederichs Verlags und der dort vertretenen Themengebiete.

Denn das, was bei der vorliegenden Monografie maßgeblich die Darstellung mitbestimmt, Differenziertheit in der Betrachtung und Detailtreue bei der Materialsichtung, genau das war es, was Diederichs nicht vorschwebte, wenn er sich neuen Gebieten zuwandte: „So verlegte Diederichs in der Reihe „Religiöse Stimmen der Völker“ die Urkunden fremder Religionen in Übersetzung, reduzierte dann aber ihre Fremdheit auf eine Reihe charakteristischer Attribute wie „wahre geistige Kultur“ oder „Sinn des Lebens.“ Sein Jenaer Deutungsmuster folgte diesen Prinzipien. Die Antike stand für Einheitlichkeit und Charakterbildung, die Mystik für religiöses Erleben, die Renaissance für ungebremsten Individualismus, „Thule“ für unkontaminiertes Germanentum, die Romantik für die deutsch-überlegene Rückbindung an die volklichen Traditionen Europas und der Welt in Kunst und Religion.“ (S. 312)

Einige Punkte seien dennoch kritisch angemerkt. Der argumentativ ungünstigste Aspekt des Buches ist sicher die Bemühung von Helene Voigt-Diederichs als Vertreterin der „Moderne“. Zwar gelingt Werner auch hier eine differenzierte Darstellung und Einbettung in den kulturhistorischen Kontext, doch hätte man sich für die „Moderne in der Provinz“ eine innovativere Literaturproduzentin gewünscht, die mit ihrem literarischen Werk eher als „Vertreterin der Moderne“ bezeichnet werden könnte. So ist es nur noch möglich, da ihr Werk weit in die Tiefen des 19. Jahrhunderts führt, ihren Lebensstil und ihre Biografie als modern zu begreifen und für die „Moderne“ zu beschlagnahmen. Ob es sich allerdings bei den unkonventionellen Entwicklungen bei Voigt-Diederichs - sie ließ sich 1911 von Eugen Diederichs scheiden - um eine emanzipatorische Lebensführung oder nur um eine Fluchtbewegung aus der Provinz handelt, bleibt offen. Auch hätte man sich weitere Erläuterungen über den verwendeten Kulturbegriff und seine Differenzen zu den Auffassungen Diederichs, die allerorten in dieser Monografie präsent sind, gewünscht. „Insofern fußte sein [Eugen Diederichs] Begriff von Kultur ähnlich dem von Matthew Arnold auf der Gegenüberstellung zur Anarchie. Danach war Kultur eine lebendige Struktur, die ordnet.“ (S. 312) Diese Kritikpunkte bleiben aber hinter den gewinnbringenden Aspekten der Monografie weit zurück.

Werners Monografie ist eine unverzichtbare Lektüre für Kulturwissenschaftler und ganz nebenbei noch eine hervorragende (Vor-)Studie für eine Kulturgeschichte Jenas um 1900. Was am Ende der Monografie steht - neben dem differenzierten Blick auf eine kulturell vielschichtige „Szene“ -, ist die Forderung nach einer Fortsetzung, nach einer umfassenden Kulturgeschichte Jenas, die den Verbindungen nachgeht, die etwa das Wirken Diederichs über das Jahr 1914 hinaus in Jena ausgelöst hat. Genügend Fragen bleiben offen. Nimmt man das Motto des Verlagsalmanachs des Diederichs Verlags von 1927 als Aufforderung - „Die geistigen Aufgaben von heute/morgen und übermorgen“ 3 -, wird man zu noch umfassenderen Fragestellungen gelangen. Trotz der offenen Fragen und einiger oberflächlich lektorierter Abschnitte ist der Monografie eine zahlreiche Leserschaft zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. John, Jürgen (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Weimar 1994; ders.; Wahl, Volker (Hgg.), Zwischen Konvention und Avantgarde. Doppelstadt Jena – Weimar, Weimar 1995; Hübinger, Gangolf, Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen-Diederichs-Verlag - Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996; Heidler, Irmgard, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896-1930), Wiesbaden 1998.
2 Vgl. Heiden, Detlev; Mai, Gunther (Hgg.), Nationalsozialismus in Thüringen, Wien 1995; Bialas, Wolfgang; Stenzel, Burkhard (Hgg.), Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz, Wien 1996; Ehrlich, Lothar; John, Jürgen (Hgg.), Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur, Wien 1998.
3 [Die geistigen Aufgaben von heute/morgen und übermorgen] Bindung in Blut und Boden. Die letzten Verlags-Erscheinungen in Gruppen, Jena 1927.

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