A. Schulz u.a. (Hgg.): Generationswechsel

Cover
Titel
Generationswechsel und historischer Wandel.


Herausgeber
Schulz, Andreas; Grebner, Gundula
Reihe
Historische Zeitschrift Beihefte 36
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VII, 148 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Schalenberg, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Wenn nichts so beständig ist wie der Wandel, dann müssten sich die „Generationen“ den Historikern geradezu aufdrängen. Und in der Tat wachsen, parallel zu popsoziologischer Belletristik, die Bemühungen, sie als analytisches Instrumentarium einzuhegen.1 Indes stellen sich vorab eine Reihe grundsätzlicher Fragen: Sind Generationen biologische Tatsachen oder soziokulturelle Konstrukte? Resultiert ihre – zunächst mehr unterstellte – kohäsive Kraft aus prägenden Strukturen oder einschneidenden Ereignissen? Aus stetig gewachsenen Überzeugungen oder aus der Erschütterung derselben? Ist es notwendigerweise die Adoleszenzzeit, an der sich Generationen festmachen? Und, vielleicht die wichtigste Vorverständigung: Wurden sie zeitgenössisch als solche perzipiert und „erlebt“ oder erst ex post konstruiert? Der vorliegende Band spielt derartige Fragen anhand von sechs Fallstudien sowie einer gedanken- und aufschlussreichen Einführung der beiden in Frankfurt am Main tätigen Herausgeber durch. Dass die Beiträge transnational und transepochal ein beträchtliches Terrain abschreiten (von Bologna um 1100 bis nach Kenia um 1950), offenbart das Potenzial des Generationen-Konzepts, auch wenn im Ergebnis die Unbefangenheit es anzuwenden wohl eher geschwächt wird. Die Spezifik jedes einzelnen Gegenstandes und seiner methodischen Erschließung machen sich jedenfalls deutlich bemerkbar. Die Beiträge beruhen im Übrigen mit einer Ausnahme nicht auf eigens für den Band - bzw. für die Sektion des Aachener Historikertags (am 28.9.2000), aus der er hervorgegangen ist - betriebenen Forschungen, sondern auf früheren, im Rahmen von Qualifikationsarbeiten und eines SFB-Teilprojekts vollzogenen Recherchen.

In ihrer historiographie- bzw. wissenschaftsgeschichtlich akzentuierten Einführung „Generation und Geschichte. Zur Renaissance eines umstrittenen Forschungskonzepts“ (S. 1-23) plädieren Andreas Schulz und Gundula Grebner dafür, Karl Mannheim und dessen grundlegenden Aufsatz von 1928 2 zu historisieren, aber auch auf ihm aufzubauen. So lehnen sie etwa eine allzu weitgehende „kulturalistische Auflösung“ der bei dem deutsch-ungarischen Gelehrten durchaus als soziale Tatsache verstandenen „Generationseinheit“ ab. Die Thematisierung generationeller Abfolgen und Oppositionen hätte gerade in den 1920er Jahren höchste Aktualität und politische wie ideologische Implikationen besessen – ein Befund, der in Werner Kurzlechners Beitrag (S. 121-147) dann noch einmal vertieft wird. Das „Sachliche“ und „Stahlharte“ hatte somit zeitgenössisch in einer geradezu nomothetischen Aufladung des Generationenbegriffs sein wissenschaftliches Korrelat, etwa in Sprangers „Psychologie des Jugendalters“. Von einer vorschnellen Ineinssetzung von Erlebnisgenerationen und Handlungsoptionen distanzieren sich Schulz und Grebner freilich ebenso ausdrücklich wie von dem - vermutlich ohnehin zum Scheitern verurteilten – Versuch, eine letztgültige Definition von „Generation“ zu geben. Stattdessen benennen sie mit Blick auf die folgenden Aufsätze und mit einiger Vorsicht vier allgemeinere, für die Selbstdefinition von Generationen zentrale Faktoren: eine Wende zur Sachlichkeit und Realpolitik, einen zumindest rhetorisch eingeklagten Übergang zu nationaler Politik, eine ausgeprägte „Alt-Neu-Terminologie“ sowie Freundschaftsbekundungen zwischen den etwa Gleichaltrigen. Mit ihrem Verweis auf den „in aller Regel synthetische[n] Charakter von Generationsdeutungen“ durch „sinngebende[s] Erinnern als affektive[n] Akt der Vergemeinschaftung“ (S. 22) geben sich die Herausgeber schließlich als gemäßigte Konstruktionisten zu erkennen.

Gundula Grebners methodisch reflektierter, anregender Beitrag zu Bologneser Notaren vom 11. zum 12. Jahrhundert (S. 25-41), der auf der 1999 abgeschlossenen Frankfurter Dissertation der Verfasserin basiert, präsentiert philologische bzw. sprachgeschichtliche Befunde und bindet sie an rechts- und sozialhistorische Phänomene zurück. Die ästhetischen, deskriptiven und rechtsrelevanten Elemente der von ihr ausgewerteten Urkunden fasst sie als „notarielle Kultur“ zusammen. Diese sieht sie um 1100 und um 1130 in einem grundlegendem Wandel begriffen, welcher etwa zur Begründung der Kommune und des Studium in Bologna führte und der durch sich ablösende Generationszusammenhänge bedingt gewesen sei: „Generationen bringen Innovationen auf den Weg und rhythmisieren ihre Verbreitung. Sie halten Wissen für die Dauer der eigenen Aktivitätsphase stabil, danach wird es wieder zur Disposition gestellt.“ (S. 41)

Stefan Brakensiek kann aus dem reichen Fundus seiner 1999 publizierten Habilitationsschrift zu hessischen Beamten der „Sattelzeit“ schöpfen, um die Valenz von „Generationen“ zu überprüfen (S. 43-55). Er unterteilt die von ihm betrachteten Geburtsjahrgänge zwischen 1690 und 1806 in sechs Gruppen, wobei er insbesondere auf die beruflichen Aufstiegchancen und das – damit zusammenhängende – Heiratsverhalten unter den sich wandelnden politischen und administrativen Rahmenbedingungen als Indikatoren eingeht. Trotz oder gerade wegen der breiten empirischen Basis seiner Untersuchung äußert Brakensiek aber eher Skepsis gegenüber „Generation“ als alleinigem oder auch nur wichtigstem Erklärungsansatz.

Zu einem ähnlichen Schluss gelangt Heinrich Best in seinem Beitrag zur „Formierung politischer Generationen im Deutschland des 19. Jahrhunderts“ (S. 57-69), der in Datenmaterial und Thesen auf die 1990 vom Autor vorgelegte Untersuchung „Die Männer von Bildung und Besitz“ rekurriert, namentlich die Prosopographie des Paulskirchenparlaments, eher die Region als konstitutiven Faktor politischer Erfahrung(smöglichkeit)en einschätzt und die Möglichkeit heterogener Lebensbedingungen innerhalb einer Generation betont. Leider werden den oft etwas geschraubten Formulierungen keine Diagramme oder Tabellen beigegeben, so dass das im Text Ausgeführte bisweilen etwas unvermittelt und abstrakt daherkommt (als Beispiel: „Neben einem überwiegenden Einfluß lebenszyklischer Prozesse auf die Strukturierung des Grundmusters der Kohortendifferenzierung sind auch im Fall kryptopolitischen Handelns vereinzelt Kohorteneffekte erkennbar“, S. 64).

Frank Möller wendet sich mit dem Umbruch nach 1848 einem geradezu klassisch zu nennenden Generationswechsel zu („Vom revolutionären Idealismus zur Realpolitik, S. 71-91), den er, geschickt mit dem Vier-Augen-Gespräch Bismarcks mit dem 16 Jahre älteren Heinrich von Gagern im Jahre 1850 beginnend, vor allem anhand der semantisch-diskursiven Hinwendung zu einem „realpolitischen“ Vokabular nachzeichnet. Bei den zwischen 1810 und 1820 geborenen Politikern sei die Bereitschaft, sich auf diese neue, nüchtern-pragmatische Sprache einzulassen, ungeachtet der Parteizugehörigkeit und auch einer weitgehenden Kontinuität in den (national-)politischen Zielen, ein einendes Moment gewesen, mit dem sie sich von der vorhergehenden Generation nachdrücklich unterschieden habe. Möller illustriert diese These insbesondere an den retrospektiven Deutungen der Befreiungskriege, deren romantisierende Mythisierung für die jüngere Generation schlichtweg inakzeptabel gewesen sei.

Sodann weitet Winfried Speitkamp den Blick auf „Politische Jugendbewegungen im kolonialen Kenia“ (S. 93-120), mit einem Schwerpunkt auf den 1920er und 1950er Jahren. Es stünde außerhalb der Kompetenz des Rezensenten, die Ausführungen inhaltlich zu bewerten, doch scheinen die vom Autor ohnehin in den Vordergrund gerückten methodischen Aspekte interessant genug, um Möglichkeiten und Grenzen von „Generationen“ als historischem Erklärungsansatz auszuloten. Speitkamp möchte ihn nutzen, verweist aber zugleich darauf, „daß auch Generationen auf erfundenen oder zumindest gewählten Traditionen beruhen“ (S. 119), was unter anderem in der strategischen Namensneugebung bei politischen Führern zum Tragen kommt. Das andere Verständnis von Altershierarchien und Geschichte insgesamt führe zu einem für europäische Betrachter zunächst ungewohntem Generationskonzept in Kenia, das aber gerade durch Kolonisation und den Kontakt junger Keniaten zu europäischen Bildungsgütern nicht einfach dichotomisch zu sehen sei.

Abgeschlossen wird der Band mit dem zusätzlich aufgenommenen, offenbar nicht auf der Grundlage von Primärquellen verfassten, aber nichtsdestoweniger gut geschriebenen und argumentierenden Beitrag von Werner Kurzlechner „Die Gestapo-Elite als Generationseinheit: Eine biographische Analyse der politischen Sozialisation Himmlers, Heydrichs und Bests“ (S. 121-147). Die drei NS-Größen gehörten zur „Generation der Sachlichkeit“, geboren zwischen 1900 und 1910, die den Krieg und zumal die deutsche Niederlage zwar bewusst miterlebten, ohne jedoch an der Front zu kämpfen – im Gegensatz zu der Jugendbewegung der Vorkriegszeit, der nach einer Prägung durch „Wandervogel“ und andere neuromantisch-idealistische Gruppierungen nolens volens das „Fronterlebnis“ zuteil wurde. Im Unterschied zu einigen der vorangehenden Beiträgern sieht der Autor bei den durch unbedingte Staatstreue, Kollektivismus und emotionale Kälte geprägten werdenden Nationalsozialisten bereits zeitgenössisch ein Bewusstsein generationeller Zusammengehörigkeit am Werk.

Man wird von einem derart vielschichtigen und aspektreichen Sammelband nicht erwarten, den Wert des Generationskonzepts für historische Forschungen ex cathedra festzulegen. Die mehrheitlich lesenswerten Beiträge verdeutlichen, dass bei jedem Gegenstand zu viele weitere Kontextparameter zu berücksichtigen sind. So erhärtet sich der Eindruck, dass „Generationen“ nicht zwingenderweise der Motor historischen Wandels sind, dass sie aber doch einen bedeutenden Faktor bei Gruppenzusammenschlüssen politischer, professioneller oder ideologischer Art und den ihnen zugrunde liegenden Diskursen und Dispositionen darstellen. Generationen drängen sich nicht auf, aber sie sollten Historiker weiterhin beschäftigen.

Anmerkungen:
1 Vgl. zuletzt den Tagungsbericht von Christoph Cornelißen über die vom Hamburger Institut für Sozialforschung im Juni 2003 ausgerichtete Konferenz „Generationen“ (gepostet von H-Soz-u-Kult am 7.7.2003).
2 Mannhein, Karl, Das Problem der Generation, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7/2 (1928), S. 157-185.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension