M. Halbwachs: Stätten der Verkündigung

Cover
Titel
Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis


Autor(en)
Halbwachs, Maurice
Herausgeber
Egger, Stephan
Reihe
Edition discours 21
Erschienen
Konstanz 2003: UVK Verlag
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Laube, ETH Zürich

„Wir selbst sind im Spätherbst dort durchgekommen, als sich der arabische Aufruhr noch nicht gelegt hatte. Die englischen Soldaten, wie sie Kipling beschrieben hat, die gepanzerten Fahrzeuge, die Maschinengewehre, all dies stand so sehr im Gegensatz zu den frischen Farben der Palmen, den strahlend weißen, roten, grünen Stoffen, der fiebrigen, ein wenig spöttischen Lebendigkeit der Orientalen, die ständig und unaufhörlich Streitgespräche mit Andersgläubigen führten, selbst wenn sie ihre eigenen Volksgenossen waren.“ (S. 31) Mit spontanen Aktualisierungen muss man rechnen, wenn man Bücher der Erinnerungsforschung zur Hand nimmt. Der unbefangene und poetisch-essayistische Umgang mit weit auseinanderliegenden Zeitebenen gehört zu ihrem methodischen Rüstzeug. Eigentlich setzte sich Maurice Halbwachs in dem Kapitel, aus dem dieses Zitat stammt, mit einem frühen Pilgerbericht aus dem vierten Jahrhundert auseinander. Lücken, die er dort fand, wie der nicht berücksichtigte Wanderweg Jesu von Jerusalem nach Galiäa, füllte er sofort mit einer aktuellen, persönlichen Erfahrung, die der Soziologe genau an dieser Stelle wenige Jahre zuvor gemacht hatte. Halbwachs stellte sich damit selbst in die lange Reihe der Pilger in das Heilige Land und setzte sein eigenes Mosaiksteinchen in einen religiösen Erinnerungsrahmen, der sich in geografischer Kontinuität ausdrückt.

Das in Deutschland weitgehend unbekannte, schon 62 Jahre alte Werk „Topographie légendaire des Evangiles en Terre Sainte“ erscheint nun endlich auf Deutsch unter dem etwas frei übersetzten Titel „Stätten der Verkündigung im Heiligen Land“. Es ist der vorletzte Band einer auf sieben Bände angelegten, von Stephan Egger und Franz Schultheis herausgegebenen Werkausgabe „Maurice Halbwachs in der édition discours“ des Konstanzer Universitätsverlags, die in diesem Herbst ihren Abschluss findet. Dann wird auch dem deutschen Publikum deutlich werden, dass Halbwachs – 1877 geboren, als Schüler Durkheims u.a. Soziologieprofessor in Straßburg, 1945 im Konzentrationslager Buchenwald gestorben – ein reichhaltiges Werk hinterließ und dass dessen Schriften über Klassensoziologie, kollektive Psychologie und soziale Morphologie weit mehr umfassen, als die Entdeckung des kollektiven Gedächtnisses, auf die er in der heutigen kulturwissenschaftlichen Debatte reduziert wird. 1

Thema des vorliegenden Buches ist der historische Wandel der christlichen Überlieferung in einem bestimmten Raum. Halbwachs geht es um fixierte Orte, ob es sich nun um Mandelbäume handelt oder Felsbrocken, die in der Lage sind, die sonst allenfalls brüchige Stabilität einer Gruppe, welche sich mit deren Hilfe ihrer Herkunft versichert, zu festigen. Halbwachs sieht im kollektiven Gedächtnis nicht einfach einen Behälter oder Speicher, sondern ein von Gruppen und der Gegenwart abhängiges, von kollektiven Vorstellungen, Sehnsüchten und Wünschen geprägtes Konstrukt, dass sich – je nach historischem Kontext – wandelt. Ohne das Gruppengedächtnis wären die Pilgerstätten nichts als Steine geblieben. Dabei wird das Gedächtnis immer erst ex post rekonstruiert. Beim Thema des vorliegenden Buches handelt es sich dabei stets um das aktuelle Interesse eines zur Staatskirche aufgestiegenen Christentums.

Halbwachs bewegt sich in den Bahnen der „Leben-Jesu-Forschung“, wie sie von Ernest Renan und Gustaf Dalman geebnet worden sind. Aber Halbwachs interessiert sich für die in den Evangelien beschriebenen Tatorte erst in späterer Zeit, erst als seit dem 4. Jahrhundert die postevangelische Überlieferung einsetzt. In der Suche nach dem Ursprung des Gedenkens sieht Halbwachs keinen Sinn, da man sowieso nicht zu diesem Anfang gelangen könne. Auf was die Forscher dagegen permanent stoßen, seien Dinge, die den Erinnerungen angepasst sind. Was er begreifen kann, ist die an ihnen sich vollziehende Gedenkarbeit bestimmter Gruppen. Aus den Ritualen des kollektiven Gedenkens kommt man bei Betrachtung dieser Orte und Dinge also nicht heraus (S. 209). Die Frage, inwiefern Ereignisse der fernen Vergangenheit Authentizität beanspruchen können, wird erst gar nicht gestellt. Stattdessen steht auf der Grundlage zentraler Quellen wie Pilgerberichten und Baudenkmälern der Wandel von Traditionsbildungen am Beispiel der heiligen Stätten im Zentrum. Erinnerung ist nicht mit Wissenschaft gleichzusetzen. Bestimmte Auswahlmechanismen, willkürliche Fehler, identitätsstiftende Verstellungen und Irrtümer gehören dazu, um die Sache, um die es geht, besonders einprägsam zu machen. Die Mythen im Altertum ebenso wie die Stories um Film- und Fußballstars der Gegenwart sind formal nicht anders entstanden.

Ausgangspunkt von Halbwachs Überlegungen ist der älteste in einer Handschrift aus dem 9. Jahrhundert überlieferte Pilgerbericht aus dem Jahr 333, des so genannten „Pilgers von Bordeaux“, die im Jahre 1589 erstmals gedruckt werden sollte (S. 22-71). Sie ist deswegen von unschätzbarem Wert für den Erforscher des kollektiven Gedächtnisses, weil sie noch den Zustand vermitteln kann, bevor das Land mit christlichen Erinnerungen durch Kaiser Konstantin und dessen Mutter Helena systematisch überzogen wurde. Auffallend ist in diesem Bericht die große Anzahl von Orten aus dem Alten Testament – so sah der anonyme Pilger in Jerusalem vor allem Zeugnisse Salomons – während viele der gängigen Orte aus dem Neuen Testament fehlen, wie die Stadt Nazareth oder der See Genezareth. Immerhin hat der Pilger die von Kaiser Konstantin im Jahre 326 erbaute Geburtsbasilika in Bethlehem gesehen.

Die nächsten Kapitel bieten eine christliche Ortskunde vom frühen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit, beginnend mit „Bethlehem“ im zweiten Kapitel (S. 71-88) über „Abendmahlssaal und Davidsgrab“ (S. 88-101), „der Richtsaal des Pilatus (S. 101-109), „Nazareth“ (S. 134-142) bis zu „Der See Genezareth“ (S. 142-154). Die genaue Lektüre erweist sich als mühevolles Geschäft, da Halbwachs das Buch kaum illustriert hat. Das beigefügte Karten-und Bildmaterial ist vollkommen unzureichend. Zudem fragt man sich, warum Halbwachs die Ortsbeschreibungen nicht in eigenen Worten formuliert, sondern stattdessen immer wieder ausführliche Zitate einschlägiger Literatur wiedergibt (siehe z.B. durchgehend S. 73-80). Stilistisch wirkt das Buch eher unfertig.

Umso willkommener ist das mehr als sechzigseitige Schlusskapitel mit fazitartigen Überlegungen des Autors (S. 154-217). Das kollektive Denken bedarf zur eigenen Vergewisserung der Verdinglichung. Halbwachs´ These ist, dass erst die Materialisierung des Glaubens im Raum den religiösen Gruppen Standfestigkeit verleiht, dass erst diese Konkretisierung die abstrakte Lehre plausibel macht. „Damit den Erinnerungen an das Leben Christi und seinen Tod und an die Orte, an denen er gewesen war, Dauer beschieden sein konnte, mussten sie sich mit einer ganzen Lehre verbinden, mit einer Vorstellung, die eine ihrerseits feste und größere Gruppe beseelte. Damit eine solche abstrakte Vorstellung wie die der Vergebung von Sünden etwas anderes als bloße Sehnsucht blieb, damit man an sie als eine Art geschichtliche oder Erfahrungstatsache glaubte, musste sie sich auf eine lebendige Überlieferung, auf menschliche Zeugnisse berufen können.“ (S. 164) Zugleich war die Suche nach dem materiellen Halt selbst einem Wandel unterworfen. Stets hatte man es mit einer kollektiven Rekonstruktion einer schon menschlich geformten Vergangenheit zu tun. Die vermeintlichen Orte des Wirkens Jesu wurden zunehmend den Erinnerungsbedürfnissen eines immer größeren Kollektivs angepasst und hatten die Funktion, auf wesentliche Wahrheiten des Christentums hinzuweisen.

Während es den Verfassern der Evangelien noch darum ging, die neue Religion mit zentralen Orten des Judentums zu verknüpfen, führte die Konstantinische Zeit und die Kreuzzüge zu einer umfassenden, raumgreifenden Vergegenständlichung von evangelischen Erinnerungen im gesamten heiligen Land, ohne es mit den alten Überresten allzu genau zu nehmen. „Die ganze Umgebung (des Berges) ist bemerkenswert wegen der wundersamen Begebenheiten, die dort stattgefunden haben. Ich glaube, dass man sie an diesem Ort versammelt hat, um den Pilgern und auch ihren Führern lange Wege zu ersparen“ heißt es in einer Nachricht des Ritters von Arvieux, nachdem er im Jahre 1660 den Ölberg besucht hatte (S. 131). In Israel materialisierte sich damals mit Basiliken, Kapellen und Kirchen eine im europäischen Hochmittelalter beheimatete Projektion. Zugleich entstanden neue christliche Erinnerungsorte von der Kindheit Jesu, seiner Jugend, des Lebens und des Todes Marias, über die Mysterien des Kreuzes - die gesamte religiöse Ikonographie der Mittelalterkathedralen wurde im Heiligen Land bisweilen wie auf dem Reißbrett entworfen. Auch die „via dolorosa“ stellte ein Erinnerungskonstrukt der besonders um die Nachempfindung der Leiden Jesu besorgten Franziskaner aus dem späten Mittelalter dar. Pilger, die ein derartig möbliertes Heiliges Land besuchten, standen vor der Verarbeitung grandioser „déja vu-Erlebnisse“, die ihre Wunschbilder aus der Heimat zu bestätigen schienen. Aber auch Enttäuschungen waren programmiert, wenn sie mit eigenen Augen wahrnahmen, dass die heimischen Dome viel eindrucksvoller waren als die Kirchen im Heiligen Land. Hätte es nicht umgekehrt sein müssen?

Das Buch hätte wohl kaum entstehen können, wenn Halbwachs nicht auf zwei wissenschaftliche Publikationen hätte zurückgreifen können. Immer wieder beruft er sich auf die Bände „Jérusalem: Recherches de topographie, d´archéologie et de l´histoire“ (1912-1926) der in Jerusalem tätigen Dominikaner Hugues Vincent und F.-M. Abel und die „Orte und Wege Jesu“ (1921) des Greifswalder Professors und Leiters des Deutschen Archäologischen Instituts in Jerusalem, Gustaf Dalman. Halbwachs Text leidet ein wenig darunter, dass er immer wieder aus wortwörtlichen Passagen aus diesen Werken oder auch aus Renans „Vie de Jésus“ besteht. Dieser Text kann daher nur partiell als ein genuin Halbwachs’scher Text gelten, vielmehr ist er über weite Strecken eine Kompilation von Zitaten aus der wissenschaftlichen Literatur, wenn auch von ihm dirigiert. Vielleicht zeigt sich aber gerade darin eine Methode, das kollektive Gedächtnis zu erfassen. Dennoch: Zweifel, ob Halbwachs mit diesem Werk tatsächlich – wie beansprucht – die Gesetzmäßigkeiten des kollektiven Gedächtnisses ergründet hat, sind geblieben. Zu exeptionell scheint das Thema zu sein, zu wenig selbstständig ist es im Detail trotz seines neuartigen Ansatzes umgesetzt worden.

Anmerkung:
1 Siehe dazu auch die ausführliche wissenschaftsgeschichtliche Einordnung von Halbwachs durch Stephan Egger im Nachwort mit Attacken gegenüber den „Dogmen“ Assmann´scher Erinnerungsforschung, S. 219-268.

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