W. Daschitschew: Moskaus Griff nach der Weltmacht

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Titel
Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Weltpolitik


Autor(en)
Daschitschew, Wjatscheslaw
Erschienen
Anzahl Seiten
543 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Wjatscheslaw Daschitschew war der wichtigste Vordenker und mutigste Vorkämpfer des „neuen Denkens“ in der UdSSR, das den innen- und außenpolitischen Wandel unter Gorbatschow, die Vereinigung Deutschlands und das Ende des Kalten Krieges eingeleitet hat. Als Frontkämpfer ließ ihn die Frage nicht los, wie es zu dem furchtbaren Desaster kommen konnte, das er erlebt hatte, und als Historiker befragte er die Vergangenheit nach den Lehren, die man aus ihr für Gegenwart und Zukunft ziehen könne. Er übte in diesem Sinne Kritik an der Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg und setzte sich mit aller Kraft dafür ein, dass die amtliche Lüge über den Hitler-Stalin-Pakt unhaltbar wurde.

Nach seiner Ansicht konnte hier - wie auch sonst - nur die schonungslose Offenlegung der Vergangenheit die Grundlage für einen Neuanfang schaffen. Gegen heftige Widerstände und Anfeindungen, besonders auch von Seiten Falins, verhalf er schließlich der Wahrheit zum Durchbruch, dass Stalin nicht, wie man offiziell behauptet hatte, in Abwehr einer drohenden Aggression der Westmächte gehandelt hatte und dass die - bis dahin zu einer Erfindung der westlichen Propaganda erklärten – geheimen Zusatzprotokolle echt waren, in denen Hitler seinem Vertragspartner weite Gebiete Ostmitteleuropas ausgeliefert hatte.

Frühzeitig wurde Daschitschew dessen inne, dass die Sowjetunion, die nach außen hin auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand, sich wegen innerer Schwäche dem Niedergang näherte. Auf Grund vor allem von Clausewitz’ Einsicht, ein Staat dürfe sich nur solche Ziele setzen, die seinem Potenzial und seinen Ressourcen angemessen seien, erkannte er, dass Machtambition und Überrüstung zum einen das Land im Innern ruinierten und zum anderen eine bedrohliche „reflektierende Rückwirkung“ in der Außenwelt hervorriefen. Beim weiteren Durchdenken des Problems ging ihm auf, dass die UdSSR zugleich in der „Zwangsjacke des Totalitarismus“ steckte: Eine marktwirtschaftliche Reform war notwendig, die aber sowohl eine Aufgabe des inneren Herrschaftssystems als auch das Ende des Kalten Krieges, also den Verzicht auf das ideologische Bild vom Feind im Westen, voraussetzte.

Diese Ausgangsposition war die Basis, von der aus Wjatscheslaw Daschitschew seit den beginnenden siebziger Jahren den Kreml in zahlreichen Denkschriften und Stellungnahmen zur politischen Umorientierung zu bewegen suchte. Das trug ihm, vor allem bei Breshnew und Tschernenko, die Ablehnung und Feindschaft der Führung ein. Erst unter Gorbatschow entwickelte sich – an der Spitze und nur teilweise bei nachgeordneten Chargen – nach und nach größere Aufgeschlossenheit für abweichende Überlegungen und Empfehlungen. Das vorliegende Buch markiert in Daschitschews Rückschau die Stationen seines schwierigen Weges. Besonders wichtig und aufschlussreich sind die Memoranden und sonstigen Ausarbeitungen, die – zum größten Teil erstmalig – dazu aus dem Privatarchiv des Verfassers veröffentlicht werden.

Schon in seiner Denkschrift vom September 1979 über die internationale Lage in Südostasien zeigt Wjatscheslaw Daschitschew, dass er sich von den Schemata des Marxismus-Leninismus völlig gelöst hatte. Noch deutlicher wird das in einem Memorandum drei Jahre später, das die sowjetische SS-20-Politik scharfer Kritik unterzog, vor der Illusion einer Verhinderung der NATO-Nachrüstung durch die Friedensbewegung warnte und für eine echte „Null-Lösung“ eintrat. Im Januar 1983 suchte er mit einer umfassenden Analyse der Weltlage Andropow von der Notwendigkeit einer grundlegenden Neubestimmung des Verhältnisses zum Westen zu überzeugen. Im Februar 1987 sandte er Gorbatschow eine Denkschrift über Abrüstung, in der er sich für einen Abbau der sowjetischen konventionell-militärischen Überlegenheit auf dem europäischen Schauplatz einsetzte, für ein Ost-West-Gleichgewicht auf der Basis struktureller Nichtangriffsfähigkeit plädierte und eine neue Beziehung zu den Verbündeten im Warschauer Pakt forderte.

In einem Anfang 1987 an Schewardnadse gerichteten Papier plädierte er ein weiteres Mal für einen Abbau der Feindschaft zum Westen. Der Adressat reagierte mit der Ernennung Daschitschews zum Vorsitzenden eines zugleich begründeten Wissenschaftlichen Konsultativen Beirats beim Außenministerium. Schewardnadse sah offensichtlich, dass die bisherige Außenpolitik korrekturbedürftig war, und wollte die Ansicht von Fachleuten erfragen, welche Änderungen man vornehmen solle.

Daschitschew nutzte seine Stellung, um zentrale Probleme zur Diskussion zu stellen und dazu Empfehlungen zu geben. Im Mai hielt er vor dem neuen Gremium ein Referat, in dem er darlegte, dass die zentralistisch-staatswirtschaftlichen Strukturen der RGW-Staaten die zum Ziel erklärte Integration verhinderten, und eine Reform forderte, die einen inner- wie zwischenstaatlich funktionierenden Markt schaffen und aller bürokratischen Bevormundung ein Ende setzen würde. Ausarbeitung und Diskussion blieben freilich folgenlos. Anders war das Resultat, als er im November mit einem weiteren Referat die Vereinigung Deutschlands – als Schlüsselfrage der angestrebten Veränderung der Beziehungen innerhalb des Blocks und im Verhältnis zum Westen - in die politische Erörterung einführen wollte: Alle Anwesenden außer Jurij Dawydow reagierten mit Empörung und lehnten jede Erwägung in dieser Richtung scharf ab.

Ebenso war das Resultat, als Daschitschew etwa zur gleichen Zeit auf einer Beratung der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees davon sprach, die Teilung Europas und Deutschlands könne nicht fortdauern. Der Vorsitzende, Falin, wandte sich mit besonders großer Heftigkeit dagegen und verließ dann aus Protest den Raum. In seiner neuen Funktion wirkte Daschitschew an einem Dialog mit amerikanischen Außenpolitikexperten mit, bei dem die sowjetische Seite Mitte 1988 ein Diskussionspapier „Europa im Wandel“ vorlegte, das die Herstellung gleichberechtigter Beziehungen zwischen der UdSSR und den osteuropäischen Ländern zum zentralen Angelpunkt für ein neues Verhältnis zu den USA erklärte. Zugleich hieß es darin, die Bewegung zur Einheit Europas schließe die allmähliche Überwindung der Spaltung Deutschlands mit ein. Genau das waren dann die zentralen Punkte, die Präsident Bush nach seinem Amtsantritt im Januar 1989 zu den Kriterien seiner Politik gegenüber Moskaus machte.

Einen neuen Akzent setzte Daschitschew, als er im Juni 1988 auf einer Pressekonferenz in der Bonner Sowjetbotschaft unerwartet eine Frage zur Berliner Mauer erhielt. Er antwortete, sie sei ein Relikt des Kalten Krieges, das allmählich verschwinden werde. Die Stellungnahme rief großes Aufsehen hervor und zog eine sowjetisch-ostdeutsche Divergenz nach sich. Während sich Schewardnadse ähnlich äußerte, beharrte Honecker trotzig darauf, die Mauer werde von Dauer sein und könne noch in 100 Jahren stehen. Der ZK-Apparat in Moskau äußerte intern Kritik an Daschitschews Äußerung, gestand diesem aber zu, dass es sich um eine wichtige – und implizit nicht für alle Zeiten geregelte – Frage handele. Der Sommer 1989 brachte insofern eine entscheidende politische Wende, als Gorbatschow seinem schon seit längerem geäußerten Willen zur Preisgabe der „Breshnew-Doktrin“, also der notfalls militärisch zu verwirklichenden innenpolitischen Existenzgarantie für die kommunistischen Regime in Ost- und Mitteleuropa, unzweideutig und öffentlich kund tat.

Nach wie vor ging er dabei jedoch von dem Standpunkt aus, dass die DDR – und mithin die Teilung Deutschlands – fortbestehen werde. Im Juli führte Daschitschew ein Gespräch mit Botschafter Kotschemassow in Ost-Berlin, in dem er seine negative Sicht der Entwicklung in der DDR darlegte und daraus den Schluss zog, dass der Kreml seine Politik auf die deutsche Einheit umorientieren müsse. Der ostdeutsche Staat sei einfach nicht mehr lange zu halten. Gehör fand er damit in Moskau ebenso wenig wie eine Gruppe westdeutscher Wirtschaftsmanager, die zusammen mit dem Kieler Professor Seiffert im Oktober das Konzept eines „historischen Ausgleichs zwischen Deutschland und der Sowjetunion“ vorlegte. Danach sollte die UdSSR für die Zustimmung zur Vereinigung Deutschlands innerhalb von sechs Jahren Güter und Dienstleistungen im Wert von 500 Mrd. DM für die Sanierung ihrer Wirtschaft erhalten. Der Plan setzte voraus, dass der Kreml durch den Übergang zu Markt, Demokratie und Rechtstaatlichkeit die Bedingungen für den angestrebten Erfolg schuf. Bei allem guten Willen, von dem man bei Gorbatschow ausgehen durfte, wäre nach seitheriger Erfahrung ein solches Arrangement bei der Umsetzung in die innenpolitische Praxis auf Probleme gestoßen, von denen die Initiatoren kaum eine Vorstellung gehabt haben dürften.

Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 leitete nur allmählich ein Umdenken in Moskau ein. Daschitschew bestätigt, dass sich Gorbatschow noch bis Ende Januar energisch gegen die deutsche Einheit wandte, und erklärt seine Versuche, zusammen mit westlichen Staatsführern eine Ablehnungsfront aufzubauen, mit innenpolitischen Rücksichten. Als einer der Politiker im Westen, die zunächst ebenfalls die Teilung aufrechtzuerhalten suchten, wird irrtümlich auch Bush genannt. In Wirklichkeit trat der amerikanische Präsident von Anfang an für die Vereinigung ein, die Bundeskanzler Kohl – zuerst nur zaghaft und als allmählichen Prozess – ab 28. November forderte. Seine Unterstützung veranlasste die Gegner der Einheit – zuerst Mitterrand und dann Thatcher im Kreis der NATO-Verbündeten, schließlich auch Gorbatschow auf sowjetischer Seite – zur Aufgabe ihres Widerstandes. Als entscheidendes Verdienst des Kremlchefs im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung bleiben freilich, wie zu Recht betont wird, sein Kurs der Westöffnung und sein beharrliches Nein gegenüber allen an ihn herangetragenen Forderungen, Gewalt zur Aufrechterhaltung der Teilung einzusetzen. Daschitschew leistete in dieser Phase der Auseinandersetzungen einen wichtigen Beitrag zur Bestimmung des sowjetischen Standorts, als er Gorbatschow im Blick auf dessen Treffen mit Bush vor Malta eine Denkschrift unterbreitete.

Ein hartnäckiger Widersacher der Vereinigung Deutschlands war vor allem Falin. Es wird in dem Buch hervorgehoben, dass dieser sogar noch dann die deutsche Einheit zu verhindern suchte, nachdem Gorbatschow am 26. Januar 1990 von seiner Ablehnung abgerückt war und sogar SED-Ministerpräsident Modrow angesichts des fortschreitenden Zusammenbruchs der DDR die Hoffnung auf dauernden Erhalt der Separatstaatlichkeit aufgegeben hatte. Falin hatte schon nach dem Fall der Mauer eine geheime Reise nach Ost-Berlin unternommen und in der dortigen Sowjetbotschaft am 24. November einen Plan vorgetragen, nach dem die Truppen der UdSSR in der DDR zusammen mit Einheiten der Nationalen Volksarmee eine Operation durchführen sollten, um die Mauer wieder zu schließen. Anschließend unterbreitete er diesen Vorschlag Gorbatschow in einem Memorandum. Als der Einigungsprozess zuletzt nicht mehr aufzuhalten war, wollte er die Politik seines Landes wenigstens auf ein unbedingtes Nein zur NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands festgelegt sehen, auf der Bush und Kohl gleichermaßen bestanden, um mit der Neutralität das Risiko auszuschließen, dass ein neuerlicher deutscher Sonderweg die Sicherheit in Europa bedrohen konnte. Daschitschew setzte sich demgegenüber für die Annahme der Forderung ein und äußerte bereits im ausgehenden Winter die Zuversicht, dass sich Gorbatschow schließlich dazu bereit finden werde. Das geschah dann auch Mitte Juli 1990 bei der Begegnung mit Bundeskanzler Kohl im Kaukasus, nachdem sich der Kremlchef Ende Mai mit Präsident Bush auf den Grundsatz der bündnispolitischen Selbstbestimmung verständigt hatte.

Das vorliegende Buch bietet mit den Erinnerungen und den zeitgenössischen Schriftstücken Daschitschews eine einzigartige Quelle. Wer immer sich über die internen und geistigen Hintergründe des „neuen Denkens“ und des Perestrojka-Kurses in der Sowjetunion samt den daraus erwachsenen weltpolitischen Konsequenzen informieren will, wird an diesem Werk nicht vorbeikommen.

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