K.-J. Lorenzen-Schmidt (Hg.): Quantität und Qualität

Cover
Titel
Quantität und Qualität. Möglichkeiten und Grenzen historisch-statistischer Methoden für die Analyse vergangener Gesellschaften. Festschrift für Ingwer E. Momsen


Herausgeber
Lorenzen-Schmidt, Klaus-J.
Reihe
Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 35
Erschienen
Neumünster 2002: Wachholtz Verlag
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Manke, Landeshauptarchiv Schwerin

Festschriften, die Historikern aus Anlass diverser ‘runder’ bzw. ‘halbrunder’ Geburtstage von Freunden, Schülern, thematisch-fachlich Gleichgesinnten gewidmet werden, scheinen in der ‘Zunft’ mittlerweile zum guten Ton zu gehören. Daran ist zumindest für die Fälle wenig auszusetzen, in denen es sich nicht um eine Buchbindersynthese handelt bzw. in denen es umgekehrt einen ‘roten Faden’ gibt. Im anzuzeigenden Band gibt es derer im Grunde gleich zwei – die, die sich ausweislich der mit abgedruckten Bibliografie (S. 11-14) des hier geehrten Kieler Universitätsbibliothekars auch durch dessen geschichtswissenschaftliches Œvre ziehen bzw. es dominieren: Die Geschichte Schleswig-Holsteins und die – wie es der Untertitel deutlich zum Ausdruck bringt – historisch-statistischen oder quantifizierenden Methoden. Während exakt zwei von 14 Beiträgen (Jan Strassenburg: Serielle Quellen zur Armut und Armenversorgung in Rostock im frühen 19. Jahrhundert, S. 169-190, Kai Detlev Sievers: Schlafgelegenheiten städtischer Unterschichten im 19. Jahrhundert, S. 191-211) keine Bezüge zur schleswig-holsteinischen Geschichte aufweisen, ist eine derartige Eindeutigkeit hinsichtlich des zweiten Bezugsfeldes nicht gegeben. Es sind nämlich durchaus mehrere Beiträge, die – ohne zwangsläufige Auswirkungen auf ihre Qualität – keine oder so gut wie keine Verbindung zu historisch-statistischen Methoden aufweisen: Die Etikettierung ‘Quantifizierung’ bedeutet mehr und und muss mehr bedeuten als die Aneinanderreihung oder bloße Benutzung historischen Zahlenmaterials.

Bei einer derartigen Feststellung ist jedoch mit zu bedenken, dass Quantifizierung einerseits quantifizierbarer Quellen bedarf und dass diese – wie weiter unten noch deutlicher wird – mit hohem Aufwand aufbereitet werden müssen, um zu quantifizierbaren und klassifizierbaren Mengen zu werden. Letzteres wird in keinem anderen Beitrag so explizit heraus gestellt wie bei Peter Wulf („Modehandel mit Landgütern“. Güterhandel in Schleswig-Holstein Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts, S. 149-168), der allerdings im Gegensatz zur Verheißung des Titels das Herzogtum Schleswig unberücksichtigt lässt: „Die beste Quelle für eine solche Untersuchung sind ohne Zweifel die Schuld- und Pfandprotokolle mit den ergänzenden Materialien, in denen der Eigentumswechsel in der Nennung von Käufer und Verkäufer, der Preis und die hypothekarische Belastung der Güter unter staatlicher Aufsicht niedergelegt wurden. [...] Allerdings ist die angemessene Erschließung dieser Schuld- und Pfandprotokolle ein ungeheuer zeitaufwendiges Unternehmen, das im Rahmen eines solchen Aufsatzes nicht zu leisten ist.“ (S. 152) Da eine gedruckte Ersatzquelle vorliegt, in der viele der erwähnten Daten bereits erhoben und zusammengestellt wurden, konnten anhand von Einzelbeispielen aus verschiedenen Güterdistrikten zu unterschiedlichen Zeiten zumindest Entwicklungstrends und –phasen herausgearbeitet werden. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass zum einen der Güterhandel im fraglichen Zeitraum ganz erheblich von spekulativen Zwecken determiniert wurde und dass zum anderen in dieser Zeit der Frühindustrialisierung kein Kapitalmangel herrschte, sondern die Bereitschaft zur Kapitalanlage im industriellen Bereich fehlte. (S. 165f.) Diese vom Verfasser auf (Schleswig-)Holstein beschränkte Aussage ließe sich durch ähnlich angelegte Untersuchungen für die gutswirtschaftlich geprägten Regionen Ostelbiens gegebenenfalls stützen, wobei auch der Aspekt der lokalen Herkunft der Spekulanten nicht uninteressant sein dürfte: Handelte es sich in Mecklenburg wie im benachbarten Holstein vor allem um Angehörige des Hamburger, Lübecker und Altonaer Bürgertums, in Pommern und der Mark Brandenburg hingegen eher um das hier näher sitzende Berliner und Stettiner Bürgertum?

Das am Anfang des vorhergehenden Absatzes angesprochene Quellenproblem ist grundsätzlich ein zweidimensionales. Einerseits ist gründliche Quellenkritik zur Sichtbarmachung der Hintergründe der Quellenentstehung notwendig, wie aus Leif Hansen Nielsens und Hans Schultz Hansens Beitrag „Statistische Quellen zur Industrialisierung Schleswig-Holsteins beleuchtet am Beispiel der Stadt Sonderburg/Sønderborg“ (S. 237-262) hervorgeht. In diesem Fall konnten die gedruckten Verwaltungsberichte nicht Grundlage für Aussagen über die industrielle Entwicklung zwischen 1876 und 1914 sein, weil bis 1901 eine Definition des Begriffs ‘größerer Gewerbebetrieb’ fehlte und ab 1901 auch die zum Dienstleistungs- bzw. nicht zum Produktionssektor gehörenden Handwerksbetriebe Eingang in die Verwaltungsberichte fanden (S. 238). Mehr noch als auf lokale Längsschnittuntersuchungen wirkt sich die fehlende terminologische Eindeutigkeit jedoch auf temporäre Querschnittsuntersuchungen über die Grenzen der einzelnen Gewerbeinspektionsbezirke bzw. Einflussbereiche der Lokalverwaltungen hinweg aus: „Unternehmen mit sechs bis zehn Beschäftigten [wurden] in den größeren Industriestädten wie Kiel, Neumünster, Wandsbek und Altona seltener in die Statistiken aufgenommen als in den industrieschwachen Bezirken. [...] So wurde beispielsweise in Kiel 1876 kein einziger Betrieb mit weniger als 50 Beschäftigten gemeldet, im Landkreis Kiel mit Neumünster keiner mit weniger als 30, im Landkreis Stormarn mit Wandsbek keiner mit weniger als 20 und in Altona keiner mit weniger als 10.“ (S. 243). Des Weiteren streichen die beiden Autoren heraus, dass es nicht ohne Bedeutung ist, ob die entsprechenden Daten von Beamten mit lokaler Detailkenntnis oder mit überregionalem Blickwinkel erhoben wurden, also ob auf Basis ursprünglicher oder aggregierter Daten quantifiziert werden kann. (S. 243-246)

Andererseits besteht hinsichtlich der Quellen das Problem der historischen Reichweite, da die Entstehung ausreichend dichten und zuverlässigen Materials eng mit der sich ab 1750 etablierenden und etablierten staatlichen Statistik zusammen hängt. Ortwin Pelc (Hamburgs Schiffahrt und Handel mit Schleswig Holstein im 19. Jahrhundert. Möglichkeiten und Grenzen der Historischen Statistik, S. 213-222) bestätigt das am Beispiel der Hamburger Statistik, deren regelmäßige Berichte erst für die Jahre ab 1857 einsetzen. Da sich die Ausführungen auf das genannte Jahr beschränken, um deutlich zu machen, „daß es umfangreiches statistisches Material für die Schiffahrts- und Handelsbeziehungen zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein gibt, das gedruckt und damit für Forschungen leicht zugänglich ist,“ (S. 222) wird hier im Übrigen nochmals der bereits thematisierte Aspekt des hohen Bearbeitungsaufwandes tangiert. In Bezug auf die historische Reichweite der Quellen aber bestätigen Ausnahmen nur die Regel, wie Günther Bocks auf den Zeitraum vom 13. bis zum frühen 16. Jahrhundert bezogene „Untersuchung spätmittelalterlicher bäuerlicher Heuerlingsleistungen im Stormarner Raum“ (S. 55-91) verdeutlicht. Es handelt sich dabei um einen Vergleich der beiden dominierenden Arten der Grundrente, die Natural- und die Geldheuer, die zu Beginn des Untersuchungszeitraumes in etwa gleichem Maße verbreitet waren. Während jedoch hier die Belastung durch die Geldheuer gut drei Mal so hoch war wie die Belastung durch die Naturalabgabe, erfolgte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Angleichung und später dann die Umkehr der Ausgangssituation. Diese auf Basis sicherer Daten relativ flächendeckend herausgearbeitete Entwicklung symbolisiert die Möglichkeiten quantitativer Methoden, während die Quellenlage bzw. der damit verbundene Bearbeitungsvorlauf – etwa für die Herstellung einer Relation zwischen Höhe der Heuer und Größe der Wirtschaft (S. 86) – Grenzen markiert.

Die Ausmaße, die die Vorbereitung der Anwendung quantifizierender Methoden annehmen kann, verdeutlicht am besten der bereits erwähnte Beitrag von Jan Straßenburg. Am Beispiel der kommunalen Armenfürsorge der Stadt Rostock in den Jahren von 1804 bis 1822 wird die „gängige Hypthese“ (S. 186) verifiziert, dass hauptsächlich Frauen und Kinder von Armut betroffen waren. Von wesentlicherer Bedeutung als diese Verifizierung dürfte jedoch die Erkenntnis sein, dass die Geschlechtsspezifik der Armut sich weniger im Zahlenverhältnis der Geschlechter als vielmehr in der Frauen stärker als Männer betreffenden Dauerhaftigkeit der Armut zeigte. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, mussten allerdings erst einmal 56.454 Datensätze (S. 182) in Datenbanken übertragen, aufbereitet und mittels entsprechender Programme bzw. Befehlsfolgen ausgewertet werden. Und das ist wohl nur unter bestimmten Rahmenbedingungen – hier: Dissertationsprojekt (S. 169) – möglich. Einen größeren Teil seiner Ausführungen widmet der Autor grundsätzlichen Überlegungen zur Rolle und Bedeutung quantitativer Methoden in den Geschichtswissenschaften, in deren Ergebnis er eine fast 20 Jahre alte Forderung William O. Aydelotte’s wohl nicht ganz umsonst unterstreicht: „Es steht fest, daß ohne die flankierende Heranziehung der ‘klassischen’ qualitativen Überlieferungen die statistischen Analysen von Massendaten oberflächlich bleiben müssen, wenig aussagekräftig sind und als bloße ‘Technikspielerei’ dastehen.“ (S. 179)

Unter etwas anderem Blickwinkel befasste sich zuvor bereits Klaus-J. Lorenzen-Schmidt mit solchen Überlegungen (Zum Problem von Quantität und Qualität in der landesgeschichtlichen Forschung, S. 15-28). Der Bezug des Herausgebers ist jedoch in erster Linie der 1978 gegründete Arbeitskreis für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins, dessen Entstehung wie die Etablierung einer deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte überhaupt auf einen Antagonismus zurückgeht, nämlich dem zwischen dem „Establishment der G[esellschaft für] S[chleswig-]H[olsteinische] G[eschichte]“ mit ihren „verkrusteten Strukturen“ und den (damaligen) „‘jungen Wilden’“ (S. 20), die offenbar nicht nur methodisch, sondern – auch wenn es nicht explizit so formuliert wird – wohl auch gegenüber „der nationalen Sehtrübung mancher der führenden Landeshistoriker“ (S. 17) aufzubegehren trachteten. Der Arbeitskreis, in dem quantitative Methoden zwar eine sehr große, aber keinesfalls die ausschließliche Rolle spielen, (S. 22ff.) blieb von der innerhalb der Sozial- und Wirtschaftsgeschichtsforschung geführten Debatte um ihr Verhältnis zur ‘Mikrohistorie’ nicht verschont, (S. 24ff.) aber es gibt darin heute „eine stetig wachsende Gruppe, die versucht, mit möglichst vielen methodischen Herangehensweisen ein möglichst zutreffendes Bild von der Vergangenheit zu zeichnen.“ (S. 27) „Quantifizierung allein,“ so das Fazit, bietet „keine Möglichkeiten, ein umfassendes Bild vergangener Realitäten zu gewinnen.“ (S. 28) Als Beleg dafür, dass es sich hier nicht nur um eine dem Zeitgeist geschuldete Floskel handelt, sondern eine im Arbeitskreis tatsächlich geltende Maxime ist, mag in diesem Band in erster Linie der Beitrag von Martin Rheinheimer (Biographieforschung und maritime Strukturgeschichte: Hark Olufs’ Wiederkehr, S. 105-120) gelten.

Das nähere Eingehen auf einige Beiträge ermöglichte die Darstellung grundsätzlicher Fragen und Probleme der Quantifizierung. Wenigstens Erwähnung finden sollen der Vollständigkeit halber aber auch die noch nicht genannten Beiträge von Rolf Gehrmann (Beziehungen. Familienformen und –normen als Gegenstand der Sozial- und Kulturgeschichte, S. 29-54), Klaus Tidow (Tuchherstellung in Neumünster von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Informationen aus den Amtsbüchern der Neumünsteraner Tuchmacher, S. 93- 103), Detlev Kraack (Getreidepreise und Getreidehandel im ausgehenden 18. Jahrhundert. Der geschäftliche Alltag des Flensburger Kaufmanns Christian Dethleffsen im Spiegel seiner Briefe aus der Zeit von Ende Oktober 1777 bis Februar 1778, S. 121-148), Peter Danker-Carstensen (Störfischerei an Elbe und Eider im 19. und 20. Jahrhundert, S. 223-236), Walter Asmus (Grundzüge der Motorisierungsentwicklung in Schleswig-Holstein, S. 263-284) und Christian M. Sörensen (Zur Parteibindung von NSDAP-Wählern bis 1933. Quantifizierende Betrachtungen für den Kreis Husum, S. 285-306). Im Detail können dieselben aus Platzgründen nicht vorgestellt werden, zumal ihnen – mit Ausnahme der ‘Störfischerei’ – gemeinsam zu sein scheint, dass sie an thematisch ähnliche Arbeiten des jeweiligen Autors anknüpfen.

Nicht außer Acht bleiben sollen letztlich vier Dinge: Erstens weist das hellgrüne Paperback im Ergebnis einer Lektüre, wie sie im Rahmen einer Besprechung nun einmal erforderlich ist, doch recht erhebliche Gebrauchsspuren auf. Zweitens sind die zahlreichen Tabellen nahezu insgesamt schwierig zu rezipieren sowie in einigen Fällen äußerst unübersichtlich (S. 39, 88-91, 277) bzw. kaum zu lesen (S. 131, 137) und drittens ist, über den gesamten Band verteilt, die Zahl der orthografisch-grammatischen Fehler beträchtlich – beides rücksichtlich des diesbezüglich eigentlich sehr kritischen Herausgebers eher unerwartet. Viertens wäre es schließlich – zumindest wohl für den außerhalb des ‘Arbeitskreises’ Stehenden – nicht ganz uninteressant gewesen, etwas über die einzelnen Beiträger dieser Festschrift zu erfahren, was aufgrund des fehlenden Autorenverzeichnisses nicht möglich ist. Letztlich aber, das soll ausdrücklich betont werden, handelt es sich bei Vorstehendem um ein Quartett von Marginalien, die in keinem Verhältnis zum inhaltlichen Gehalt der Festschrift stehen. Vielmehr ist es Herausgeber und Autoren gelungen, ein hochinteressantes und (hoffentlich) weitere quantifizierende Forschungen anregendes Werk vorzulegen, weil Quantifizierung – vulgo Quantität – und Qualität darin eine Symbiose eingehen und somit Möglichkeiten und Grenzen historisch-statistischer Methoden tatsächlich deutlich gemacht werden. Eine geeignetere Würdigung von Werk und Person kann jemand, der vielleicht nicht als ‘Quantifex maximus’, aber doch als Pionier einer auch in Deutschland mittlerweile eigentlich etablierten und doch bisweilen noch belächelten Methode zu bezeichnen ist, wohl kaum erfahren.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch