Titel
Unternehmenskultur im Kaiserreich. Die Gießerei J. M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co.


Autor(en)
Nieberding, Anne
Reihe
Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 9
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinrich Hartmann, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Hat das Kaiserreich eine eigene Unternehmenskultur geprägt? Gibt es also eine explizite Verbindung von der Unternehmensgeschichte der Jahrhundertwende und den politischen Entwicklungen? Schon der Titel der Arbeit von Anne Nieberding, die sie 2001 in Münster als Dissertation vorgelegt hat weckt hohe Erwartungen; nicht zuletzt, da die Untersuchung im gleichen Jahr mit dem Preis der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte ausgezeichnet wurde.

In einer recht knapp gehaltenen Einleitung stellt sich Anne Nieberding die Aufgabe, die Kultur der Unternehmen systematisch in ihrem sozialen Umfeld zu verorten: so fragt Nieberding überspitzt, „ob ein Unternehmen Kultur hat oder ob es Kultur ist“ (S. 14). Doch steht das Unternehmen den äußeren Determinanten nicht passiv gegenüber, vielmehr ist die Wahl einer bestimmten Kultur für das Unternehmen eine Strategie, die es ihm erlaubt, Agenten an sich zu binden und so Vorteile im Hinblick auf die unternehmensinternen Transaktionskosten zu bringen. Schafft es die Unternehmensleitung, ihre Belegschaft auf die gleichen Interessen einzuschwören, die das Unternehmen hat, kann sie teure Kontrolle durch Vertrauen in ihre Mitarbeiter ersetzen, so die Hypothese der Autorin. „Dieses Vertrauen ist aber wesentlich von einer gemeinsamen Wirklichkeitsdeutung, von einer gemeinsamen Kultur abhängig“ (S. 22) Unschwer ist der theoretische Rahmen herauszulesen, in dem sich die Arbeit hiermit verortet: Es ist die Anwendung einer kulturtheoretischen Lesart der Neuen Insititutionenökonomik auf die Unternehmensgeschichte und damit ein Ansatz, der die bisherigen theoretischen Überlegungen zur Unternehmensgeschichte wesentlich erweitert.1

Ein solcher Ansatz eröffnet eine Unmenge von möglichen Untersuchungsobjekten und Zugängen. Die Autorin entscheidet sich für den Vergleich von zwei Unternehmen, um Eigenheiten und Gemeinsamkeiten der jeweiligen Kultur herausstellen zu können. So stellt sie den Heidenheimer Maschinenbauer J. M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung, deren Gründung in etwa mit der deutschen Einigung koinzidiert. Die Geschichte der beiden Unternehmen wird knapp und dicht in ihren jeweiligen lokalen Zusammenhängen vorgestellt (S. 24-55). Etwas mager fallen dadurch die Anmerkungen zur Sozialgeschichte der Belegschaften aus.

Die eigentliche Untersuchung beginnt Nieberding anschließend mit der Analyse der beiden Unternehmensleitungen und deren Möglichkeiten, die Kultur in ihren Häusern zu bestimmen. Sehr biografisch beschreibt sie die Männer, die an der Spitze der beiden Häuser stehen. War es bei Voith fast über die ganze Zeit Friedrich Voith selbst, der die Firma leitete, dessen Figur somit selbst nach seinem Tod mythenbildenden und integrativen Charakter für das Unternehmen trug (S. 55ff.), gab es eine solche Figur bei Bayer zunächst nicht. Obwohl bis heute Namensgeber der Firma, stand Friedrich Bayer ihr nur etwa 15 Jahre vor (S. 64ff.). Auf eine prägende Figur an der Spitze musste die Firma bis 1895 warten, dem Jahr an dem Carl Duisberg die Führung des Unternehmens in die Hand nahm und damit auch ein ausgefeiltes Instrumentarium für die Lenkung der Unternehmenskultur einführte.

Während sich bei der Farbenfabrik dieses Steuerungssystem somit auf verschiedene Institutionen, wie dem ab der Jahrhundertwende eigens angestellten Sozialisationspersonal stützte, vollzog sich die Sozialisation bei Voith „primär über die direkte Kommunikation auf Betriebsebene“ (S. 75). Dies erscheint für einen Betrieb, in dem der Unternehmer alle Fäden in der Hand hält durchaus logisch. Die Autorin vermutet, dass es vor allen Dingen technisches Personal und Werksmeister waren, die die Arbeiter auf gemeinsame Sinnkonstrukte einschworen. Im Gegensatz zu den Aussagen zu Bayer kann sie diese Thesen für Voith kaum belegen. Dies ist ein Punkt, an dem die Arbeit naturgemäß an ihre Grenzen stößt: Es ist anzunehmen, dass sich die Unternehmenskultur großer Firmen vor allen Dingen am Arbeitsplatz und im Spektrum der Arbeitsbeziehungen herausbildet. Werden diese Beziehungen aber nicht durch firmeninterne Institutionen gelenkt oder zumindest festgehalten sind dem Historiker für deren genaue Untersuchung mangels Quellenmaterial die Hände gebunden. Auch Nieberding ist an diesem Punkt im Wesentlichen auf Plausibilitätsannahmen angewiesen.

Umso beeindruckender ist die Tatsache, dass es der Autorin gelingt, mit gut belegten Zahlen die Kosten dieser betrieblichen Integration zu berechnen. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass die Pro-Kopf-Aufwendungen für die betriebsinterne Ausbildung– und mithin der betrieblichen Sozialisation – bei Voith wesentlich höher lagen, als die Kosten der betrieblichen Sozialpolitik, der „Bayer´schen“ Variante.

Die Sozialpolitik als neue Variante der betrieblichen Integrationsstrategie stellt Nieberding im Folgenden für Bayer erschöpfend vor. Von den verschiedenen Hilfs-, Kranken- und Pensionskassen der Firma über den betrieblichen Wohnungsbau bis zum Bau eigener betrieblicher Schulen gibt sie einen umfassenden Überblick über die Bandbreite sozialpolitischer Maßnahmen der Werksleitungen von Elberfeld und Leverkusen. Dabei verpasst sie nicht, auch die Kosten einer solchen Politik genau aufzuschlüsseln; sie schließt, dass im Gegensatz zu anderen Firmen, deren Sozialpolitik nicht immer rentabel gewesen sein mag, „die hohen Sozialaufwendungen vor allem an dem neuen Standort des Chemieunternehmens [Leverkusen] einen Erfolg vermuten“ lassen. (S. 225f.)

Wesentlich diffuser und weniger überzeugend gestaltet sich das anschließende Kapitel über die Gründung einer „Wir-Beziehung“ im Unternehmen. Es ist erklärtes Ziel der Autorin hier die „Kommunikationspolitik des Unternehmens“ (S. 226) vorzustellen. Warum sich diese aber eher in Betriebsfesten und der Werksvereinen manifestieren soll (S. 229ff. und S. 245ff), als in den direkten Kommunikationssysteme am Arbeitsplatz, bleibt rätselhaft.2 Anders als die Sozialisation am Arbeitsplatz lassen sich solche Systeme sehr wohl im Bayer-Archiv belegen: So führte die Firma schon kurz vor der Jahrhundertwende eine Art „Kummerkasten“ ein, der den Arbeitern erlaubte, Anregungen für eine Produktionsverbesserung an die Betriebsleitung heranzutragen. Durch ein solches System konnte die Unternehmensleitung vor allen Dingen die Kommunikation zur Ebene der Arbeiter und unteren Angestellten verbessern, zumal sie auch hier auf teilweise erhebliche finanzielle Anreize setzte. Auch das schon früh außergewöhnlich stark ausgeprägte Konferenzwesen in dem Unternehmen wäre eine Erwähnung wert gewesen. Überzeugend kann Nieberding in diesem Kapitel dagegen die Interdependenz von nationaler Kultur und der Kultur des Unternehmens belegen: wie schon am Beispiel des gemeinsamen Seefischessens (S. 164) zeigen auch die Nationalfeiern im Betrieb (S. 255), dass sich die Unternehmensleitungen in beiden Betrieben vornehmlich von nationalen Motiven leiten ließ, wenn es darum ging ihre Belegschaft auf ein gemeinsames Ziel auszurichten.

Doch Unternehmenskultur ist keine Einbahnstraße. Was von der Werksführung intendiert wird, muss von der Belegschaft akzeptiert werden. Dies verdeutlicht Nieberding in einem abschließenden Kapitel über die Reaktion von Angestellten und Arbeitern beider Unternehmen auf die Maßnahmen der Verwaltung. Deutlich stellt sich auch hier wieder das Quellenproblem, dem die Autorin auf gewissen Umwegen entgeht. Mangels geeigneter Zeugnisse zur direkten Reaktion der Arbeiterschaft, greift sie auf einige Arbeitererinnerungen, auf die Zahlen zur Fluktuation der Belegschaft und auf die Konflikt- und Streikformen im Unternehmen zurück. Am eindrucksvollsten liest sich hierbei das Kapitel über den „Durchlauf“ der Arbeiter in den Betrieben. Bei Bayer konnte der Wechsel an Arbeitskräften pro Jahr in einzelnen Abteilungen bis zu mehreren hundert Prozent betragen (S. 318). Diese Werte allerdings im Wesentlichen auf eine mangelnde Verbundenheit der Belegschaft zum Betrieb und damit eine mangelnde Bindungskraft der Kultur des Unternehmens zurück zu führen (S. 296), erscheint auch dann fraglich, wenn man berücksichtigt, dass ein großer Teil der Kündigungen nicht vom Unternehmen ausging, sondern direkt von den Arbeitern kam.

Hatte das Kaiserreich nun seine eigene Unternehmenskultur? Der Leser zögert auch nach einer eindrucksvollen Lektüre, diese Frage zu beantworten. Trotz aller heuristischen Vorzüge eines vergleichenden Ansatzes in der Unternehmensgeschichte, gelingt es Anne Nieberding kaum, ihre Thesen zu den beiden Unternehmen auf ein abstraktes Niveau zu bringen. Hierfür wären weitere stichprobenartige Bohrungen in anderen Unternehmen und Branchen notwendig, auch eine international vergleichende Perspektive wäre von Vorteil. Dass dies in einem solchen Rahmen kaum zu leisten ist, bedarf allerdings keiner Erwähnung. Vor diesem Hintergrund mag der Titel des Buches als ein wenig ungeschickt gewählt erscheinen. Doch sei unterstrichen, dass sich dieser Kritikpunkt auf den Titel beschränkt. Anne Nieberding hat ein wertvolles, faktenreiches und theoretisch gut durchdachtes Buch vorgelegt, dem es gelingt den Faktor Kultur glaubhaft in die ökonomisch-rationalen Strategieentscheidungen zweier Unternehmen einzubauen.

Eine abschließende Kritik sei erlaubt, die sich auf die editorische Arbeit des Verlages bezieht. Hat man sich an die originellen Formate der Fußnoten schon aus der Zeitschrift für Unternehmensgeschichte gewöhnt, wirken sie doch bei der Lektüre von beinahe 400 Seiten außerordentlich verwirrend und lassen den Leser leicht den Überblick über die Literaturhinweise verlieren. Auch ist es bedauerlich, einen spannend begonnen Satz („Rupieper stellte für die bei der MAN im Werk Nürnberg be-“ , S. 93) auf der nächsten Seite nicht zu Ende lesen zu können. Der Leser wird wohl bis zur zweiten Auflage warten müssen, um die Fortführung des Gedankens zu erfahren.

Anmerkungen
1 In der Betriebswirtschaftlehre existiert diese Diskussion schon seit einiger Zeit. Die deutschen Unternehmenshistoriker fangen erst in letzter Zeit an, sich hiermit auseinander zusetzen. Als eins der wenigen Beispiele mögen die Arbeiten von Hartmut Berghoff gelten, so z.B. Berghoff, Hartmut, Unternehmenskultur und Herrschaftstechnik. Industrieller Paternalismus: Hohner von 1857 bis 1918, in: GG 27, 1 (1997), S. 167-204.
2 Zu diesen Überlegungen auch weiterhin sehr überzeugend: Yates, Jo Ann, Control through Communication. The Rise of System in American Management, Baltimore 1989.

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